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„Der kleinste gemeinsame Nenner ist nicht genug“ – Auf dem Weg in eine nachhaltige Gesellschaft

Prof. Dr. Patrizia Nanz. Foto: Stephan Meyer-Bergfeld
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Prof. Dr. Patrizia Nanz. Foto: Stephan Meyer-Bergfeld

Digitalisierung, Energiewende oder geopolitische Krisen – die Welt, in der wir leben, ändert sich grundlegend. Patrizia Nanz, wissenschaftliche Direktorin am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) und Professorin für transformative Nachhaltigkeitswissenschaft an der Universität Potsdam, untersucht, wie dieser Wandel gestaltet werden kann. Das Ziel ist eine nachhaltige Gesellschaft – auf biologischer, wirtschaftlicher und politischer Ebene.

Es geht nur gemeinsam. Davon ist die Politikwissenschaftlerin Patrizia Nanz überzeugt. Damit die Menschen in Zukunft nachhaltig leben, wirtschaften und konsumieren, ist das gebündelte Wissen unterschiedlichster Akteure notwendig. Denn die Herausforderungen sind enorm. Lösungen für zahlreiche Konflikte und Probleme müssen gefunden und entwickelt, heiße Eisen angepackt werden. Etwa beim Bau von Stromtrassen, die unentbehrlich sind, um regenerative Energien effektiv zu nutzen, aber andererseits das Missfallen der betroffenen Bürger erregen. Oder beim Kohleausstieg, der Arbeitsplätze kostet.

Wissenschaft bringt keine Lösungen, wohl aber Erkenntnisse

Der Weg zur Nachhaltigkeit beginnt mit vielen Fragen. Es geht um die großen Themen. Darum, wie wir in 10, 20 oder 50 Jahren leben wollen. Und welche Wirtschafts- und Lebensmodelle tragfähig sind. Auf der Suche nach den Antworten ist auch und gerade die Wissenschaft gefragt. Wie sich diese organisieren muss, um nicht nur exzellent, sondern auch relevant zu sein, ist eine der elementaren Forschungsfragen, denen sich Patrizia Nanz widmet. „Wissenschaft an sich bringt zunächst erst mal keine Lösungen, wohl aber Erkenntnisse hervor“, erklärt die 51-Jährige. Dieses Wissen müsse genutzt werden, um Lösungen zu erarbeiten. Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Wirtschaft und Bürger sitzen dabei im selben Boot.Eine große Chance sieht die Nachhaltigkeitsforscherin in der auf Vorschlag der Bundesregierung neu geschaffenen Wissenschaftsplattform zu den sogenannten nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals, SDG), die sie selbst leiten wird. Die Plattform ist Teil der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, zu deren Zielen etwa gehört, Treibhausgase zu reduzieren, den Anteil erneuerbarer Energien am Energieverbrauch zu erhöhen und mehr Güter über die Schiene zu befördern. Wissenschaft und Politik wollen sich künftig stärker austauschen und gemeinsam ausloten, was möglich ist.Und dies ist auch nötig. „Die Probleme sind komplex geworden“, erklärt Patrizia Nanz. Dennoch gehe es immer darum, Antworten auf ganz konkrete Fragen zu finden. Zunächst müssten aber die „neuralgischen Punkte“ identifiziert werden. Also jene Stellen im System, die die größte Hebelwirkung haben und die unbedingt verändert werden müssen, um das Ziel der Nachhaltigkeit erreichen zu können. Dieser Aufgabe stellen sich das IASS, die Forschungsinitiative Future Earth, das Lösungsnetzwerk für nachhaltige Entwicklung (SDSN), ein breiter Lenkungsausschuss mit Wissenschaftlern und auch unterschiedliche politische Ressorts wie mehrere Bundesministerien und das Bundeskanzleramt gemeinsam.

Die Kompetenz der Bürger ist gefragt

Sind die essenziellen Fragen identifiziert, geht der Ball an die Forschung: „Wir geben Studien in Auftrag, vernetzen die Wissenschaft, fassen die Ergebnisse zusammen und führen sie der Politik zu“, so Patrizia Nanz. Forschung und Politikberatung gehen fließend ineinander über, betont sie. „Die Politik sitzt mit der Wissenschaft im Lenkungskreis.“ Anschließend tauschen sich Forschung, Politik und Verwaltung erneut aus. Am Ende sollen die wissenschaftlichen Erkenntnisse in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden. Eine Herausforderung für alle Beteiligten. Die Lösungen müssen im Zentrum stehen – nicht einzelne Interessen, die schließlich in Kompromissen enden. „Denn“, so Nanz, „mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner kommen wir nicht zur Nachhaltigkeit.“Auf lokaler und kommunaler Ebene funktioniert diese Art der Lösungsfindung bereits, etwa bei Infrastrukturprojekten. Ein Stromtrassenprojekt in Ostbayern führt Nanz als Beispiel an. „Ein sehr konfliktreiches Projekt“, betont sie. Letztlich sei das Vorhaben, an dem sie beratend beteiligt war, erfolgreich verlaufen, weil auch die Bürger vor Ort aktiv an einer Lösung arbeiteten – gemeinsam mit Juristen, Bürgermeistern und den beauftragten Unternehmen. Wie dies gelungen sei? „Man muss mit den Leuten reden. Meine Mitarbeiter haben teilweise über Monate hinweg direkt in den Dörfern gelebt.“ Dies sei aufwendig und zeitraubend, gibt sie zu. Aber letztlich unentbehrlich, um die besten Ergebnisse zu erhalten. Als „Ko-Kreation“ bezeichnet die Wissenschaftlerin dieses Konzept. Und es funktioniert nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen, ist sie überzeugt.Lässt man diesen Prozess zu, kann es überraschende Ergebnisse geben. Die Stromtrassen in Ostbayern nahmen schließlich einen unerwarteten Verlauf. „Diesen hatten die Umweltplaner überhaupt nicht vorgesehen. Er war aber sehr viel weniger umweltschädlich“, erklärt Nanz. „Denn die Bürger verfügen über ein lokales Wissen, das sonst niemand hat.“ Wichtig sei jedoch, die Beteiligung nach dem Zufallsprinzip zu ermöglichen, um das gesamte Spektrum der Sichtweisen und Erfahrungen abzudecken. „Sonst kommen immer die gleichen, die Zeit haben, gut gebildet sind, meistens männlich und über 65.“

Mit „Business as usual“ geht es nicht weiter

Als wissenschaftliche Direktorin des IASS wird sich Patrizia Nanz in den kommenden vier Jahren jenen Zukunftsfragen widmen, die sie als Politikwissenschaftlerin als besonders drängend empfindet: „Wie können wir zukünftige Generationen einbeziehen und repräsentieren? Wie können die notwendigen langfristigen Investitionen auf ökonomischer Seite jenseits von Legislaturperioden realisiert werden? Welche Beteiligungsformen brauchen wir? Wie werden die Ziele des Pariser Klimaabkommens umgesetzt?“ Mit einem interdisziplinären Team aus Psychologen, Ökonomen, Politikwissenschaftlern und Philosophen untersucht sie, welche Fähigkeiten gebraucht werden, damit eine Gesellschaft überhaupt zukunftsfähig ist.Dass es dazu den Mut zu Visionen erfordert, ist für die Mutter von zwei kleinen Kindern, die sich auch privat gern Herausforderungen stellt und den Urlaub häufig kletternd in den Bergen verbringt, unstrittig. Etwa bei der Frage der Mobilität. „Ein Umstieg auf Elektromobilität bedeutet lediglich die Nutzung einer anderen Energieform. Das wird nicht ausreichen“, macht sie deutlich. Wie könnte ein komplett neues Konzept für den Transport von Menschen und Gütern aussehen? Und welche Wirtschaftsmodelle sind zukunftsweisend? Um Fragen dieser Dimension dreht sich die Nachhaltigkeitsforschung. Gerade am IASS sieht Patrizia Nanz den geeigneten Raum für neue Denkweisen und Gestaltungsmöglichkeiten. Auch weil Wissenschaftler der unterschiedlichsten Fachgebiete zusammenarbeiten. „Es gibt die gemeinsame Klammer der Nachhaltigkeit“, betont Nanz. Dennoch müssen Klima- und Politikwissenschaftler eine gemeinsame Sprache finden. Eine Herausforderung, die nicht immer leicht ist. „Sozialforscher haben die Aufgabe, die Welt zu beschreiben. Das ist zu wenig. Klimaforscher wissen, dass es kurz vor Zwölf ist.“Das Problem, das Patrizia Nanz als eines der größten unserer Zeit ansieht, ist die Spaltung der Gesellschaft. „Jeder spricht nur mit seinesgleichen und hat gar keine Ahnung, was in den Köpfen und Herzen der anderen vorgeht.“ Dass die Rechtsanwältin von den Sorgen des Altenpflegers oder die Alleinerziehende von den Ängsten des Managers weiß, kommt im realen Leben selten vor. Doch gerade das ist nötig, um die Spaltung zu überwinden. Damit es gelingen kann, entwickelte die Forscherin die Idee der sogenannten Zukunftsräte. „Ein Zukunftsrat ist ein Gremium von 12 bis 15 Bürgern, die den Querschnitt der Gesellschaft abbilden und über einen längeren Zeitraum an selbstgewählten Themen arbeiten“, erklärt Nanz. Und zwar Themen, die die kommenden Generationen betreffen und für die heute die notwendigen Weichen gestellt werden müssen. Etwa die Endlagerfrage oder der demografische Wandel. Die Mitglieder des Zukunftsrats, die zufällig ausgewählt werden, sollten aus ihrer persönlichen Sicht gemeinsam Lösungen erarbeiten. Politik und Verwaltung, Kommunen und Landesregierungen interessieren sich bereits für das Konzept. „Das zeigt, dass sie nach einem neuen Betriebssystem suchen“, sagt Nanz.

Nachhaltigkeit darf nicht in den Hintergrund rutschen

Die anstehenden Aufgaben sind enorm. Das gesellschaftliche Klima ist dabei momentan wenig förderlich, weiß die Wissenschaftlerin: „Wir leben in schwierigen Zeiten.“ Es fehle an einer intakten politischen Gemeinschaft, die die Basis der Demokratie bilde. Populisten füllen die entstehende Lücke mit scheinbar einfachen Antworten und gewinnen die Gunst der Massen. „Ich glaube, dass der Fokus auf den Neoliberalismus seit dem Jahr 2000 und der Trend, in der Politik wirtschaftliche Fragen über alle anderen zu stellen, heute dazu führt, dass die Menschen zunehmend Identitätsfragen stellen“, sagt Nanz. Die Wissenschaftlerin sieht die Gefahr, dass wichtige Zukunftsthemen dabei untergehen und die Nachhaltigkeit in den Hintergrund rutscht. „Dem müssen wir uns stellen.“

Kürzlich erschien von Patrizia Nanz und Claus Leggewie im Verlag Klaus Wagenbach Berlin die Publikation „Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung“, in der die Wissenschaftler die Idee der Zukunftsräte vorstellen.

Die Wissenschaftlerin

Prof. Dr. Patrizia Nanz studierte Philosophie an der Hochschule für Philosophie München sowie Geschichte und Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians- Universität München. Sie ist Gründerin des European Institute for Public Participation (EIPP) und ist seit April 2016 wissenschaftliche Direktorin des IASS.
Institute for Advanced Sustainability
Studies Potsdam e.V.
Berliner Str. 130, 14467 Potsdam
E-Mail: patrizia.nanziass-potsdamde

Das IASS

Das Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) wurde am 2. Februar 2009 auf Initiative des ehemaligen Bundesumweltministers Klaus Töpfer in Potsdam gegründet. Das Institut fördert Wissenschaft und Forschung zur globalen Nachhaltigkeit, bildet wissenschaftlichen Nachwuchs aus und setzt sich für den Informationsaustausch und den Dialog zwischen Forschung, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur ein. Das Ziel ist eine gerechtere und friedliche Welt, in der das Verständnis und die Lenkung des Erdsystems sowie sozialer und wirtschaftlicher Systeme eine nachhaltige Entwicklung für alle ermöglichen und in der Gesellschaften den Herausforderungen des Anthropozäns nachhaltig begegnen.
Das pearls – Potsdam Research Network vernetzt die Universität Potsdam und 21 außeruniversitäre Forschungseinrichtungen am Wissenschaftsstandort Potsdam/Berlin. Schwerpunkte der Vernetzung sind Verbundforschungsprojekte, die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses sowie das gemeinsame Forschungsmarketing für den Standort Potsdam.
www.pearlsofscience.de

Perlen der Wissenschaft

In der Reihe „Perlen der Wissenschaft“ stellen wir regelmäßig Forscherpersönlichkeiten vor, die in einer der mit der Universität Potsdam vernetzten Forschungseinrichtungen des „pearls – Potsdam Research Network“ tätig sind.

Text: Heike Kampe
Online gestellt: Marieke Bäumer
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde