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Eine für alles

Potsdamer Wirtschaftsinformatiker konstruieren eine Modell-Fabrik

Foto: Karla Fritze
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Foto: Karla Fritze

Ein Förderband, vier tunnelartige Boxen mit Touch-Displays und Bildschirmen, ein Roboterarm, etliche Sensoren, Scanner, Antennen, Kabel – und eine kleine Metallkiste, an der ebenfalls rundherum Displays angebracht sind. Das ist LUPO: kein Kleinwagen aus Wolfsburg, sondern der Prototyp einer Anlage zur „Leistungsfähigkeitsbeurteilung unabhängiger Produktionsobjekte“. Im Klartext eine Fabrik – eine Schokoladenfabrik, eine Fabrik für künstliche Gelenke, eine Autoreifenfabrik – was auch immer man sich vorstellen mag. Ein Team um den Wirtschaftsinformatiker Prof. Dr. Norbert Gronau hat in einem vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie geförderten Projekt einen sogenannten Demonstrator konstruiert, der beliebig viele Produktionsabläufe simulieren kann.

„LUPO ist ein Blick in die Fabrik der Zukunft“, sagt Gronau. „Diese wird überaus wandelbar und in großem Maße von technischen Neuerungen, vor allem in der IT, geprägt sein. Deshalb befassen wir uns als Wirtschaftsinformatiker mit der Frage: Welche neue Technologie eignet sich wann für wen zur Anwendung in der Fabrik? Was würde sich in der Praxis rechnen, was nicht?“ 

Um dieser Frage mit Blick auf möglichst viele technologische Innovationen und zugleich praxisnah nachgehen zu können, hat das Team die Vorteile einer rechnerbasierten Simulation mit denen einer Modellfabrik kombiniert. Das bedeutet, dass all jene Teile der Fertigung, die bereits bekannt und analysiert sind, modellhaft vereinfacht und dann mithilfe von Computerprogrammen simuliert werden. „Dafür haben wir diese beiden Würfel – unseren Werkstück- und unseren Maschinenwürfel – entworfen“, erklärt Gronau und weist auf zwei Metallkisten. Während das „Werkstück“ tatsächlich ein loser, etwa schuhkartongroßer Behälter ist, bildet die virtuelle Maschine einen Tunnel, in den das Werkstück über ein Förderband einfahren kann. An beiden sind ringsum Displays angebracht, auf denen im Laufe der simulierten Produktion zu sehen ist, was sie „sind“ bzw. welche Arbeitsgänge gerade geschehen. Denn: „Die zwei können mit unterschiedlichsten Programmen geladen werden, sodass sie sich wie individuelle Werkstücke und Maschinen verhalten.“ Auf der Oberseite befindet sich jeweils ein Display, über das die Wissenschaftler in den Prozess eingreifen und Parameter verändern können. Dank der Rollenbahn, über die der Werkstückwürfel von einem Maschinenwürfel zum nächsten gelangt, sowie verschiedener Abkürzungen, Verzweigungen und Schleifen sind auch große Fabriken mit vielen verschiedenen Maschinen und Werkstücken kein Problem, erläutert Gronau. Sie funktioniere nach „dem Prinzip maximaler Flexibilität. Eine Anlage wie diese gibt es in Deutschland nicht noch einmal“, sagt er, nicht ohne Stolz. Da alle Würfel ständig neu programmiert werden können, lässt sich mit LUPO theoretisch jede beliebige Fabrikreihe nachbauen.

Warum aber haben die Wissenschaftler nicht die ganze Fabrik im Computer simuliert? „Weil das entscheidend Neue, über das wir bislang wenig wissen und viel herausfinden wollen, die Interaktion ist – zwischen Maschinen, vor allem aber zwischen Maschine und Werkstück“, erklärt Gronau. „Bestehende Modelle dieser Kommunikation werden ihrer Komplexität nicht gerecht“, so der Wirtschaftsinformatiker. „Sie berücksichtigen häufig die neuen Technologien nicht, die ja gerade erst entwickelt werden und deren Einsatz wir in praktischen Abläufen testen wollen.“ Für diesen Praxistest haben die LUPO-Macher die einzelnen Maschinenwürfel durch eine Rollenbahn verbunden, die es ihnen erlaubt, verschiedene technische Neuerungen gleichzeitig in einen bestehenden Produktionsablauf zu integrieren. Durch den Einsatz von Scannern oder Bewegungssensoren können die Maschinen befähigt werden, selbstständiger zu agieren. Weniger Pausen oder gar Unterbrechungen im Fertigungsprozess wären die Folgen. Doch das Sahnehäubchen einer autonomen Produktion, erklärt der Wissenschaftler, bildet das intelligente Werkstück, das in der Lage ist, in gewisser Weise selbst mit der Maschine zu produzieren. „Einfache Kommunikationstechnologien wie der Barcodescanner sind natürlich schon lange im Einsatz“, sagt Gronau, „aber dass die Maschine mit dem Werkstück interagiert, das gibt es bislang nicht.“ Möglich macht dies etwa die sogenannte RFID-Technologie, die radiofrequency identification. Dabei lesen Sensoren – in diesem Fall der Maschinen – die Informationen von Chips aus, die sich an den Werkstücken befinden. Sind auf den Chips Vorgaben hinterlegt, wie das Werkstück weiterverarbeitet werden soll, „weiß“ die Maschine, was zu tun ist, ohne dass ein Mensch den Arbeitsschritt starten muss. Die daraus abgeleitete Zauberformel der Fabrik von morgen beschreibt Gronau als: „Weniger Fremd- und mehr Selbstorganisation.“ Er erkennt darin indes weniger den Königsweg zur vollautomatischen Fertigungsanlage als vielmehr, dass dadurch Maschinen in die Lage versetzt werden sollen, auftretende Störungen selbst zu lösen.

Tatsächlich stecken hinter den bislang erarbeiteten Simulationen Fertigungsstrecken von verschiedenen Industriepartnern, die zu Beginn des Projekts gewonnen wurden. Zu ihnen zählt auch die OHST Medizintechnik AG in Rathenow, die Prothesen herstellt. Grundlage des Aufbaus und der Programmierung der Modellfabriken bildete daher die Begehung der bestehenden Anlagen. Erst wenn die Produktionsabläufe so detailgenau wie möglich aufgenommen und in Computermodelle überführt sind, können reale Ergänzungen – in Form neuer Technologien – hinzugefügt und ihre Wirkung getestet werden. „Die Grundidee der Anwendung von LUPO ist folgende“, sagt Gronau. „Wenn ein Werksleiter am Montag zu uns kommt und wissen will, ob sich eine Technologie für seine Fabrik lohnt, dann bauen wir sie nach und können ihm am Freitag darauf eine Antwort geben.“ 

Dass sich mithilfe einer solchen Modellfabrik überaus praxisnah testen lässt, ob diese teuren Technologien halten, was sie versprechen, und in einer bestimmten Produktion tatsächlich einsetzbar sind, spricht sich mittlerweile herum. Wesentlichen Anteil daran hat nicht zuletzt die Anschaulichkeit der Modellfabrik, wie Gronau betont: „Wir wollen zeigen, wie wandlungsfähig Fabriken und ihre Abläufe sind – die Leute aus den Firmen wollen das immer gar nicht glauben, aber wenn sie dann einmal hier sind, und wir ihnen vorführen, was alles geht, machen sie große Augen.“ Aus ursprünglich zwei industriellen Projektpartnern sind längst 15 geworden, und auch für das Forschungsprojekt sind bereits Folgeanträge in Arbeit.

Doch Norbert Gronau ist vor allem eines: Wissenschaftler, und sein Antrieb die wissenschaftliche Forschung. Am Anfang des Projekts stand einst sein Wunsch, „das theoretische Prinzip der Wandelbarkeit erprobbar zu machen“, erklärt er. „Und das System der Fabrik eignet sich sehr gut, um das Konzept auszuprobieren.“ Von diesem innovativen Geist, der LUPO inspiriert hat, profitieren übrigens auch die Studierenden der Universität Potsdam. In einer seit 2010 durchgeführten LUPO-Lehrwoche „arbeiten“ jährlich insgesamt rund 500 Bachelor-Studierende der BWL und Wirtschaftsinformatik in der LUPO-Fabrik. Und zwar mit Begeisterung, wie Gronau sagt. „Die Studierenden werden hier in kleinen Gruppen durchgeführt und mit den Grundzügen der Produktionsabläufe vertraut gemacht. Für viele ist das absolutes Neuland. Ich frage jedes Mal, wer schon mal in einer Fabrik war. Es melden sich nie mehr als drei – von 500! Umso begeisterter sind sie, wenn sie mit LUPO gearbeitet haben.“

DIE ZUKUNFT VON LUPO

Als Hauptbestandteil der Verwertung und Weiterführung des LUPO Projektes wurde im September 2013 das Anwendungszentrum Industrie 4.0 gegründet. Unternehmen haben dort die Möglichkeit, die Simulationsumgebung für die Untersuchung ihrer Prozesse zu nutzen, eigene Komponenten zu testen oder Mitarbeiter zu schulen. Zudem wird ein Netzwerk aus Industrie (Anwender, Hersteller von Maschinen und Sensoren, Softwarehersteller) und Wissenschaft aufgebaut, in dem ein reger Austausch zu den aktuellen Entwicklungen im Bereich Industrie 4.0 geführt wird. Bei Industrie 4.0 verschmelzen reale und virtuelle Welt. Maschinen entscheiden autonom, Geräte kommunizieren selbstständig untereinander, Anlagen und Werkzeuge können innerhalb kürzester Zeit an wechselnde Produktoder Produktionswünsche angepasst werden. Das Ziel ist die intelligente Fabrik (Smart Factory). Unter dem Begriff Industrie 4.0 stehen zahlreiche Technologien und Konzepte zur Verfügung. Beispiele sind die erweiterte Kommunikation mit OPC-UA, AutoID-Lösungen, smarte Sensoren und das dezentrale Produktionsmanagement mittels Cyber Physical Systems.

www.industrie40-live.de

DER WISSENSCHAFTLER

Prof. Dr.-Ing. Norbert Gronau studierte Maschinenbau und Betriebswirtschaftslehre an der Technischen Universität Berlin. Seit April 2004 ist er Lehrstuhlinhaber an der Universität Potsdam. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Betriebliches Wissensmanagement und Wandlungsfähige ERP-Systeme.

Kontakt

Universität Potsdam
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät
August-Bebel-Str. 89, 14482 Potsdam
norbert.gronauwi.uni-potsdamde

DAS PROJEKT

LUPO (Leistungsfähigkeitsbeurteilung unabhängiger Produktionsobjekte) 
Leitung: Prof. Dr.-Ing. Norbert Gronau Finanzierung: Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) 
Laufzeit: 2010–2013 

www.lupo-projekt.de

Text: Matthias Zimmermann, Online gestellt: Julia Schwaibold