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Gutachtenstil

A. Einführung

Beschäftigen wir uns mit juristischen Themen, benötigen wir „juristisches Handwerkszeug“. Dabei ist in der juristischen Ausbildung dem Gutachtenstil besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Regelmäßig ist in Klausuren zu prüfen, ob Rechtsverhältnisse bestehen bzw. bestimmte Rechtsfolgen eingetreten sind. Der Klausursachverhalt muss darauf untersucht werden, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des Gesetzes vorliegen, an die eine bestimmte Rechtsfolge geknüpft ist. 

Das Gutachten dient als lückenlos hergeleitete Antwort auf die vom Prüfer gestellte Frage. Es ermöglicht eine in sich stringente und gesetzesbezogene Fallbearbeitung.

Es gibt aber auch andere Formen, in welchen Jurist*innen das Ergbenis ihrer Überlegungen ausdrücken. Im Gegensatz zum Gutachtenstil steht insbesondere der Urteilsstil. Da er in der Schule und im Studium grundsätzlich zu vermeiden ist, etwas genauer zu den Unterschieden und Ausnahmen unter C.

 

B. Schritte zur Anfertigung eines Gutachtens

I. Sachverhalt und Aufgabenstellung

Zu Beginn der Klausurbearbeitung ist der Sachverhalt und die Aufgabenstellung aufmerksam und mehrfach zu lesen. Daraus ergibt sich der Prüfungsumfang des Gutachtens.

 

II. Gesetzeslektüre

Nach dem Lesen des Sachverhalts und der Aufgabenstellung sollten die in Betracht kommenden Problemstellungen festgehalten und die ggf. zu prüfenden Normen nochmals gelesen werden. Aus den Normen  ergeben sich die Tatbestandsvoraussetzungen sowie die Rechtsfolgen. Das Gesetz lässt sich in Rechtssätze zerlegen, die einer logischen Struktur folgen. Jeder Rechtssatz ordnet einem Tatbestand eine Rechtsfolge zu (Wenn-dann-Kondition).
Beispiel§ 138 Abs. 1 BGB: Wenn ein Rechtsgeschäft „gegen die guten Sitten verstößt“ (Tatbestand), ist es „nichtig“(Rechtsfolge).

 

III. Gutachtenstil

Als Gutachtenstil wird die methodische und stilistische Art der Untersuchung eines Rechtsproblems bezeichnet. So wird eine juristische, logische Schlussfolgerung ausformuliert.
Es wird ein Obersatzes bzw. eine Hypothese aufgestellt. Die Voraussetzungen, die in dem Obersatz genannt werden müssen abstrakt definiert werden. Im nächsten Schritt folgt die sog. Subsumtion (Untersatz): Hier wird untersucht, ob der konkrete Sachverhalt unter die abstrakte Definition fällt. Schließlich wird das Ergebnis formuliert und so die eingangs aufgestellte Hypothese bestätigt oder wiederlegt.
Das Gutachten folgt also grundsätzlich vier Schritten: Obersatz, Definition, Subsumtion, Ergebnis.


Beispielsfall: A und B geraten in Streit. Im Verlauf eines hitzigen Wortgefechts (a) spuckt A dem B ins Gesicht. B ekelt sich.
(b) tritt A dem B vor das Schienenbein. B erleidet Schmerzen und trägt einen Bluterguss davon.


Strafbarkeit des A gem. § 223 I StGB?

 

1. Obersatz

Zum Einstieg der Prüfung ist im Obersatz eine Hypothese aufzustellen, die überprüft werden soll. Sprachlich ist der Obersatz im Konjunktiv zu formulieren.


Beispielsfall: (a) A könnte sich gem. § 223 I StGB strafbar gemacht haben, indem er B angespuckt hat.  (b) A könnte sich gem. § 223 I StGB strafbar gemacht haben, indem er B vor das Schienenbein getreten hat.

 

2. Definition

Unter die Definition fallen die abstrakten Tatbestandsvoraussetzungen, die geprüft werden müssen. Dabei handelt es sich um eine/mehrere genaue Begriffsbestimmung/en, durch die Auseinanderlegung und Erklärung seines/ihrer Inhalts/e.
Der Tatbestand des § 223 I StGB beinhaltet zwei wesentliche Voraussetzungen: „körperliche Misshandlung“ und „Gesundheitsschädigung“. Es muss also ermittelt werden, was „körperliche Misshandlung“ und „Gesundheitsschädigung“ im juristischen Sinne meint. Die Definitionen werden also durch Auslegung („Interpretation“) hergeleitet.
Hinweis für die Klausur: Die gängigen Definitionen sollten auswendig gelernt werden!

Beispielsfall: Körperliche Misshandlung ist jede üble unangemessene Behandlung, die die körperliche Unversehrtheit oder das körperliche Wohlbefinden mehr als nur unerheblich beeinträchtigen. Eine Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen eines – auch nur vorübergehenden – pathologischen (krankhaften) Zustands.

 

3. Subsumtion

Bei der Subsumtion gilt es aufzuzeigen, dass der Sachverhalt ein Fall des Tatbestands der Norm ist. Die Subsumtion ist das Kernstück der Fallbearbeitung. An dieser Stelle müssen sich JuristInnen entscheiden und ihre Entscheidung begründen. Häufig gibt es dabei nicht nur eine „richtige Lösung“; vielmehr kann mit guten Gründen auch in entgegengesetze Richtungen argumentiert werden.

Beispielsfall: (a) Zwar ekelt sich B, nachdem A ihn angespuckt hat. Einen krankhaften Zustand hat A allerdings nicht hervorgerufen. Das Anspucken einer anderen Person ist eine unangemessene Behandlung. A empfindet in der Folge Ekel, was sein Wohlbefinden wenigstens vorübergehend beeinträchtigt. Allerdings ist das bloße Ekel-Empfinden des B nicht als erhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens anzusehen.
[Anmerkung: Gerichte haben anders entschieden, wenn das Anspucken einen Brechreiz ausgelöst hat.]
(b) Der Tritt verursacht dem B Schmerzen. Der Bluterguss beeinträchtigt ihn in seiner körperlichen Unversehrtheit und ist auch als ein krankhafter (vom Normalzustand negativ abweichende) Zustand anzusehen.

 

4. Ergebnis

Ergebnisse in einem Gutachten sollten die Formulierungen der Obersätze wiederspiegeln, also wie dieser Sachverhaltsmerkmal und Tatbestandsvoraussetzung benennen. Die Antwort leitet sich aus allen vorangegangenen Subsumtionen ab.

Beispielsfall: (a) Es liegt weder eine körperliche Misshandlung noch eine Gesundheitsschädigung vor. A hat sich nicht gem. § 223 I StGB strafbar gemacht.
(b) Es liegen sowohl eine körperliche Misshandlung als auch eine Gesundheitsschädigung vor. A hat sich gem. § 223 I StGB wegen Körperletzung strafbar gemacht.

 

C. Feststellungs- und Urteilsstil

Wenn direkt das Ergebnis festgestellt wird, ohne dass dieses zuvor durch eine ausführliche Prüfung in der oben beschriebenen Reihenfolge hergeleitet wird, spricht man vom Feststellungs- oder Urteilsstil.

Während in einem Gutachten die Begründung vorangestellt wird und das Ergebnis am Ende steht, ist ein Urteil umgekehrt aufgebaut. Im Urteilsstil wird also das Ergebnis vorangestellt und erst im Folgenden begründet. Sprachlich findet dieser Aufbau Ausdruck in Konjunktionen wie „da“ oder „weil“. In einem Gutachten sollte diese Form der Begründung sehr sparsam eingesetzt oder besser grundsätzlich vermieden werden.

Die oben beschriebene 4-Schritt-Prüfung ist im Gutachten aber ausnahmsweise nicht erforderlich, wenn der Sachverhalt eine Information vorgibt oder eine solche offensichtlich vorliegt. Ein strenger Gutachtenstil muss also nicht durchgehend eingehalten werden. Mit einem Satz zur Feststellung an passender Stelle zeigen Sie, dass Sie Schwerpunkte setzen können. Ein Nebeneffekt ist die Zeitersparnis, die in Klausuren von Nutzen ist.

Zum Beispielsfall: Dass B ein Mensch ist, gehört zwar ebenfalls zu den Tatbestandsvoraussetzungen des § 223 I StGB. Hier würde aber der feststellende Satz genügen: B ist ein Mensch.