Annika Buchholz hat einen Traumjob: Sie ist Gründerin, baut etwas auf. Kein Hightech-Start-up und keine Internetschmiede, sondern ein Gymnasium. Mit eigenem Profil. Vom ersten Lehrer bis zum jüngsten Schüler darf sie alle zuerst kennenlernen und mit auswählen.
Seit 2008 unterrichtet die heute 35-Jährige Mathematik und Physik. Zuvor drückte sie fünf Jahre die Hochschulbank an der Uni Potsdam. Ihr Blick zurück fällt gemischt aus: „Das Studium hat mir die Grundlagen und die fachliche Sicherheit vermittelt. Aber wenn ich mir etwas wünschen dürfte, wäre es, dass die fachlichen und die didaktischen Inhalte noch enger verzahnt werden. Es wäre genial, wenn die Physiker auch etwas von Didaktik verstehen würden – schon um die Inhalte selbst bestmöglich zu vermitteln.“ Zudem könne man gar nicht früh genug Praxiserfahrung sammeln. „Einige der wichtigsten Dinge für die Schulpraxis habe ich erst im Referendariat gelernt. Das ist eindeutig zu spät. Die Studierenden sollten schon zu Beginn des Studiums vor Schülern stehen – das ist nun mal der Beruf und man sollte so früh wie möglich spüren, ob man ihm gewachsen ist.“
Das sieht die Lehrerbildung an ihrer Universität nicht anders. Seit Annika Buchholz die Hochschule verlassen hat, hat sich dort einiges verändert. Ein neues fakultätsübergreifendes Zentrum verbindet die Lehrerbildung nun direkt mit der Bildungsforschung. Und das Fachstudium mit der Didaktik. So hatte es sich Annika Buchholz gewünscht. Und es dürfte sie freuen, dass dieses Zentrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung von einem Physikdidaktiker geleitet wird: Professor Andreas Borowski. Er hat nicht nur selbst einige Jahre im Gymnasium unterrichtet, sondern sich auch intensiv mit dem Professionswissen von Lehrkräften beschäftigt. Mit Kollegen aus der Biologie- und Chemiedidaktik untersuchte er, welchen Einfluss die Art, wie Lehrer ihren Unterricht gestalten, auf die Motivation und den Lernzuwachs von Schülern hat – also darauf, ob und wie viel sie tatsächlich „mitnehmen“. Gute Lehrer, weiß der Didaktiker, erkennt man an guten Schülern. Die Frage sei aber, warum es manchen Lehrern besser Als anderen gelingt, ihren Schülern „auf die Sprünge“ zu helfen. Es genüge nicht, das Fach zu beherrschen, man müsse es auch vermitteln können.
Mehr Professionalisierung
Professionalisierung ist deshalb die erste Säule des Potsdamer Modells, mit dem sich die Universität an der bundesweiten „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ beteiligt. Über Fächergrenzen hinweg werden dafür praxisnahe Ausbildungskonzepte entwickelt. In gemeinsam geplanten Modulen sollen Studierende lernen, fachliche Inhalte didaktisch aufzubereiten. Ein interessantes Detail dabei ist, dass sie über eine eigens programmierte App ihre Lernerfolge sofort an die Dozenten zurückmelden können – sozusagen eine Programmevaluation in Echtzeit.
Was sie dabei lernen, nehmen sie mit in die Schulpraxis. Und die erleben Potsdamer Lehramtsstudierende nicht erst im Referendariat, sondern kontinuierlich über fünf Phasen, ab dem ersten Studienjahr. In ihrer Qualitätsoffensive will die PotsdamerLehrerbildung das Theoriewissen stärker in die fünf Schulpraktika integrieren. Ein Spiralcurriculum bietet hierfür erstmals einen einheitlichen Bezugsrahmen, in dem konkrete Kompetenzziele für die einzelnen Praxisstudien festgelegt werden. Im abschließenden Praxissemester müssen die Studierenden dann beweisen, dass sie theoretisches Wissen im Klassenzimmer umsetzen können.
Schulpraxis von Anfang an
Absolvent Toni Ansperger hat in den 14 Wochen des Praxissemesters in einem Potsdamer Gymnasium unterrichtet. Und seine Erfahrungen zeigen, wie wichtig es ist, Theorie und Praxis künftig noch enger zu verknüpfen. „In Chemie fand ich mich fachlich gut aufgestellt, in Politischer Bildung mit Abstrichen auch“, konstatiert er. Ganz anders sah es in den Bildungswissenschaften aus. „Weil ich nicht wirklich gelernt hatte, mit Unterrichtsstrategien umzugehen.“ Jetzt, nach dem Praktikum, würde er am liebsten noch einmal zwei Uni-Semester dranhängen, in Pädagogik und Didaktik.
Um Lehramtsstudierenden einen besseren Halt in der Praxis zu geben, knüpft die Universität in ihrer Qualitätsoffensive ein Netzwerk sogenannter Campusschulen. Einrichtungen, die sich an Neues heranwagen, in denen sich Studierende methodisch ausprobieren können. In einem aktuellen Projekt geht es zum Beispiel um motivierenden Unterricht. Es ist an ein schulpädagogisches Seminar von Juniorprofessorin Rebecca Lazarides gekoppelt, in dem sich die Studierenden anhand empirischer Befunde mit Fragen der praktischen Umsetzbarkeit von Unterrichtsmethoden auseinandersetzen. Siehospitieren, entwickeln mit den Lehrkräften vor Ort einzelne Unterrichtssequenzen, die sie anschließend testen und evaluieren. Die Ergebnisse werden aufbereitet und den Schulen zur Verfügung gestellt. Es ist ein Geben und Nehmen. Die Lehrkräfte unterstützen die Studierenden dabei, erste eigene Unterrichtsversuche durchzuführen und erhalten im Gegenzug neue Materialien und Methoden, die sie unmittelbar in den eigenen Unterricht integrieren können. Rebecca Lazarides verbindet auf diese Weise wissenschaftliches Studium und praktisches Lernen. Zugleich gewinnt sie aus der begleitenden Evaluation Erkenntnisse für ihre eigene Forschung.
Inklusiv unterrichten
Von solchen empirischen Untersuchungen im Schulalltag können die Lehramtsstudierenden der Universität Potsdam inzwischen direkt profitieren. Die neue Nähe zur Bildungsforschung bringt sie viel stärker als bisher dazu, eigene theoretische Fragen zu formulieren und sich an Studien zu beteiligen. Als die Universität den Auftrag erhielt, das brandenburgische Pilotprojekt „Inklusive Grundschule“ wissenschaftlich zu begleiten, wurden Masterstudierende in die Beobachtungen und Befragungen einbezogen. Sie schauten, wie sich der gemeinsame Unterricht von Kindern mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen auf das soziale Miteinander auswirkt. Sie fragten, wie die Mädchen und Jungen sich selbst in ihrer Klasse sehen, ob sie sich angenommen fühlen und wie sie das Klassenklima bewerten. Bei den Lehrkräften interessierte sie, was diese über inklusiven Unterricht denken. Wie gehen sie mit der Verschiedenheit der Kinder um? Können sie deren individuelle Lernbedürfnisse richtig einschätzen?
Die Diagnosefähigkeit der künftigen Lehrer zu entwickeln, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine gelingende Inklusion – die dritte große Säule der Qualitätsoffensive in der Potsdamer Lehrerbildung. Mit fünf inklusionspädagogischen Professuren allein für die Ausbildung im Lehramt Primarstufe ist die Universität in der herausragenden Lage, hier ein breites wissenschaftliches Fundament zu legen. Die zentrale Frage dabei ist, wie sich Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen differenziert und individualisiert unterrichten lassen. Berücksichtigt werden dabei nicht nur Lernschwierigkeiten oder Verhaltensprobleme, sondern auch Hochbegabungen, Genderaspekte oder die sprachlichen und kulturellen Besonderheiten von Migranten.
International studieren
Um Kindern von Zugewanderten zu helfen, Programm ins Leben gerufen, in dem sie geflüchtete Lehrkräfte qualifiziert und mit dem deutschen Schulsystem vertraut macht. Die ersten Absolventen arbeiten inzwischen als Assistenzlehrer in brandenburgischen Schulen, so wie Alaa Kassab, die an der Geltower Meusebach-Grundschule Englisch unterrichtet. Während ihrer Zeit an der Universität hat sie in schulpädagogischen Seminaren neben deutschen Kommilitonen gesessen und über Unterschiede in den Bildungssystemen diskutiert. Ein Stück Normalität in einer zunehmend international aufgestellten Lehrerbildung.
Dank der Qualitätsoffensive können Potsdamer Lehramtsstudierende jetzt auch verstärkt Auslandserfahrungen sammeln. Das Praxissemester bietet sich hierfür als Mobilitätsfenster an. Weltweit hat die Universität 14 Partnerschulen gewonnen. Maike Niehues und Aileen Sennholz haben die Chance genutzt und in einer Deutschen Auslandsschule in Pretoria unterrichtet. In ihren Fächern Englisch und Sport hat sie sich gut vorbereitet gefühlt, sagt die 24-jährigeMaike. Eine Herausforderung war es dennoch, weil teilweise englischsprachige Muttersprachler vor ihr saßen. „Etwa die Hälfte der Schüler sprach Deutsch, die andere Englisch oder eine der zehn anderen Amtssprachen in Südafrika.“ Der Unterricht hat trotzdem gut funktioniert. Ein Fazit, das ihre Kommilitonin Aileen teilt. Eigentlich sei alles glatt gelaufen. Außerdem habe man ständig Kontakt zur Uni in Potsdam gehabt. Sogar ein Begleitseminar habe online stattgefunden. Der Ausbau von E-Learning und Tele-Teaching macht dies möglich. Auch beteiligt sich die Uni am Collaborative Online International Learning (COIL) der State University of New York, ein Netzwerk, in dem Seminargruppen über Ländergrenzen hinweg am gleichen Thema arbeite können.
Lehren mit digitalen Medien
Von den Studierenden wird zu Recht erwartet, dass sie später im Berufsleben souverän mit digitalen Medien umgehen können. Das Spektrum reicht inzwischen vom Webvideo im Englischunterricht bis zum Smartphone im Physikexperiment. Klar ist, dass guter und an neuesten Erkenntnissen orientierter Unterricht mit didaktisch gut ausgebildeten Lehrkräften steht und fällt. Der Mathematikdidaktiker Professor Ulrich Kortenkamp ist davon überzeugt, dass die Grundlagen dafür im Studium gelegt werden müssen. Im Projekt „Digitales Lernen Grundschule“ arbeitet er intensiv mit der Potsdamer Rosa-Luxemburg- Grundschule zusammen, an der Lehrkräfte und Studierende erproben, wie das Lehren und Lernen im digitalen Zeitalter aussehen kann. Zudem thematisiert das Seminar „Medienbildung in Schule und Unterricht“ drängende Fragen der digitalen Gesellschaft und deren Auswirkungen auf das Lernen. Mit dabei sind zwölf Lehrer aus Brandenburg, die das Seminar als Fortbildung nutzen und wichtige Anregungen für die Medienintegration an ihren Schulen mitnehmen.
Diese enge Verbindung von Studium und Schule sei der richtige Weg, findet Schulgründerin Annika Buchholz. Und sie weiß, wovon sie spricht. Seit einigen Jahren betreut sie Lehramtsstudierende bei deren schulpraktischen Studien. „In der Hoffnung, einen Beitrag dazu zu leisten, dass sie positive Erfahrungen machen und ihren Weg weitergehen.“
Text: Antje Horn-Conrad, Matthias Zimmermann und Petra Görlich
Online gestellt: Marieke Bäumer
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