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Von der Bernauer Straße zur Glienicker Brücke – Eine geschichtswissenschaftliche Erkundung entlang des Mauerradwegs

Nur wenige Jahrzehnte nach dem glücklichen Fall der Berliner Mauer im November 1989 gewinnen Stacheldraht und Abgrenzung in Europa wieder an ungeahnter Aktualität. Grund genug für den Historiker René Schlott vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam in einer Übung am Historischen Institut der Universität Potsdam gemeinsam mit Studierenden den Kontroversen um die Geschichte der Berliner Mauer und dem nicht immer unumstrittenen Gedenken an ihre Opfer nachzugehen. Heute ist die Mauer Teil einer Berlin-Potsdamer Erinnerungslandschaft, die die SeminarteilnehmerInnen auf einer gemeinsamen Fahrradexkursion im Juni 2016 erkundeten, von der einer der Studierenden, Viktor-Emanuel zu Sachsen, berichtet.

Der erste Eindruck war ein akustischer. Bei der Anreise zum Treffpunkt an der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße in Berlin waren die Glockenschläge aus dem Glockenturm der Kapelle der Versöhnung für den sonntäglichen Gottesdienst um 10 Uhr schon aus weiter Ferne zu vernehmen. Angekommen an der Gedenkstätte, dominierten diese in meinen Ohren um die Mauertoten nahezu klagenden Klänge meinen ersten Eindruck des Geländes, das in der Realität noch weitaus größer war, als ich es mir vorgestellt hatte.
Zunächst besuchten wir die Ausstellung im Dokumentationszentrum. Die dafür eingeplante Stunde verging wie im Flug, da das im Seminar zuvor durch Literaturlektüre und Vorträge erworbene theoretische Wissen hier an unzählbaren, teils kurios-absurden, teils aber auch traurig und nachdenklich machenden praktischen Beispielen – vorwiegend in Form von menschlichen Schicksalen und Erfahrungen – für mich faszinierend erlebbar wurde. Die Ausstellung überzeugte durch eine ausgewogene und spannende Verwendung von Exponaten, Bildern, Videos und Tonspuren sowie guten Texten, sodass man gut eine mentale Reise in die Vergangenheit unternehmen konnte. Zudem war die Präsentation thematisch sehr breit aufgestellt und nahm nicht nur die im Mittelpunkt stehende Berliner Mauer aus vielen Perspektiven in den Blick, sondern auch die DDR als Ganzes..
Mit diesem wertvollen und interessanten Wissen im Gepäck ging es hinüber auf die andere Straßenseite, auf das Außengelände der Gedenkstätte, und mitten hinein in den ehemaligen Todesstreifen, der auf mich immer noch eine bedrückende und abschreckende Wirkung entfaltete, wohl wissend, dass er zwar weitestgehend im Originalzustand erhalten wurde, jedoch auch viele Fluchtabwehrinstallationen wie zum Beispiel die Dornenmatten nicht mehr zu sehen sind. Es erscheint uns angesichts dessen heute unglaublich, wie viele Fluchten letztendlich doch gelingen konnten.
Schnell stellte sich heraus, dass es wohl kaum einen geeigneteren Ort für eine Gedenkstätte hätte geben können als die Bernauer Straße, da hier die Absurdität und auch die Menschenverachtung der Mauer einen Gipfelpunkt erreichten. Wie in einem Brennglas können hier das System Berliner Mauer und seine Konsequenzen besichtigt werden. Ost und West lagen an diesem Ort sehr nah beieinander, was nicht nur zu vielen Fluchten und Fluchtversuchen führte, sondern auch die Zerschneidung von historisch gewachsenen sozialen Strukturen zur Folge hatte. So wurden Tote in Gräbern des nahe gelegenen Friedhofes, der plötzlich auf der Grenze lag, umgebettet und eine jahrelang exakt in der Mitte des Todesstreifens stehende Kirche noch im Jahr 1985 gesprengt. Diese war im Übrigen in Pervertierung ihrer eigentlichen Funktion von Grenzern noch als Wachturm ge- bzw. missbraucht worden. Für mich ist dies eines der vielen Symbole der Selbstentfremdung des Menschen durch die Mauer.
Gleichfalls absurd erschien mir jedoch auch die Masse an Menschen aus aller Welt, die heutzutage den Todesstreifen flutet; mehr noch aber das Verhalten mancher Besucher, die inmitten vieler Zeichen des Gedenkens an Opfer der Grausamkeit sich keine Betroffenheit anmerken ließen, sondern eher Freude darüber zu empfinden schienen, nun endlich ein Selfie vom Todesstreifen in die sozialen Netzwerke hochladen zu können, oder aber direkt neben der Hinweistafel auf ein wahrscheinlich nicht umgebettetes Massengrab aus dem Zweiten Weltkrieg Yoga-Übungen abhielten. Natürlich ist es schön, dass auf diese Art wieder Leben in dieses ehemalige Areal des Todes einzieht. Gleichwohl bevorzuge ich an einem Gedenkort wie diesem eine würdevollere Symbolik – wie etwa das Anpflanzen von Roggen neben der im Jahr 2000 auf dem Fundament der zerstörten Kirche errichteten Kapelle der Versöhnung als Zeichen der Wiederkehr des Lebens an diesem Ort.
Mit diesem positiven Zeichen verabschiedeten wir uns von der Gedenkstätte und radelten dem Mauerradweg folgend durch den Mauerpark in Richtung Bornholmer Straße. Unterwegs wurde zum einen deutlich, wie grotesk der Verlauf der Berliner an manchen Stellen war, zum anderen, wie stark er bis heute das städtebauliche Bild von Berlin prägt. Immer wieder machten Gedenkstelen für Todesopfer an der Berliner Mauer, die doch erschreckend oft am Wegesrand auftauchten, auf tragische Schicksale aufmerksam. Umso schöner war dann der im Boden am ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße installierte Countdown mit allen wichtigen Geschehnissen im Tagesverlauf des 9. November 1989, die schließlich in der Nacht zum Mauerfall führten.
Von der Bornholmer Straße ging es für uns mit der S-Bahn nach Lichterfelde, wo wir die Route des Mauerweges wieder aufnahmen und dieser bis zur Glienicker Brücke in Potsdam folgten. Die nach wie vor vielen Gedenkstelen am Wegesrand machten mich nachdenklich; dazu passend zogen an diesem ansonsten sonnigen Sommertag nun auch Wolken auf. Erschreckend war es zu sehen, dass relativ viele Opfer durch unglückliche Missverständnisse ums Leben kamen: mitunter nur, weil die Situation an der Mauer eine enorme Anspannung bei allen Beteiligten erzeugte. Für Gefühle und Menschlichkeit war hier kein Platz. Umso schöner war es zu sehen, wie die Schicksale durch die Stelen gewürdigt werden und wie viele Vorbeiziehende an den Stationen absteigen und sich informieren. Die Orte Steinstücken und Klein Glienicke boten als West-Exklave bzw. fast Ost-Enklave nochmals außergewöhnliche Geschichten: wie ein Kinderspielplatz in Steinstücken, der noch heute auch in Form der Spielgeräte an einen Hubschrauberlandeplatz der US-Army erinnert, oder die Überreste der schmalsten Stelle der DDR in Klein Glienicke. Auch am Außenring kann städtebaulich meist gut anhand des Straßenbelages oder der Straßenlaternen noch ausgemacht werden, wo früher DDR und wo West-Berlin war.

Das Ende unserer Radtour hätte mit dem Ziel Glienicker Brücke kaum symbolträchtiger und schöner sein können. Ende gut, alles gut, war mein Gedanke, als ich unter der nun wieder hervorkommenden Abendsonne auf die Mitte der Brücke trat und auf die malerische Natur- und Kulturlandschaft blickte, die im Laufe von Jahrhunderten als Gesamtensemble entstanden war. Die Absurdität und unnatürliche Teilung hatte ihr Ende gefunden, die Natur unterscheidet nicht, alles gehört zusammen und bildet ein Ensemble. Oder, um es in Anlehnung an Willy Brandt zu sagen: Es ist zusammengewachsen, was zusammengehört. Ein schönes Gefühl.

Text: Dr. René Schlott (Einleitung)/Viktor-Emanuel zu Sachsen (Exkursionsbericht)
Foto: Dr. René Schlott
Online gestellt: Matthias Zimmermann
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde