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Der Club der Mitdenkenden - Wissenschaftliches Netzwerk erforscht politische Auseinandersetzungen über neue Formen der Transnationalisierung

Dr. Christian Schmidt-Wellenburg. Foto: Karla Fritze.
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Dr. Christian Schmidt-Wellenburg. Foto: Karla Fritze.

Die Welt ist im Fluss: Geld wird digital, Menschen leben mobil, Wirtschaft funktioniert international. Folglich könne auch Politik nur noch global sein und entsprechend betrachtet werden, behaupten die einen. Politische Akteure und Strukturen gebe es – wenn überhaupt noch – vor allem auf nationaler Ebene, meinen die anderen. Weder noch, sagt Dr. Christian Schmidt-Wellenburg. Er hat ein Wissenschaftliches Netzwerk initiiert, in dem Politik- und Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der Frage nachgehen, wie politische Prozesse in sogenannten „transnationalen Feldern“ aussehen und welche Akteure sie vorantreiben.


„Wir sagen ganz bewusst transnational“, erklärt Christian Schmidt-Wellenburg, „weil wir nicht glauben, dass die Welt nur noch global funktioniert. Das meint, dass wir die Welt und was in ihr passiert, weder als eine große Schachtel noch als viele kleine Schachteln nebeneinander betrachten.“ Vielmehr gehe es um Prozesse, die an vielen Stellen gleichzeitig stattfinden und miteinander verknüpft sind. Das Entstehen einer europäischen Gesellschaft, Arbeitsmigration in alle Richtungen oder Ströme von Flüchtenden quer durch Kontinente etwa.
Und auch der verbreiteten Vorstellung, Politik verliere zunehmend an Bedeutung, treten die Forscher entgegen. Es gebe – sowohl im klassischen Feld der Politik als auch in anderen sozialen Feldern – sehr wohl interessierte Akteure, die politische Prozesse vorantreiben. Ihr Ziel: die Etablierung und Entwicklung transnationaler Ordnungen. Also solche, die über Nationalstaaten hinausgehen, aber dennoch nicht weltumspannend sind. Anschauliche Beispiele dafür bieten die politischen und gesellschaftlichen Eigenwelten Brüssels und anderer EU-Zentren, die aus den Vertragswerken der Europäischen Union hervorgehen. Um den Mechanismen auf die Spur zu kommen, die bei der Etablierung dieser Gebilde wirken, erforschen die 18 am gleichnamigen Netzwerk beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehr unterschiedliche Phänomene aus der Perspektive einer „politischen Soziologie transnationaler Felder“.

Transnationalität in Europa – von der Wirtschafts- bis zur Hochschulpolitik

Dazu zählt etwa die Art und Weise, wie innerhalb der Europäischen Union – angesichts einer Wirtschafts- und Finanzkrise – über gute Wirtschaftspolitik diskutiert wird. Lisa Suckert vom Max-Planck-Institut (MPI) für Gesellschaftsforschung in Köln nimmt dafür die sogenannten National-Reform-Programs (NRP) unter die Lupe. In diesen formulieren die EU-Länder Analysen und Ideen für ihre jeweilige Wirtschaftspolitik und wie diese mit den Zielen der Europäischen Union zusammenzubringen sind. „Durch die Analyse der NRPs lässt sich ziemlich genau beschreiben, wie Mitgliedsstaaten die Zukunft in ihrer Kommunikation mit der EU thematisieren“, erklärt Schmidt-Wellenburg. „Hier offenbart sich, dass sich die Vorstellungen davon, was gutes Wirtschaften ist, durch dieses Instrument verändern.“ Gerade im Zeichen der Krise von 2008 zeige sich daran, wie die Europäische Union um die Deutung einer unsicheren ökonomischen Zukunft ringt. Auf einer ganz neuen Bühne.
Aber auch die „Europäisierung des Hochschulraums“ bildet ein solches transnationales Phänomen – mit eigenen Akteuren, Logiken und Strukturen. Dr. Christian Baier und Vincent Gengnagel von der Universität Bamberg schauen sich exemplarisch die europäische Wissenschaftsförderung an. Konkret gehen sie der Frage nach, wie sich die Forschungslandschaft seit der Einrichtung des European Research Councils (ERC) im Jahr 2007 verändert hat. Forschung wird in Europa seitdem nicht mehr nur national finanziert. Schließlich steht dem ERC allein für die Zeit von 2014 bis 2020 ein Budget von 13 Milliarden Euro zur Verfügung. Indem sie analysieren, was für Forschungsprojekte in welchen Fachgebieten beantragt und schließlich gefördert werden, wollen die beiden Soziologen mehr über das Wesen eines transnationalen akademischen Feldes herausfinden. Lösen sich nationale Hierarchien auf? Gibt es stattdessen einen europäischen akademischen Kapitalismus – einen europaweiten Leistungsvergleich mit wenigen, global sichtbaren Gewinnern? Einen „Braindrain“ und eine europäische Wissenschaftselite?

Auch die neue Politik wird von Menschen gemacht

Fix- und Ausgangspunkt der Forscher sind dabei stets die Akteure: „Politikwissenschaftler sprechen schnell von Systemen und Organisationen, die dieses oder jenes tun“, so Schmidt-Wellenburg. „Uns interessieren die Menschen, die hinter der Politik stehen.“ Dafür bedienen sich die Beteiligten des Netzwerks der sogenannten Feldtheorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Mit dieser werde es möglich, nicht nur die Mechanismen zu bestimmen, nach denen verschiedene Bereiche von  Gesellschaften funktionieren. Sie erfasse auch die Akteure, die diese Regeln nicht nur befolgen, sondern grundsätzlich auch mitgestalten. „Wir sehen Menschen nicht als Adressaten von Transnationalisierung, sondern als deren Träger und Triebkäfte.“
So widmet sich Dr. Sebastian Büttner von der Universität Duisburg-Essen dem Phänomen des „EU-Professionalismus“. Gemeint sind jene Experten und Professionals, die direkt oder indirekt in die Strukturen der Europapolitik eingebunden sind und das Projekt der Europäisierung in besonderer Weise tragen und vorantreiben. „Sie haben ein ganz spezielles Wissen, orientieren sich nach Brüssel und versuchen auch, die dortige Politik zu beeinflussen“, sagt Schmidt-Wellenburg. „Dadurch entsteht in Brüssel eine ganz eigene Art der Staatlichkeit.“ 

Von Experten, die sich nicht verstehen

Zumeist seien diese neuen Formen von Politik und politischem Handeln nicht ohne Weiteres zu erkennen, betont der Soziologe. „Es sind stille Politiken, die oft nicht als solche ausgezeichnet werden.“ Umso wichtiger sei es, sie zu identifizieren und zu beschreiben. In seinem eigenen Projekt nimmt er beispielsweise Experten und Expertenkommissionen in den Blick, die im Zuge der Finanzkrise ins Leben gerufen wurden – auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Angefangen hat es für ihn mit einem offenen Brief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Jahr 2012. Nachdem sich Angela Merkel für eine stärkere Bankenregulierung ausgesprochen hatte, meldeten sich 274 „Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler der deutschsprachigen Länder“ zu Wort und kritisierten die deutsche Bundeskanzlerin scharf. Nur zwei Tage später widersprachen 221 andere Volkswirtinnen und Volkswirte diesem Urteil in einem eigenen offenen Brief – und lobten die Initiative der Kanzlerin. „Da dachte ich: Das ist doch der Wahnsinn! Das will untersucht werden,“ sagt Schmidt-Wellenburg lachend. „Sogar das Sample hat sich hier schon selbst zusammengestellt.“ Er erhob Daten zu sozialen Eigenschaften der Unterzeichner beider Briefe: Welches wissenschaftliche Prestige haben sich die Untersuchten erarbeitet – und auf welchem Weg? Welche Verbindungen haben sie zu Politik und Wissenschaft? Und welche Positionen nehmen sie in der deutschsprachigen Volkswirtschaft ein? Ergänzend sammelte er von möglichst vielen Beteiligten Aussagen und Veröffentlichungen zur Finanzkrise. „Codiert und statistisch ausgewertet ergibt sich ein vieldimensionales Bild“, so der Soziologe. Das wiederum lasse Rückschlüsse darauf zu, warum und wie die Ökonominnen und Ökonomen jeweils tendenziell ähnlich zu den Mitunterzeichnern „ihres“ Briefes waren – und unähnlich zu denen des Gegenbriefes. Eine kausale Erklärung ergebe sich so gleichwohl nicht, betont Schmidt-Wellenburg. „Ich kann aus den Daten strukturelle Zusammenhänge rekonstruieren, die zeigen, warum Leute so handeln, wie sie handeln. Vorhersagen sind das aber nicht. Ich muss trotzdem zu den Menschen hingehen, mit ihnen sprechen – und sie verstehen.“
In seinem Netzwerk-Projekt stellt er den deutschen Volkswirten nun französische gegenüber. Dort gab es einen öffentlichen Streit über die Reformierung des Arbeitsmarktes, den er genauer analysieren will. Anschließend vergleicht er die Streitkulturen miteinander – und den transnationalen Austausch in besagten Expertenkommissionen. „Mich interessiert, welche Probleme diese Kommissionen beschrieben und welche Lösungen sie erarbeitet haben – abhängig davon, wer in ihnen sitzt.“ Abermals kombiniert er dabei die statistische Auswertung individueller Arbeitswelten mit der Frage, welche Rolle diese Akteure im neuen Feld transnationaler Politik spielen. „Transnationalisierung von unten und von oben zu verbinden, das steckt in allen Projekten des Netzwerks“, betont der Forscher. Fernziel sei es, auf der Basis der Einzelprojekte grundlegende Mechanismen der Transnationalität zu beschreiben.
Was Schmidt-Wellenburg an der Arbeit im Netzwerk schätzt, ist die Nähe: „Wir haben verschiedenste Projekte, aber zum selben Thema: Transnationalität. Deshalb ist unser Netzwerk wie ein fortlaufendes Kolloquium. Und es tut gut, sich mit Leuten zu streiten, denen ich nicht erst erzählen muss, worum es geht.“ Bei den regelmäßigen Treffen tauschen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über Methoden aus, diskutieren halbfertige Artikel oder Forschungsergebnisse und vernetzen sich mit internationalen Gästen. „Wir sind füreinander Mitleser, Mitstreiter, Mitdenker. Ein Umfeld, das es außerhalb einer solchen Forschergruppe nicht gibt.“


Die Feldtheorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu geht davon aus, dass Individuen in einer Gesellschaft innerhalb verschiedener unabhängiger Felder agieren. Wirtschaft, Politik, Religion, Wissenschaft, Kunst usw. bilden dabei eigenständige Felder, in denen unterschiedliche Regeln gelten. Wer in einem Feld erfolgreich agieren will, muss diesen Regeln folgen. Gleichzeitig sind die Strukturen eines Feldes wandelbar und deshalb umkämpft. In seiner Feldtheorie beschrieb Bourdieu Gemeinsamkeiten, die in allen Feldern auftreten und die als Grundlage für deren Analyse gelten.

DAS PROJEKT

Das Wissenschaftliche Netzwerk „Politische Soziologie transnationaler Felder“ verbindet 18 Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die in ihren Einzelprojekten transnationale Vergesellschaftungsprozesse und damit einhergehende neue Formen des Regierens der Menschen aus der Perspektive einer Politischen Soziologie erforschen.
Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Laufzeit: 2016–2019
https://www.uni-potsdam.de/de/allg-soziologie/dfg-wissenschaftlichesnetzwerk.html

DER WISSENSCHAFTLER

Dr. Christian Schmidt-Wellenburg studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Volkswirtschaft an der Philipps-Universität Marburg, der University of Manchester und der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach Stationen an der HU Berlin und der Otto-Friedrichs-Universität Bamberg ist er seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Allgemeine Soziologie der Universität Potsdam.
cschmidtwuni-potsdamde

 

Text: Matthias Zimmermann
Online gestellt: Alina Grünky
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde