Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 8. Juni 2010

Inhalt

Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 | Teil 4 | Teil 5 | Teil 6

 
 

Mitgliedstaaten des Europarates

3. Folge

Niederlande und Tschechische Republik

Inhaltsübersicht

Niederlande

I. Geschichte und Weg in den Europarat

1. Geschichte und Grundlagen der Verfassung
2. Inhalt der geltenden Verfassung 
3. Der Weg in den Europarat
4. Staatsform und Regierung
5. Aktuelle Entwicklungen

II. Die Bilanz der Niederlande vor den Straßburger Instanzen

1.Übersicht
2.Auswahl wichtiger Entscheidungen

Inhaltsübersicht

Tschechische Republik

I. Geschichte und Weg in den Europarat

1. Geschichte und Grundlagen der Verfassung - Entwicklung bis zum 19. Jahrhundert
2. Die Zeit der 1. Republik (1918-1938)
3. Protektorat und Schutzstaat (1939 - 1945)
4. Nachkriegszeit und Volksdemokratie (1945 - 1989)
5. Die demokratisch föderalistische Staatsneubildung (ab 1989)

 

Niederlande

II.

I. Geschichte und Weg in den Europarat 

 
2.

1. Geschichte und Grundlagen der Verfassung

 

Nach der langwierigen und hartumkämpften Befreiung von Spanien bildete sich 1581 die Republik der Vereinigten Niederlande. Während die Südlichen Niederlande (das heutige Belgien) von Alexander Farnese erneut unterworfen wurden (Spanische Niederlande), behaupteten die Nördlichen Niederlande ihre Unabhängigkeit, die 1648 im Westfälischen Frieden formell anerkannt wurde. Die Nördlichen Niederlande waren mit ihrem Besitz in Afrika und Amerika zeitweise die führende See- und Handelsmacht Europas und konnten sich in drei Kriegen gegen Ludwig XIV. (1672-78; 1688-97; 1701-13) erfolgreich verteidigen.

Im 17. Jh. waren sie mit Descartes, Spinoza und Grotius Mittelpunkt politisch-freiheitlichen Denkens: Hugo Grotius (1583-1645) trieb den Prozeß der Säkularisierung des Naturrechts und den Weg zum Vernunftsrecht voran. In seinem Werk "De iure belli ec pacis" (1623) entwickelte Grotius Grundzüge eines bis in unsere Zeit hineinreichenden Völkerrechts. Ausgehend vom Vernunftrecht und den Lehren des Grotius entwickelten sich der Rationalismus und die Naturwissenschaften mit ihrer Methode. Einfluß hatten Descartes («Discours de la méthode», 1637) und Spinoza ("Ethica more geometrica demonstrata"). Für die Naturrechtler ergaben die "Naturgesetze" der sozialen Welt ein geschlossenes System der Gesellschaft; die Gesetze dieses Systems hoffte man mit derselben Gewißheit zu erkennen, wie es bei der Mathematik und den Naturwissenschaften der Fall war. Diese methodische Unabhängigkeit von dem bisher geltenden Recht ermöglichte eine kritische Überprüfung und freiere Handhabung des Rechtsstoffes.

1795 wurden die Nördlichen Niederlande von französischen Revolutionstruppen erobert und als "Batavische Republik" nach französischem Vorbild neu organisiert. Unter Napoleons Bruder Louis Bonaparte wurden sie 1810 von Frankreich annektiert. Die Südlichen Niederlande fielen nach der Rückeroberung durch Spanien wirtschaftlich zurück, und es kam zu Hungersnöten und Auswanderungen. Frankreich erstrebte zunächst die Neutralisierung und später die völlige Einverleibung des südlichen Teils. Gegenüber dem Vordringen des Französischen wurde die Kirche in Flandern zum Rückhalt für die flämische Sprache. 1794 wurden die Südlichen Niederlande Frankreich angegliedert.

Durch den Wiener Kongreß (1815) wurden beide Niederlande zu einem Königreich unter dem Haus Oranien-Nassau vereinigt. Als Folge der sogenannten Septemberrevolution (1830) beschloß die Londoner Konferenz der Großmächte 1831 die völlige Trennung Hollands und Belgiens.

Im 19. Jh. war das Königreich der Niederlande ein europäischer Kleinstaat, der sich durch reichen Kolonialbesitz, Tradition und Kultur weltpolitische Geltung verschaffte. Unter Wilhelm II. gelangten mit der Verfassungsreform von 1848 die Liberalen zur politischen Vorherrschaft. Die liberale Verfassung hat mit der Einschränkung der Befugnisse des Königs und der Verankerung der parlamentarischen Verantwortung der Regierung den Weg zur Parlamentarisierung des politischen Systems eröffnet, so daß die Niederlande heute als parlamentarische Monarchie organisiert sind.

3.

2. Inhalt der geltenden Verfassung 

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Ausgangspunkt für die heute geltende Verfassung (Grondwet) in den Niederlanden ist die Verfassung von 1814, mit der die Erbmonarchie eingeführt wurde.

Seit Mitte der 60er Jahre wurde eine grundlegende Revision der Verfassung gefordert: Einführung eines modifizierten Mehrheitswahlrechts, die Direktwahl des Ministerpräsidenten durch das Parlament sowie bessere direkte Partizipationsmöglichkeiten der Bürger. Diese z.T. sehr weitgehenden Änderungsvorschläge ließen sich aufgrund der bestehenden Mehrheitsverhältnisse im Parlament jedoch nicht realisieren. Die am 17. Februar 1983 in Kraft getretene neue Verfassung zeichnet sich somit zwar nicht durch substantielle Änderungen aus, dafür aber durch eine moderne Sprache und klare Strukturierung. Im Ergebnis ist auch die Tendenz festzustellen, das Prinzip der Volkssouveränität stärker zu betonen – an Stelle des für die konstitutionelle Monarchie wichtigen Verhältnisses des souveränen Monarchen zu seinen Untertanen.

Im ersten Hauptteil der Verfassung sind in einem umfassenden Grundrechtskatalog die klassischen Grund- und Freiheitsrechte zusammengefaßt; darüber hinaus legt die Verfassung auch soziale Grundrechte fest, z.B. gerechte Verteilung von Wohlstand und Vermögen, Schaffung und Sicherung der Arbeitsplätze, System der sozialen Sicherheit. Diese Verfassungsartikel werden als "Aufgaben des Staates" definiert und sind keine individuell einklagbaren Grundrechte. Neben einigen Änderungen im Wahlrecht ist die Stellung der Exekutivorgane von Provinzen und Gemeinden gegenüber der zentralstaatlichen Ebene gestärkt worden. Insgesamt ist das Recht durch französische Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit beeinflußt.

Höchstes Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist der Hohe Rat ("Hoge Raad") in Den Haag. Im Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland kennen die Niederlande keine Verfassungsgerichtsbarkeit, der die Aufgabe obliegt, Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit den der Verfassung zugrundeliegenden Normen zu überprüfen und durch eine entsprechende Rechtsprechung und verbindliche Verfassungsinterpretation das Verfassungsrecht weiter zu entwickeln. Auch internationale Verträge, die von der Regierung abgeschlossen werden, unterliegen nicht der Überprüfung auf ihre Verfassungsmäßigkeit durch irgendein Gericht. Nur in einem begrenzten Rahmen werden diese Aufgaben vom Staatsrat (siehe unten unter 4.) wahrgenommen.

 
4.

3. Der Weg in den Europarat

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Im 1. Weltkrieg konnten die Niederlande ihre Neutralität wahren, und auch später vertrat die liberale Regierung außenpolitisch den Grundsatz strenger Neutralität.

Trotz gemeinsamer Friedensappelle von Königin Wilhelmina und König Leopold III. griff das nationalsozialistische Deutschland die Niederlande (10. Mai 1940) und Belgien ohne Kriegserklärung an. Nach dem deutschen Angriff auf Rotterdam kapitulierten die Niederlande am 14. Mai 1940; die königliche Familie und die Regierung flohen nach London. Dort übernahm P. S. Gerbrandy die Führung der Exilregierung. Die deutsche Besatzungsmacht löste in den Niederlanden die Parteien auf und nahm die Judenverfolgung und den Zwangsarbeitseinsatz von Niederländern auf. Erst 1944-45 eroberten alliierte Truppen das Land zurück. Nach der Abdankung der Königin Juliana (1948-80) folgte ihr ihre Tochter Beatrix auf den Thron.

Außenpolitisch verzichteten die Niederlande nach dem 2. Weltkrieg auf ihre Neutralitätspolitik (1948 Beitritt zum Brüsseler Pakt, 1989 zur WEU, 1991 zur OSZE und 1999 zur NATO) und suchten die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Belgien und Luxemburg (Benelux-Union: zunächst als Zollunion (1948), seit 1. Januar 1960 als Wirtschaftsunion). Als Gründungsmitglied sind sie seit 1949 im Europarat. Sie ratifizierten die EMRK 1954. Die Niederlande gehören ebenfalls zu den Gründungsmitgliedern der drei Europäischen Gemeinschaften.

 
5.

4. Staatsform und Regierung

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Das Königreich der Niederlande ist ein dezentral verwalteter Einheitsstaat, der in 12 Provinzen gegliedert ist. An der Spitze der Provinzverwaltung steht ein von der Königin ernannter Kommissar, der auch der gewählten Provinzvertretung (sog. Provinzialstaaten) vorsitzt. Im wesentlichen obliegen den Provinzen nur Verwaltungs- und Durchführungsfunktionen; ihnen sind keine autonomen Gesetzgebungsbefugnisse zugewiesen. Weiterhin sind die Provinzen in Gemeinden unterteilt, in denen der Gemeinderat direkt gewählt und der Bürgermeister ebenfalls von der Königin ernannt wird.

Obwohl eine entsprechende Staatsgrundnorm in der Verfassung fehlt, ergibt sich aus der Zusammenschau einzelner Verfassungsartikel, daß die Niederlande ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat sind. In den Art. 24 und 25 der Verfassung ist die parlamentarische Monarchie mit gleichberechtigter männlicher und weiblicher Erbfolge geregelt. Die Niederlande stellen das seltene Beispiel eines Landes dar, das nach Jahrhunderten der Republik zur Staatsform der Monarchie zurückkehrte und dessen Bevölkerung sich hiermit voll identifiziert. Die Stellung der Monarchin ist heute im wesentlichen auf repräsentative, nicht gestaltende Aufgaben eines Staatsoberhauptes reduziert.

Die Regierung besteht aus der Königin und den Ministern, die den Ministerrat bilden. Die Königin ernennt und entläßt die Minister. Seit 1989 amtiert eine Regierung der Großen Koalition. Das Parlament ("Generalstaaten") besteht aus zwei jeweils für vier Jahre gewählten Kammern. Während die 150 Abgeordneten der 2. Kammer nach dem Verhältniswahlprinzip direkt gewählt werden, werden die 75 Abgeordneten der 1. Kammer (Senatoren) durch die Provinzialstaaten gewählt. Gesetze bedürfen der Annahme durch beide Kammern und der Bestätigung durch die Königin. Das primäre Gesetzesinitiativrecht steht der Regierung zu, obwohl auch parlamentarische Gesetzesinitiativen, allerdings nur solche der zweiten Kammer, möglich sind. Plebiszitäre Formen der Volksbeteiligung kennt die Verfassung nicht. Ein von der Königin ernannter Staatsrat berät die Regierung und das Parlament gutachtlich über Gesetzesvorlagen und völkerrechtliche Verträge.

6.

5. Aktuelle Entwicklungen

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Die niederländische Gesellschaft war jahrzehntelang in weltanschaulichen Strömungen ("Säulen") organisiert, die sich gegeneinander abschotteten. Erst die Erneuerungsbewegung der protestantischen Kirche und der allgemeine Säkularisierungsprozeß führten dazu, daß das System der "Versäulung" allmählich an Konturen verlor und zu Offenheit und Toleranz führte. Heutzutage besteht ein hohes Maß an gesellschaftlicher Ausgewogenheit und Konsensbereitschaft; dies hat beachtliche Entwicklungen ermöglicht:

Beispielsweise ist in keinem anderen europäischen Land Sterbehilfe so offen und tabufrei möglich wie in den Niederlanden. Eine Euthanasieregelung besteht seit 1994. Zwar bleibt aktive Sterbehilfe strafbar, wenn sich der Arzt jedoch an bestimmte Richtlinien hält, kann von der Strafverfolgung abgesehen werden. Diese Offenheit, mit der die aktive Sterbehilfe sowie die Drogenproblematik, Prostitution und Abtreibung behandelt wird, ist Teil des niederländischen Nationalcharakters. Sie gehen davon aus, daß man nichts verbieten könne, was dann heimlich und damit unkontrollierbar geschehe. Deshalb sollen Drogen zwar verboten, aber der Konsum weicher Drogen toleriert werden. Der Verkauf von Haschisch bis zu 30 Gramm ist in Coffee-Shops erlaubt. Ein Schwangerschaftsabbruch kann straffrei unter bestimmten Bedingungen bis zur 22. Woche vorgenommen werden.


III.

II. Die Bilanz der Niederlande vor den Straßburger Instanzen

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1. Übersicht

Die Niederlande als Gründungsmitglied des Europarates haben die EMRK im Jahre 1954 ratifiziert. Seither hatte der EGMR über rund hundert Fälle gegen die Niederlande zu entscheiden: Es ergingen zweiundfünfzig Urteile; in achtundzwanzig Fällen stellte der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention fest. Dabei lag der Schwerpunkt bei einer Verletzung der Art. 5 und 6.

2. Auswahl wichtiger Entscheidungen

Im Fall Winterwerp war es um eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik durch den Bürgermeister ohne vorherige gerichtliche Anhörung und medizinische Aufklärung gegangen.1 Dabei hatte der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 Abs. 1 und Abs. 4) sowie auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1) gerügt. Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, daß Art. 6 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 4 verletzt seien. Die den Kläger betreffenden Maßnahmen seien entweder nicht von einem Gericht ausgegangen oder hätten nicht den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 genügt. Der Kläger habe auch während der Prüfung seiner Entlassungsanträge keinen Zugang zu einem Gericht gehabt. Obwohl psychische Erkrankungen in manchen Fällen gewisse Einschränkungen des Rechts auf ein Verfahren rechtfertigen mögen, kann ein generelles Fehlen dieses in Art. 6 Abs. 1 niedergelegten Rechts nicht hingenommen werden.

Im Fall X&Y war es um eine mögliche Verletzung von Art. 8 gegangen.2 Hier war die minderjährige Tochter (Y) in einem Heim für Behinderte vergewaltigt worden. Da es sich nicht um einen Offizialdelikt handelte und die Staatsanwaltschaft davon ausging, daß Y nicht in der Lage sei, Klage zu erheben, wurde keine strafrechtliche Verfolgung aufgenommen. Hiergegen legte der Vater (X) gemeinsam mit der Tochter Beschwerde zu den Straßburger Instanzen ein und rügte eine Verletzung von Art. 8 (Achtung des Privatlebens). Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, daß in den Niederlanden hinsichtlich der Strafbarkeit von Vergewaltigungen Behinderter eine Gesetzeslücke bestand. Eine Verletzung von Art. 8 wurde aufgrund der Art der vorliegenden Straftat bejaht. Die Feststellung der Konventionsverletzung wurde durch die Verurteilung einer Entschädigungsleistung von 3.000 Gulden gemäß Art. 41 EMRK (ehem. Art. 50) ergänzt.

Gegenstand des Falles Benthem bildete ein gewerberechtliches Genehmigungsverfahren.3 Hier hatte der Betreiber einer Autowerkstatt für die zusätzliche Installation eines Sicherheitstankes eine Lizenz vorzuweisen und lag darüber mit der zuständigen Behörde im Streit. Der Gerichtshof nahm mehrheitlich eine Verletzung von Art. 6 an. Bei der Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf die von ihm beantragte Lizenz habe, handele es sich um einen Streit um einen zivilrechtlichen Anspruch im Sinne des Art. 6 Abs. 1. Das in solchen Fällen übliche Verfahren entspreche nicht den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1, da es der Krone zumindest theoretisch erlaube, von den Empfehlungen der zuständigen Abteilung abzuweichen. Die sechs Richter, die die Entscheidung nicht mittrugen, wiesen darauf hin, daß Art. 6 nicht anwendbar sei, weil es sich bei der Vergabe der umstrittenen Lizenz um einen Akt der Verwaltung gehandelt habe und zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen des Klägers lediglich indirekt betroffen seien.

Ausländer- und aufenthaltsrechtliche Fragen waren Gegenstand des Falles Berrehab.4 Hier war der Beschwerdeführer, ein marokkanischer Staatsangehöriger, mit einer niederländischen Staatsangehörigen verheirat gewesen. Nach der Scheidung wurde dem Beschwerdeführer die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung verweigert. Er flog daraufhin mit seiner geschiedenen Frau und der gemeinsamen Tochter zurück nach Marokko, wo ihm die niederländische Botschaft kein Visum mehr erteilte. Erst nach mehreren Versuchen wurde ihm ein Visum erteilt, das nur für einen Monat gültig war, damit er in den Niederlanden seine Rechte geltend machen und versuchen könne, eine längere Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Kurz bevor eine weitere einmonatige Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis abgelaufen war, heirateten der Beschwerdeführer und seine geschiedene Frau erneut. Das Gericht bejahte eine Verletzung von Art. 8, da die Ausweisung dem Beschwerdeführer die Gelegenheit zum regelmäßigen Kontakt mit seiner Tochter genommen habe. Die vom niederländischen Staat angeführten Gründe - öffentliches Interesse bezüglich Einwanderungskontrolle und die Regulierung des Arbeitsmarktes - stünden in keinem Verhältnis zu den dazu angewandten Mitteln. Demgegenüber wurde die Rüge des Beschwerdeführers, das Verhalten der niederländischen Behörden stelle eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar, abgelehnt.

In zwei weiteren Fällen ging es um Fragen aus dem Bereich von Art. 6. Ein jugoslawischer Staatsangehöriger, der wegen schwerer Verbrechen zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war, rügte eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren.5 Der Gerichtshof entschied, daß in der Berücksichtigung von zwei anonym bleibenden Zeugen, bei deren Vernehmung weder der Angeklagte noch sein Anwalt, in einem Fall noch nicht einmal der Leiter der Untersuchung (examing magistrate / rechter commissaris) anwesend waren, eine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 1 zu erblicken sei.

Anders gelagert war der Fall Van de Hurk.6 Der Beschwerdeführer hatte die Zahl seiner Milchkühe erhöhen wollen und dazu bereits einige bauliche Veränderungen an seinen Ställen vorgenommen. Als 1984 feste Quoten für die Abgabe von Milch festgelegt wurden, wies man ihm nur eine solche Menge zu, wie der bisherigen Produktion entsprach. Der Antragsteller bemühte sich daraufhin um eine Erhöhung seiner Milchquote, welche ihm verwehrt wurde. Im Rahmen dieses Streits wurde auch eine Vorschrift berührt, die es dem zuständigen Minister im Namen der Krone erlaubte, von Entscheidungen des zuständigen Gremiums (Industrial Appeals Tribunal / College van Beroep voor het Bedrijfsleven) abzuweichen. Obwohl die Krone von dieser Vorschrift noch nie Gebrauch gemacht hatte und die Erfolgsaussichten des Klägers auch unabhängig von ihr reichlich unsicher waren, hielten 6 von 9 Richtern diese Vorschrift für einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1. Ein von dem Kläger ebenfalls geltend gemachter Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens lehnte der Gerichtshof einstimmig ab.

Norman Weiß / Carola Grund / Judith Schmid

 

Tschechische Republik

IV.

I. Geschichte und Weg in den Europarat 

 
7.

1. Geschichte und Grundlagen der Verfassung - Entwicklung bis zum 19. Jahrhundert

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Das heutige Tschechien liegt in einem alten europäischen Kulturraum. Nach kleineren Vorformen entstand im 9. Jhd. n. Chr. das Großmährische Reich als erster westslawischer Staat. Unter Vaclav I. wurde im ersten Drittel des 10. Jhd. n.Chr. erstmals ein tschechischer Staat errichtet.

Das Land erlebte im späten Mittelalter, angestoßen durch reiche Silbererzfunde, einen bedeutenden wirtschaftlichen Aufschwung. Dieser führte zur Gründung von mehr als fünfzig Städten, in denen sich zahlreiche Kaufleute und Handwerker, insbesondere aus Deutschland, niederließen. Mit der Erhebung Prags zum Erzbistum erhielt das Land einen selbständigen kirchlichen Mittelpunkt. 1348 wurde ebenfalls in Prag die erste Universität nördlich der Alpen gegründet. Als Gegenströmung zur katholischen Dominanz entwickelte sich zu Beginn des 15. Jhd. eine nationale und sozial orientierte Bewegung unter der Führung von Jan Hus. 1419, im Jahr des 1. Prager Fenstersturzes, entstand die nach ihm benannte Hussitenbewegung, die jedoch niedergeschlagen wurde.

Im Jahr 1526 wurde der österreichische Erzherzog Ferdinand I. zum König von Ungarn und Böhmen gewählt. Dies führte zur einer Konsolidierung und zum Ausbau der Habsburger Macht in diesem Gebiet und hatte zur Folge, daß Adel und Städte ihre wirtschaftlichen und politischen Privilegien einbüßten. Deshalb kam es in der Folgezeit häufig zu Aufständen. Am folgenreichsten erwies sich der Aufstand der böhmischen Stände, der mit dem 2. Prager Fenstersturz im Jahr 1618 den Dreißigjährigen Krieg auslöste.

In der Schlacht am Weißen Berg unterlagen die böhmischen Stände im Jahre 1620 jedoch den Habsburger Truppen. Böhmen verlor seine Unabhängigkeit. Die unmittelbare Eingliederung in den östereichischen Herrschaftsverband ließ das Land jedoch auch wirtschaftlich profitieren: Insbesondere die Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern durch Joseph II im 18. Jahrhundert begünstigte die wirtschaftliche Entwicklung. Das Manufakturwesen nahm starken Aufschwung.

Allerdings kam es im Habsburger Vielvölkerstaat auch auf dem Gebiet der heutigen tschechischen Republik zu einem erstarkenden Nationalbewußtsein, das vom tschechischen Bürgertum getragen wurde. Dieses forderte vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jhd. eine stärkere Beteiligung an der politischen Macht und zielte langfristig auf einen eigenen tschechischen Staat ab.

 

8.

2. Die Zeit der 1. Republik (1918-1938)

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Nach dem Ende des 1. Weltkrieges und dem Zerfall der östereichisch-ungarischen Doppelmonarchie wurde in Prag am 28. Oktober 1918 ein selbständiger tschechoslowakischer Staat ausgerufen. Tomás G. Masaryk wurde zum ersten Präsidenten der Republik gewählt. Die Friedensverträge von Versailles, Saint Germain und Trianon gaben dem neuen Staat seine endgültige Gestalt und dienten zu seiner völkerrechtlichen Legitimation.

Die neue Republik erstreckte sich auf die Gebiete Böhmens, Mährens, der Slowakei, Schlesiens und auf Karpaten-Rußland. In diesem Staat lebte vor allem Tschechen, Slowaken, Sudetendeutsche und Ungarn.

Die Verfassung folgte republikanischen und parlamentarisch-demokratischen Prinzipien nach französichem Vorbild. Sie trat am 29. Februar 1920 in Kraft. Durch ihre zentralistische Ausrichtung, die von der tschechisch dominierten Regierung noch befördert wurde, sahen sich die nationalen Minderheiten benachteiligt. Hier war - gleichsam als Erbe der Habsburgerzeit - weiterer Sprengstoff für die Zukunft angelegt.

Außenpolitisch war die Tschechoslowakei in das französiche Paktsystem und in die sog. Kleine Entente integriert.

Die neu gegründete Republik erlebte einen wirtschaftlichen Aufschwung, der allerdings durch die im Gefolge der Weltwirtschaftskrise 1929 eingetretene hohe Arbeitslosigkeit jäh beendet wurde. Im weiteren geschichtlichen Verlauf kam es zu einer Radikalisierung der Politik, insbesondere auf seiten der nationalen Minderheiten. Masaryk trat schließlich im Jahre 1935 zurück.

Während der Sudetenkrise im April / September 1938 forderte Hitler die Einverleibung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich. Die Vermittlungsbemühungen Frankreichs und Großbritanniens scheiterten. Mit dem Münchener Abkommen vom 29. September 1938 gingen die Westmächte auf die deutschen Forderungen ein und die Tschechoslowakei mußte die sudentendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich abtreten.

9.

3. Protektorat und Schutzstaat (1939 - 1945)

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Restgebiete der Tschechoslowakei wurden allerdings kurz darauf (15. März 1939) entgegen der im Münchner Abkommen abgegebenen Garantie für ihren Bestand und ihre Sicherheit von deutschen Truppen besetzt. Als "Protektorat Böhmen und Mähren" wurde es direkt dem Deutschen Reich angegliedert; Hitler errichtete einen sog. Schutzstaat Slowakei unter deutschem Einfluß. Bis in das Jahr 1945 hinein wurde dort vor allem die jüdische Bevölkerung, aber auch Teile der slawischen Bevölkerung und politische Gegner aller Nationalitäten verfolgt. Ein slowakischer Nationalaufstand begann am 29. August 1944 und konnte von deutschen Truppen erst im Oktober 1944 niedergeschlagen werden.

Edvard Beneš errichtete in London eine Exilregierung, die die Alliierten im Jahr 1940 anerkannten. Deren beharrlichen Wirken war es mitzuverdanken, daß sich die Alliierten im Jahr 1942 vom Münchner Abkommen distanzierten und, für den Fall eines Sieges über das Deutsche Reich, die Wiederherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen von 1937 in Aussicht stellten.

1945 befreiten sowjetische Truppen die Tschechoslowakei von der deutschen Besetzung, blieben aber als neue Besatzer im Land. Die Karpato-Ukraine wurde an die UdSSR angegliedert.

10.

4. Nachkriegszeit und Volksdemokratie (1945-1989)

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Beneš kehrte nach dem Ende des Krieges als Staatspräsident aus dem Londoner Exil zurück. In der Folgezeit errangen die Kommunisten eine immer stärkere Stellung; außenpolitisch näherte sich die Tschechoslowakei fortlaufend der Sowjetunion an. Der dringend notwendige Wiederaufbau der Wirtschaft wurde dadurch erschwert, daß Stalin im Jahr 1947 die Ablehnung der Marshall-Plan-Hilfe erzwungen hatte.

Die Nationalversammlung nahm am 9. Mai 1948 eine Verfassung nach sowjetischem Vorbild an. Bereits Ende Februar 1948 hatten die Kommunisten in Folge einer Regierungskrise die alleinige Herrschaft übernommen; dies begründete die dominierende Stellung der kommunistischen Partei (KPC). Die anderen Parteien verloren im Rahmen des Zusammenschlusses zur "Nationalen Front" ihre politische Eigenständigkeit. Beneš, der dieser Verfassung seine Zustimmung verweigerte, trat 1948 zurück.

In der Folgezeit wurde die Tschechoslowakei fest in das sowjetisch dominierte System des Ostblocks eingebunden: 1949 Mitgliedschaft im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, 1955 im Warschauer Pakt.

Am 11. Juli 1960 wurde eine neue Verfassung erlassen. Der Staat hieß ab dann Tschechoslowakische Sozialistische Republik (CSSR); neuer Staatpräsident wurde Antonin Novotný.

Zu Beginn der 60er Jahre wurden inner- und außerhalb der KPC wirtschafts- und gesellschaftspolitische Diskussionen laut. In zunehmenden Maße wurde Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen artikuliert. 1968 schließlich gewann eine Gruppe von Reformern um Alexander Dubcek die Wahl. Neuer Staatspräsident wurde Ludvík Svobodas. Die Staatsspitze unternahm Anstrengungen, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu verwirklichen. Diese Reformbewegung trug den Namen "Prager Frühling". Nachdem die Sowjetunion zunächst erfolglos versucht hatte, die Reformen mit diplomatischem Druck und militärischen Drohungen zu stoppen, marschierten am 21. August 1968 Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ein. Sämtliche Reformen wurden gestoppt und rückgängig gemacht; Dubcek mußte sein Amt aufgeben.

Im Gefolge der Beratungen über die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa entwickelte sich seit 1975 die Bürgerrechtsbewegung, die sich schließlich unter dem Namen "Charta 77" etablierte. Ihre Führer waren J. Hayek und Vaclav Havel. Die kommunistische Staatsführung versuchte die Bewegung mit Verhaftungen zu unterdrücken, was allerdings nur zum Teil gelang. Die in der Gesellschaft stark angewachsene Demokratiebewegung hatte in der Charta 77 ihr Sprachrohr gefunden. Das sog. Bürgerforum erzwang durch Massendemonstrationen und Generalstreiks schließlich den Verzicht der KPC auf ihre Führungsrolle und den Dialog zwischen Regierung und Oppositionsgruppen im November 1989.

IV.

5. Die demokratisch föderalistische Staatsneubildung (ab 1989)

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Nach dem Rücktritt der kommunistischen Führungsspitze wurde Vaclav Havel am 29. Dezember 1989 zum ersten nichtkommunistischen Staatspräsident sei 1948 gewählt. Die Tschechoslowakei war damit als erster Staat aus dem sowjetischen System ausgeschert und nach Europa zurückgekehrt.

Dies wurde am 20. April 1990 durch die Umbenennung des Staates in "Tschechische und Slowakische Föderative Republik (CSFR)" dokumentiert.

In den ersten freien Parlamentswahlen nach 44 Jahren wurde Havel am 8. und 9. Juni 1990 in seinem Amt bestätigt. Die letzten sowjetische Truppen verließen erst im Juni 1991 das Land. Nachdem die slowakische Souveränität proklamiert worden war, legte Havel sein Amt als Präsident des Gesamtstaates am 17. Juni 1992 nieder. Die Ministerpräsidenten beider Landesteile einigten sich auf eine friedliche Teilung zum 31. Dezember 1992.

Noch die Tschechische und Slowakische Föderative Republik hatte am 27. Februar 1992 einen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland geschlossen, in dem auch das Münchner Abkommen für nichtig erklärt wurde. Eine von der deutschen Seite immer wieder geforderte Aufhebung der sog. Beneš-Dekrete lehnte Parlament und Regierung der Tschechischen Republik bis heute ab.

Die Tschechische Republik versteht sich als parlamentarische Republik. Sie bekennt sich zu den Menschen- und Bürgerrechten. Die Bürgerrechte sind in der "Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten" enthalten. Diese Charta ist ein fester Bestandteil der Verfassung geworden.

Staatsoberhaupt des Landes ist der Präsident. Er wird für fünf Jahre gewählt. Ihm steht ein Vetorecht gegen Beschlüsse des Parlamentes zu. Am 26. Januar 1993 wurde Vaclav Havel wieder zum Präsidenten der Tschechischen Republik gewählt. Das Zweikammerparlament übt die gesetzgebende Gewalt aus, es besteht aus dem Nationalrat und dem Senat. Die 200 Abgeordneten des Nationalrates werden auf vier Jahre, die Senatsmitglieder auf sechs Jahre gewählt.

Tschechien ist dem Europarat mit Wirkung zum 30. Juni 1993 beigetreten. Die EMRK, das Protokoll Nr. 1 (Eigentum), Protokoll Nr. 4 (Freizügigkeit) und Protokoll Nr. 6 (Todesstrafe) wurden im Jahr 1992 ratifiziert.

 

II. Tschechiens Bilanz vor den Straßburger Instanzen

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Während der zurückliegenden 6 ½ Jahre sind bereits einige Beschwerden gegen Tschechien von den Straßburger Instanzen entschieden worden. Viele Beschwerden sind wegen der mangelnden Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges unzulässig. Als Hauptproblem in diesem Zusammenhang sind die vielen Sonderbeschwerdemöglichkeiten zu nennen, die sich vornehmlich mit Problemen befassen, die noch aus der Zeit des Kommunismus stammen.

Eine Vielzahl der nach Straßburg gebrachten Fälle befaßt sich schwerpunktmäßig mit Eigentumsfragen. Dies sind Auswirkungen der sozialistischen Vergangenheit, in der viele Betriebe und anderes Eigentum verstaatlicht worden waren. Viele Rückübertragungsansprüche gelangen daher zwecks menschenrechtlicher Überprüfung vor die Kontrollorgane der EMRK.

Im Fall Hava7 war dem Antragsteller im Ausgangsverfahren die Rückübertragung seines konfiszierten Eigentumes mit der Begründung verwehrt worden, daß er seinen ständigen Wohnsitz nicht in der Tschechischen Republik hatte. Mit der Beschwerde rügte er eine Verletzung von Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls sowie von Art. 2 II und III des 4. Zusatzprotokolls und ferner der Art. 8 und 14 EMRK. Die Kommission wies diesen Fall wegen mangelnder Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges zurück.

In einem weiteren Fall8 verlangten die Antragsteller Rückübertragung und Entschädigung für den Verlust ihres Eigentums. Auch dies ist nur möglich, wenn sie ihren ständigen Wohnsitz in der CSFR haben und deren Staatsangehörigkeit besitzen. Gerügt wurde daher eine Verletzung von Art. 5 I des Fakultativprotokolls, Art. 14 VI EMRK und von Art. 26 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte. In Übereinstimmung mit Art. 2 III EMRK ist die Vertragspartei verpflichtet, den Antragstellern einen rechtskräftigen Schadensersatz zu gewähren.

Wiederum um die Herausgabe konfiszierten Eigentums geht es im Fall J.A.9 Der Antragsteller rügt eine Verletzung von Art. 6 I EMRK und Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls. Doch auch hier lehnte die Kommission den Antrag als unzulässig ab, da der innerstaatliche Rechtsweg nicht voll erschöpft wurde. Der Antrag wurde folglich gem. Art. 27 III EMRK zurückgewiesen.

Im Fall Krcmár10 ging es um sieben Erben einer Margarinefabrik, die von der kommunistischen Regierung konfisziert worden war. Die Antragsteller rügen eine Verletzung des Art. 6 I der Konvention, da während der Verhandlung vor dem Verfassungsgerichtshof ein Beweis nicht laut verlesen wurde. Dieser Beweis der Gegenpartei beeinflußte die Entscheidung des Verfassungsgerichtes. Aufgrund dieser Tatsache bejahte das Gericht eine Verletzung von Art. 6 I. Es müsse den Parteien möglich sein, sich mit allen Beweisen vertraut zu machen. Weiterhin verlangen die Antragsteller Schmerzensgeld gem. Art. 41 der Konvention. Das Gericht sprach ihnen rund 70.000 DM zu, da sie den Verlust ihres Eigentums hinnehmen mußten.

Die Frage der Eigentumsverletzungen spielt auch unter dem heutigen System eine große Rolle.

Im Fall Spacek11 wurde behauptet, die Bank werde durch zusätzliche Einkommenssteuern und eine verhängte Strafe in ihrem Recht aus Art. 1 des Protokolls Nr. 1 verletzt. Der Eingriff in das Eigentum, den jede Steuererhebung darstellt, war durch das tschechische Recht gedeckt; die Anforderungen von Art. 1 II also erfüllt. Die Klage wurde als unbegründet abgewiesen.

Im Fall Slepcik12 ging es um eine Roma-Familie, die aufgrund von angeblichen Skinhead-Attacken Tschechien verließen und in die Niederlande zogen. Der erste Teil der Klage richtet sich gegen die Niederlande, der zweite Teil gegen Tschechien. Nach der Auflösung der CSFR erhielten sie automatisch die tschechische Staatsbürgerschaft. Die Antragsteller rügten diese automatische Annahme der Staatsbürgerschaft. Die Kommission stellte fest, daß das Erwerben der Staatsbürgerschaft nicht von der Konvention oder den einzelnen Protokollen gestützt wird. Die Kommission befand, daß die Antragsteller nicht die Anforderung des Art. 26 EMRK erfüllen.

Eine Bank klagte vor der Kommission,13 daß ihr Recht aus Art. 6 I EMRK verletzt sei, da ihr der Zugang zum Gericht verweigert worden sei. Dies geschah mit der Begründung, sie sei durch eine unberechtigte Person vertreten worden. Weiterhin behaupten sie, daß ein Eingriff in ihr Recht aus Art. 1 des 1. Zusatzprotokolles vorliege. Die Kommission stellte fest, daß ein Aktionär der Bank nicht behaupten kann, Opfer einer angeblichen Verletzung der Rechte der Bank zu sein. Der Antrag, der von Herrn Moravec als Hauptaktionär der Bank eingereicht wurde, wurde als ratione personae unvereinbar unter den Bedingungen des Art. 27 II ERMK zurückgewiesen.

Die überlange Verfahrensdauer war bereits mehrmals Gegenstand von Entscheidungen der Straßburger Instanzen.

Im Fall Punzelt14 klagte der Antragsteller auf Verletzung der Art. 41, 5 III und Art. 6 I EMRK. Die Untersuchungshaft des Antragstellers zog sich von April 1993 bis Januar 1995 hin. Aufgrund dieser langen Zeitspanne stellte das Gericht eine Verletzung von Art. 5 III EMRK fest. Weiterhin klagte der Antragsteller, er sei nicht aus der Untersuchungshaft entlassen worden, obwohl er eine Kaution hinterlegt habe. Es bestand jedoch erhöhte Fluchtgefahr und weiterhin hätte er im Fall einer Entlassung auf Kaution nach Deutschland ausgeliefert werden müssen. Das Gericht stellte daher fest, daß die Ablehnung der Entlassung auf Kaution keine Verletzung von Art. 5 III EMRK darstellte. Das Verfahren dauerte 3 Jahre, 3 Monate und 17 Tage. Daher rügte der Antragsteller eine Verletzung von Art. 6 I EMRK. Das Gericht befand jedoch bei Betrachtung des ganzen Falles, daß das Verfahren nicht eine unangemessen lange Zeit andauerte und verneinte daher die gerügte Verletzung des Art. 6 I EMRK. Im übrigen forderte der Antragsteller eine gerechte Entschädigung gem. Art. 41 EMRK. Das Gericht sprach ihm 10.000 DM als Schadenersatz und weitere 10.000 DM für die Kosten und Ausgaben aufgrund der Prozesse zu.

Eines der neuesten Urteile befaßte sich mit einer überlangen Dauer der Untersuchungshaft. Der Antragsteller rügte die Verletzung des Art. 5 Abs. 3 und verlangte daher Schadenersatz gem. Art. 41 der Konvention. Im Fall Ceský15 wurde der Antragsteller zweimal wegen Raubes mit Todesfolge zu einer Haftstrafe verurteilt, beide Urteile wurden wieder aufgehoben. Der Antragsteller war vom 6. Februar 1993 bis zum 18. Februar 1997 in Haft; hiervon waren drei Jahre, drei Monate und sieben Tage Untersuchungshaft. Die tschechische Regierung konnte die Gründe für den langen Zeitraum der Untersuchungshaft größtenteils überzeugend darlegen. Trotzdem stellte der EGMR nach Betrachtung der Umstände des gesamten Falles eine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK fest. Begründet wurde dies damit, daß insgesamt in der Prozeßführung keine besondere Sorgfalt von der tschechischen Justiz aufgezeigt wurde. Aufgrund dieser Verletzung sprach das Gericht Ceský Schadenersatz und Ersatz seiner Kosten und Auslagen gemäß Art. 41 EMRK zu.

Um die Dauer von Untersuchungshaft und die überlange Dauer von Strafverfahren ging es im Fall Barfuss16 Der Beschwerdeführer wurde am 19. Mai 1994 unter dem Vorwurf des Kreditbetruges wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr festgenommen. Die Untersuchungshaft betrug drei Jahre, fünf Monate und neunzehn Tage. Der Beschwerdeführer hatte die Untersuchungshaft mehrfach ohne Erfolg von den Gerichten überprüfen lassen.

Bei der Prüfung der Frage, ob Art. 5 Abs. 3 verletzt wurde, stellte der Gerichtshof fest, daß zwar der erforderliche hinreichende Tatverdacht ebenso zu bejahen sei wie die (für die Fortdauer der Untersuchungshaft notwendige) relevante und ausreichende Haftgründe. Demgegenüber hätten die zuständigen stellen den Fall des Beschwerdeführers nicht mit der gebotenen besonderen Eilbedürftigkeit verfolgt. Die hieraus resultierende lange Dauer der Untersuchungshaft verletze Art. 5 Abs. 3.

Die gleichzeitig gerügte überlange Verfahrensdauer berechnete der Gerichtshof auf drei Jahre, zehn Monate und sieben Tage. Da die Regierung hiervon rund achtzehn Monate nicht oder nicht überzeugend begründen konnte, hielt der Gerichtshof Art. 6 Abs. 1 für verletzt. 17  


Anmerkungen:
 

1 Winterwerp ./. Niederlande, Urteil vom 24. Oktober 1979, Serie A, Bd. 33.
2 X & Y ./. Niederlande, Urteil vom 26. März 1985, Serie A, Bd. 91.
3 Benthem ./. Niederlande, Urteil vom 23. Oktober 1985, Serie A, Bd. 97.
4 Berrehab ./. Niederlande, Urteil vom 21. Juni 1988, Serie A, Bd. 138.
5 Kostovski ./. Niederlande, Urteil vom 20. November 1989, Serie A, Bd. 166.
6 Van de Hurk ./. Niederlande, Urteil vom 19. April 1994, Serie A, Bd. 288.
7 EKMR, Hava ./. Tschech. Republik, Entscheidung vom 29. Juni 1994.
8 EKMR, Simunek, Hastings, Tuzilova und Prochazka ./. Tschech. Republik, Entscheidung vom 19. Juli 1995.
9 EKMR, J.A. ./. Tschech. Republik, Entscheidung vom 7. April 1994, DR 77-B, S. 118ff.
10 EKMR, Krcmár u.a. ./. Tschech. Republik, Beschwerde 35376/97, Entscheidung vom 3. März 2000.
11 EGMR, Spacek s.r.o ./. Tschech. Republik, Urteil vom 9. November 1999.
12 EKMR, Slepcik ./. Niederlande & Tschech. Republik, Entscheidung vom 2. September 1996, DR 86-A, S. 176ff.
13 EKMR, Credit und Industrie Bank und Antonin Moravec ./. Tschech. Republik, Entscheidung vom 20. Mai 1998, DR 93-A, S. 72ff.
14 EGMR, Punzelt ./. Tschech. Republik, Beschwerde 31315/96, Entscheidung vom 25. April 2000.
15 EGMR, Ceský ./. Tschech. Republik, Beschwerde 33644/96, Entscheidung vom 6. Juni 2000.
16 EGMR, (Beschwerde 35848/97), Urteil vom 31. Juli 2000 (noch nicht rechtskräftig).
17 Außerdem erhielt der Beschwerdeführer einen Betrag von jeweils 100.000 Kronen als Ersatz seines immateriellen Schadens und für die Verfahrenskosten zugesprochen.
 

Quelle: MenschenRechtsMagazin Heft 2 / 2000

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