Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 8. Juni 2010

Inhalt 

Norman Weiß:

25 Jahre KSZE / OSZE — Herausforderungen und Wandel

Inhaltsübersicht
 
II.
I. Einführung 


Am 1. August 1975 wurde die Schlußakte von Helsinki unterzeichnet. Sie stellte damals das erste Resultat des sogenannten KSZE-Prozesses dar und bildete den Auftakt für eine bewegte Entwicklung im Bereich der Sicherheitspolitik, der Demokratisierung und des Schutzes der Menschen- und Bürgerrechte in Europa.

"Wandel durch Annäherung" (Egon Bahr) galt als eine der Leitlinien der neuen Ostpolitik, die die sozialliberale Bundesregierung 1969 einleitete. Die Bundesregierung und ihre westlichen Verbündeten gingen nunmehr davon aus, daß substanzielle Fortschritte bei der Abrüstung und dem Aufbau einer tragfähigen Friedensordnung für Europa die Anerkennung des Status quo in Europa voraussetzten. Von herausragender Bedeutung in diesem Zusammenhang war der Umgang mit der DDR und die Unverletzlichkeit bestehender Grenzen.

Durch den Abschluß der Verträge mit der UdSSR (12. August 1970) und Polen (7. Dezember 1970) und des Grundlagenvertrags mit der DDR (21. Dezember 1972) beschritt die Bundesrepublik Deutschland diesen Weg, ergänzt durch das Viermächte-Abkommen über Berlin (3. September 1971). Erst auf dieser Grundlage waren weitere Schritte möglich.

Der im Gefolge der Ereignisse von 1989/1990 schließlich eingetretene Wandel war nicht abzusehen, als man die Teilung Deutschlands und Europas wenigstens vorläufig hinnahm, um den Dialog mit den Staaten des Warschauer Paktes führen zu können.

Welche Herausforderungen in diesem Wandel tatsächlich – noch immer – liegen, haben die Teilnehmerstaaten der KSZE bei der Verabschiedung des Schlußdokuments von Helsinki (1992) auch nur zum Teil abschätzen können. "The Challenges of Change", so der Titel dieses Dokuments, ist aus der Rückschau als … Versuch zu werten, Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft bereitzustellen.


 

 

III.

II. Weltpolitischer Hintergrund und theoretische Grundlagen des KSZE-Prozesses


Mitte der 60er Jahre war der Kalte Krieg auf seinen Höhepunkt gelangt und hatte sich gleichzeitig die Erkenntnis ausgebreitet, daß es zur Überwindung dieser Situation eines neuen Friedenskonzeptes bedürfe. Ältere Modelle, wie das alteuropäische Gleichgewicht der Mächte oder das nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Modell der (atomaren) Abschreckung schienen nicht mehr zukunftsfähig zu sein. Die – nach dem Ersten Weltkrieg eher zaghaft, nach dem Zweiten Weltkrieg beherzter in Angriff genommene – Internationalisierung der Sicherheitspolitik war wegen des sich immer weiter vertiefenden Ost-WestGegensatzes ebenfalls an Grenzen gestoßen.

Mit der Idee einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa war die Hoffnung verbunden, ein neues Forum zu schaffen und dort einen unverkrampften Dialog zu ermöglichen. Der so angestoßene Prozeß sollte denknotwendigerweise einen offenen Ausgang haben.1 Gleichzeitig sollte er Möglichkeiten bieten, einen sich gerade neu entwickelnden Sicherheitsbegriff weiter auszubauen und praktisch umzusetzen.

Nach diesem neuen Sicherheitsbegriff war Friede nicht mehr nur als Abwesenheit von Krieg definiert, Sicherheit nicht nur als politisch-militärische Ruhe verstanden. Vielmehr war eine Erweiterung des Sicherheitsbegriffs angestrebt;2 so sollten ökonomische und ökologische Aspekte ebenso einfließen wie Achtung und Förderung der Menschenrechte sowie schließlich Entspannung und Abrüstung.

Zwar war klar, daß dem Gleichgewicht der Kräfte noch immer grundlegende Bedeutung innewohnte. Doch hatte sich dieses Gleichgewicht nach dem Zweiten Weltkrieg auf die universelle Ebene verschoben. Außerdem hatte die europäische Geschichte eindrucksvoll gezeigt, daß die gefundenen Gleichgewichtslösungen allein nicht dauerhaft genug gewesen waren, um Frieden und Sicherheit aufrechtzuerhalten.

Das Hinzutreten weiterer Faktoren war also unabdingbar. Eine übereinstimmende Festlegung dieser Faktoren und das Vereinbaren einer dauerhaften Friedensorganisation setzte vor allem Entspannung voraus. Nur in einem Klima des Vertrauens und gegenseitigen Akzeptierens erschien es möglich, substanzielle Fortschritte zu erzielen. Unter den verschiedenen denkbaren Modellen für ein europäisches Sicherheitssystem zählte eine institutionalisierte Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu den vielversprechendsten.3  


 

 
IV.

III. Überblick über die Entwicklung der KSZE/OSZE

 
2.
1. Der Weg nach Helsinki
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Die UdSSR und ihre Verbündeten hatten seit 1954 regelmäßig Initiativen für eine "europäische Sicherheitskonferenz" vorgebracht, insbesondere nach der Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR und der gewaltsamen Beendigung des sogenannten Prager Frühlings
.4

Der Westen, der mit dem Harmel-Bericht von 1967 ein Konzept für die zukünftigen Gestaltung der Ost-West-Beziehungen vorgelegt hatte, willigte nach einigem Zögern ein; doch setzten die Amerikaner durch, daß parallel dazu mit "Gesprächen über einen gegenseitigen und ausgewogenen Truppenabbau in Europa (MBFR)" zwischen den Militärallianzen begonnen wurde.

So kam es schließlich zu einer Folge von Konferenzen, beginnend am 22. November 1972 in Helsinki, danach in Genf und schließlich wieder in Helsinki, wo am 1. August 1975 die Schlußakte verabschiedet wurde.

An der Konferenz nahmen ursprünglich 35 Staaten teil.5 Dabei handelte es sich einmal um alle 16 NATO-Staaten (also auch Kanada und die USA) einerseits und um die 7 Warschauer-Pakt-Staaten andererseits. Hinzu kamen die 4 neutralen Staaten (Österreich, Finnland, Schweden und die Schweiz) sowie 4 paktungebundene Staaten (Jugoslawien, Lichtenstein, Malta, Zypern). Außerdem wirkten die Kleinstaaten San Marino, Andorra, Monaco und der Heilige Stuhl mit.

Hinter den sowjetischen Initiativen stand das Ziel, den Westen zu einer Anerkennung des europäischen Status quo zu bewegen und längerfristig zu erreichen, die transatlantische Bindung Westeuropas zu kappen.

Bevor kurz auf die Schlußakte von Helsinki eingegangen werden soll, ist darauf hinzuweisen, daß im Jahr 1975 tatsächlich viele Teilnehmer den von der Sowjetunion angeführten Osten als Sieger dieser Konferenz betrachteten. So anerkannte die Schlußakte die territoriale Integrität aller Teilnehmerstaaten, proklamierte die Nichteinmischung in deren innere Angelegenheiten und unterstrich die Unveränderbarkeit bestehender Grenzen. Während damit vordergründig die Ziele der Sowjetunion und ihrer Partner erreicht worden waren, entwickelte der Helsinki-Prozeß und der in seinem Rahmen begonnene Dialog eine nicht zu unterschätzende Eigendynamik.

Der Ostblock hatte einen ersten Schritt zur Öffnung unternommen. Die gleichzeitig eingegangene Verpflichtung auf die Menschenrechte ermöglichte es den Zivilgesellschaften in den Staaten Mittel- und Osteuropas, sich auf diese zu berufen. Überall bildeten sich Helsinki-Bewegungen, deren bekannteste wohl die Charta 77 sein dürfte. So geschah es, daß "der Sprengsatz, den die Sowjetunion ins westliche Lager zu werfen gedacht hatte, in den eigenen Reihen explodierte."6 


 

 
3.
2. Die Schlußakte von Helsinki
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Die Schlußakte7 wurde nach langen Verhandlungen8 in drei Kapitel, die sog. Körbe unterteilt, die in ihrer Bedeutung sämtlich gleichwertig sind. Es sind dies: 1. Sicherheit, 2. Wirtschaftliche und sonstige Zusammenarbeit und 3. die sog. Menschliche Dimension. Ein weiterer Abschnitt ist Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeerraum gewidmet und wurde – wenig systematisch – zwischen die beiden letzten Kapitel eingefügt.

Der erste, der Sicherheit gewidmete Teil von Korb 1 formuliert zunächst zehn Prinzipien, welche für die Beziehungen der Teilnehmerstaaten untereinander grundlegend und leitend sind (dazu unten IV). In einem zweiten Teil werden Einzelheiten der sicherheitspolitischen Umsetzung erläutert.

Das Kapitel über die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt unterstreicht, daß durch diese Kooperation zur Festigung des Friedens und der Sicherheit beigetragen wird. In der Praxis wurden hier bestehende Formen der Zusammenarbeit – gerade auf dem wirtschaftlichen Sektor – fortgeführt und vertieft.

In der Menschlichen Dimension schließlich werden die Einzelpunkte Austausch, Kontakte, Informationen, Kultur und Bildung behandelt (dazu unten V).

Holzschnittartig gesprochen kann man sagen, daß die zehn Prinzipien aus dem Sicherheitsteil den Erfolg des Ostblocks bildeten, während die Passagen über die Menschliche Dimension als Erfolg des Westen verbucht werden können.


 

 

4.
3. Von Helsinki nach Paris - 1975-1990
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Bevor inhaltlich auf die Schwerpunkte der Schlußakte eingegangen wird, sollen zunächst die weitere Abfolge und Fortentwicklung des KSZE-Prozesses kurz erläutert werden.

Seit 1975 kam es zu fünf Folgetreffen der Außenminister, zwei Treffen der Staats- und Regierungschefs sowie einer Fülle von Spezialtreffen.

Das erste Folgetreffen 1977/78 in Belgrad war im großen und ganzen nur dafür gedacht, den in Helsinki begonnenen Prozeß in Gang zu halten. Wesentliche Impulse hat das Belgrader Treffen nicht gegeben.

Das zweite Folgetreffen in Madrid von 1980 bis 1983 war überschattet vom sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, der Erhöhung des Zwangsumtauschs für Einreisen von Bundesbürgern in die DDR, durch Arbeitsbehinderungen von Johttp://nbn-resolving.de/urnalisten in vielen Staaten des Ostblocks sowie schließlich der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1982.

Es zählt zu den unschätzbaren Verdiensten des KSZE-Prozesses, trotz dieser Widrigkeiten und Rückschläge den begonnenen Dialog in Gang gehalten und eine Annäherung beider Seiten versucht zu haben. Immerhin war es möglich, von 1984 bis 1986 eine Abrüstungskonferenz in Stockholm zu veranstalten (KVAE), zu deren Ergebnissen es gehört, daß Manöver ab einer bestimmten Größenordnung bis zu zwei Jahre im voraus angekündigt werden müssen. Außerdem wurde vereinbart, daß Vor-Ort-Inspektionen stattfinden können und ein Zurückweisen des Inspektionsersuchens nicht möglich ist. Dies war ein wichtiger Etappensieg für die wirksame Rüstungskontrolle.

Das von 1986 bis 89 in Wien stattfindende dritte Folgetreffen erhielt neue Impulse aus der Sowjetunion. Staats- und Parteichef Michael Gorbatschow hatte mit Glasnost und Perestrojka neue Handlungsspielräume eröffnet. Besonders wichtig für den KSZE-Prozeß war natürlich auch der Abzug sowjetischer Truppen aus Afghanistan. All dies ermöglichte es, der Menschlichen Dimension einen eigenen Implementierungs- und Kontrollmechanismus zuzuweisen (s.u. V). Seither finden eigene Folgetreffen über die Menschliche Dimension statt. Die sich anschließende Intensivierung des KSZE-Prozesses ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sämtliche Elemente aufgewertet wurden und eine größere Dichte der Treffen und Konferenzen erreicht werden konnte.

Besonders wichtig geworden ist das Gipfeltreffen von Paris im Jahre 1990, auf dem die "Charta von Paris für ein neues Europa"9 verabschiedet worden ist. Hier manifestiert sich die neue Zusammenarbeit zwischen Ost und West besonders deutlich. Die Charta von Paris geht auf eine Initiative von Gorbatschow zurück, der starke Förderung durch die westlichen Partner in London, Paris, Washington und Bonn erhielt.

Zu den Kernsätzen, die gleichzeitig die Aufbruchseuphorie die damaligen Zeit treffend kennzeichnen, gehört die folgende Erkenntnis:

"Europa hat sich vom Erbe der Vergangenheit befreit, ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit bricht an."

Das Gipfeltreffen diente zu einer Bekräftigung und Fortentwicklung der Schlußakte von Helsinki. Besonders wurden dabei die individuellen Freiheitsrechte und die sozialen Rechte betont und nachdrücklich die Rolle von Minderheiten in den Teilnehmerstaaten gewürdigt. Die KSZE begrüßte die Wiedervereinigung Deutschlands und sah in der zu erwartenden Neugestaltung Mittel- und Osteuropas eine gewaltige Aufgabe auf sich zukommen.

Besonders wichtig ist, daß damals die Institutionalisierung des KSZE-Prozesses einsetzte. Sicherheitspolitisch relevant war die Unterzeichnung von zwei Abrüstungsverträgen.


 

 

IV.
4. Aktuelle Entwicklungen
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Das vierte KSZE-Folgetreffen fand im Jahre 1992 in Helsinki statt. Diese Konferenz und insbesondere der Ort der Unterzeichnung der Schlußakte hatte einen hohen Symbolwert bei den Teilnehmerstaaten aus dem ehemaligen Ostblock. Gleichwohl kam es in Helsinki zu einer Ernüchterung nach der euphorischen Stimmung, die in Paris geherrscht hatte. Dies hatte mehrere Gründe: So hatten die KSZE-Präventionsmechanismen auf dem Balkan versagt und es gab den Krieg zwischen den Teilnehmerstaaten Armenien und Aserbaidschan. Mittlerweile war weiten Kreisen klar geworden, daß die bisher eingetretene Ausweitung der Teilnehmerstaaten, die sie im Zuge der Umgestaltung Mittel- und Osteuropas weiter fortsetzen würde, institutionelle Reformen unausweichlich machen würde.

Zu den Erfolgen von Helsinki zählt es, daß das Mandat des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten eingerichtet wurde, dessen Aufgaben insbesondere im Bereich der Prävention und des Dialogs zwischen Mehrheit und Minderheitengruppen liegen.10 Zu seinen besonders erfolgreichen Missionen gehört die nach Estland, die er direkt zu Beginn seiner Tätigkeit aufnahm. Er unterbreitete konkrete Vorschläge, wie mit der großen Gruppe der russischen Bevölkerung in Estland (rund 40 %) umzugehen sei; dabei legte er besonderes Augenmerk auf das Staatsangehörigkeitsrecht.11 

Zu den wiederkehrenden Themen seiner Missionen gehörten ferner der Dialog zwischen Regierung und Minderheit, Sprachenfragen und Probleme aus dem Bereich der Bildung.

Der Hochkommissar konnte in seiner Mandatsausübung zeigen, welch hohen Stellenwert Frühwarnung und präventive Diplomatie für die Sicherung gerade auch des inneren Friedens sowie den Schutz und die Achtung der Menschenrechte haben.12  

Auf dem Gipfeltreffen 1994 in Budapest wurde aus der Konferenz eine Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa mit Sitz in Wien13  Zu ihren Aufgaben zählt es, ein Sicherheitsmodell für das 21. Jahrhundert zu entwickeln, bei dem die OSZE die Rolle einer Regionalorganisation im Sinne von Kapitel 8 der Satzung der Vereinten Nationen übernehmen soll. Wichtig wird zukünftig auch eine verstärkte Kooperation mit anderen internationalen Organisationen.

Zu den Institutionen, Organen und Strukturen vgl. auch die Schaubilder am Ende des Beitrages.


 

 

V.

IV. Die zehn Prinzipien aus dem Ersten Kapitel der Schlußakte – der "Dekalog"

 
Die Teilnehmerstaaten haben sich auf zehn Prinzipien geeinigt,
"die alle von grundlegender Bedeutung sind und ihre gegenseitigen Beziehungen leiten, ein jeder in seinen Beziehungen zu allen anderen Teilnehmerstaaten, ungeachtet ihrer politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systeme, als auch ihrer Größe, geographischen Lage oder ihres wirtschaftlichen Entwicklungstandes, zu achten und in die Praxis umzusetzen."

Dieser letzte Absatz der der Prinzipiendeklaration vorangestellten Präambel macht nicht nur die Entschlossenheit der Teilnehmerstaaten deutlich, diese zehn Prinzipien zu achten und in die Praxis umzusetzen. Er unterstreicht auch die Gleichrangigkeit aller Prinzipien und macht deutlich, daß sie nicht nur als Grundsätze der Beziehungen zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, sondern auch im Verhältnis zwischen den sozialistischen Staaten untereinander gelten.

Den zehn Prinzipien sind kurze Schlußbestimmungen angefügt, die den Vorrang völkerrechtlicher Verpflichtungen ausdrücklich festschreiben. Ausweislich der Entstehungsgeschichte handelt es sich um eine von den Franzosen durchgesetzte Klausel, mit der die Vorrechte in bezug auf Berlin festgeschrieben werden sollten,14 die aber auch darüber hinaus Wirkung entfaltet, da Berlin nicht angesprochen wird.

1. Erstes Prinzip: Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte

Der erste Absatz zählt die der Souveränität innewohnenden Rechte auf, nämlich rechtliche Gleichheit, territoriale Integrität, Freiheit und politische Unabhängigkeit. Die Teilnehmerstaaten erklären, daß sie gegenseitig ihre souveräne Gleichheit und Individualität achten und das Recht jedes anderen Teilnehmerstaates akzeptieren, sein politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles System frei zu wählen und zu entwickeln. Im zweiten Absatz wird der rechtliche Charakter der Gleichheit unter den Staaten und die außenpolitischen Aspekte der politischen Unabhängigkeit behandelt.

Hervorzuheben ist auch das dort festgehaltene Recht zur friedlichen Änderung von Grenzen. Wie einleitend bereits erwähnt, ist der Gedanke der Unverletzlichkeit der bestehenden europäischen Grenzen, der auf bilateraler Ebene in den deutschen Ostverträgen niedergelegt wurde, auf Betreiben der Sowjetunion und ihrer Verbündeten auch als grundlegendes KSZE-Prinzip aufgenommen worden. Die westlichen Teilnehmerstaaten vertraten die Ansicht, daß hiermit nur der Schutz vor gewaltsamen oder widerrechtlichen Angriffen gegen bestehende Grenzen gemeint sein könne, der Begriff der Unverletzlichkeit somit nicht im Sinne einer Unabänderlichkeit zu verstehen sei. Mit dieser Formulierung wollte man sowohl eine zukünftige politische Union Westeuropas als auch eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands nicht von vorneherein ausschließen. Mit der endgültig gefundenen Formulierung war es den Teilnehmerstaaten möglich, durch friedliche Mittel die Aufhebung der zwischen ihnen bestehenden Grenzen anzustreben und diese Aufhebung durch völkerrechtliche Vereinbarungen durchzuführen. Damit wird ein wesentlicher Aspekt der souveränen Gleichheit dargestellt.

Neben der Formulierung über die friedliche Änderung von Grenzen erhält das erste Prinzip aber auch andere Aussagen, die insbesondere politische Interessen der Teilnehmerstaaten unterstreichen. Die Formulierung, jeder Staat sei berechtigt, sein inneres System "frei zu wählen und zu entwickeln", dient dazu, auch einem kollektivistisch regierten Staat die Möglichkeit zu eröffnen, eine andere Staats- und Gesellschaftsordnung zu wählen. Der Hinweis auf das Recht auf Neutralität berücksichtigt die Interessen der neutralen Teilnehmerstaaten und bringt klar zum Ausdruck, daß man sich innerhalb der KSZE nicht "für eine Seite entscheiden" muß.

 

2. Zweites Prinzip: Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt

Dieses in drei Absätzen detailliert aufgefächerte Prinzip greift Elemente aus Artikel 2 Abs. 4 der UN-Charta auf und übernimmt Gedanken aus dem dem Gewaltverzicht gewidmeten Teil der Friendly-Relations-Deklaration, die das Verbot von Repressalien und den ausdrücklichen Gewaltverzicht bei der Regelung von Streitfällen betreffen.

 

3. Drittes Prinzip: Unverletzlichkeit der Grenzen

Als selbständiges Prinzip der KSZE stand die Unverletzlichkeit der Grenzen während des gesamten Konferenzverlaufs im Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Ohne eine einvernehmliche Lösung dieser Frage wäre eine erfolgreiche Verständigung über die KSZE-Schlußakte insgesamt nicht möglich gewesen. Im wesentlichen konzentrierten sich die Auseinandersetzungen zwischen Ost und West auf die territorialen Verhältnisse in Europa, auf die Anerkennung des Erwerbs ehemals deutscher Gebiete durch Polen und die Sowjetunion sowie die Teilung Deutschlands in zwei souveräne Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik.

Absicht der UdSSR und ihrer Verbündeten war es, mit dem Projekt einer europäischen Sicherheitskonferenz die seit langem geführte Auseinandersetzung über diese Fragen auf eine neue, multilaterale Ebene zu verlagern. Nach Anerkennung der Gebietshoheit der betroffenen Warschauer-Pakt-Staaten in den Ostverträgen der Bundesrepublik war es für den Westen möglich, einem allgemeinen Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen zuzustimmen. Dies wurde allerdings - wie bereits erwähnt – darauf beschränkt, daß eine Beeinträchtigung der Grenzen durch Androhung oder Anwendung von Gewalt verurteilt wurde. Damit wurde insbesondere dem Bemühen der Bundesrepublik, aber auch dem ihrer westlichen Partner Rechnung getragen, eine Wiedervereinigung nicht durch entsprechende Erklärungen im Rahmen des KSZE-Prozesses auszuschließen.

Für den Westen war eine rigide Unabänderlichkeit der Grenzen gegenüber jeder Form der Veränderung auch deshalb nicht hinnehmbar, weil die langfristig angestrebte politische Union der Staaten (West-)Europas berührt worden wäre, gegebenenfalls die Ostblockstaaten im Rahmen der KSZE ein Mitspracherecht über den Fortgang der europäischen Einigung erhalten hätten.

 

4. Viertes Prinzip: Territoriale Integrität der Staaten

War das Prinzip über die Unverletzlichkeit der Grenzen auf Betreiben der Sowjetunion und ihrer Verbündeten in den Prinzipienkatalog aufgenommen worden, so hatte die westliche Staatengruppe die Aufnahme des Prinzips über die territoriale Integrität betrieben. Dies sollte die Kritik an der Intervention von Warschauer-Pakt-Truppen in der ČSSR im August 1968 zum Ausdruck bringen. Im ersten Absatz des vierten Prinzips wird lediglich das Bekenntnis ausgesprochen, daß die Teilnehmerstaaten die territoriale Integrität eines jeden Teilnehmerstaates achten werden. Mit dem zweiten Absatz werden Verhaltensweisen erfaßt, die zwar gegen die territoriale Integrität, nicht aber gegen das Verbot des Gewalteinsatzes verstoßen. Damit war den Interessen der Sowjetunion entgegengekommen worden, und der Text des Prinzipienkatalogs enthielt somit einen Passus, der dem Bestreben auf Wiedervereinigung Deutschlands entgegengehalten werden konnte.

Im dritten Absatz des vierten Prinzips wird sich mit den Ereignissen des August 1968 auseinandergesetzt. Neben den westlichen Staaten war es vor allem Rumänien, das sich für eine Bezugnahme auf diese Ereignisse einsetzte und so in offenen Gegensatz zur UdSSR stellte. Rumänien hatte sogar vorgeschlagen, die Teilnehmerstaaten sollten auf jede, auch nur vorübergehende Besetzung fremden Staatsgebietes verzichten. Dies wurde von der Sowjetunion entschieden abgelehnt. Durch die Ausdehnung der Textaussage auf Fragen gewaltsamen Gebietserwerbes (um den es gegenüber der ČSSR ja gerade nicht gegangen war) und die Einschließung "anderer direkter oder indirekter Gewaltmaßnahmen unter Verletzung des Völkerrechts" wurde ein Übriges getan, um die Sowjetunion mit diesem Vorschlag zu versöhnen.

Der nun bewußt unklar gehaltene Text erfaßt auch den nachfolgenden, sich auf die Zypernfrage beziehenden Satz. Er spricht sich dagegen aus, militärische Besetzungen und gewaltsame Gebietsaneignung als rechtmäßig anzuerkennen. Durch die Verknüpfung mit dem vorangegangenen Satz erscheint es möglich, nur völkerrechtswidrige Aktivitäten zu erfassen. Damit wurde es der Türkei erleichtert, die ja ihr eigenes Vorgehen auf Zypern als völkerrechtskonform betrachtet, auf diesen Vorschlag der zypriotischen Delegation, der sich explizit gegen die türkische Regierung richtete, einzugehen.

Es ist den Teilnehmerstaaten der KSZE gelungen, so wichtige außenpolitische Probleme wie die ČSSR-Krise des Jahres 1968, die Deutsche Frage und den Zypern-Konflikt anzusprechen und gleichzeitig diese Aussagen so zu fassen, daß der Inhalt letztendlich neutralisiert wurde. Indem sich die KSZE fast ausnahmslos mit macht- und sicherheitspolitischen Aspekten der territorialen Integrität befaßte, wurde andere Fragen der Gebietshoheit ausgeblendet. Nicht erörtert werden daher beispielsweise die Frage der Haftung für die Immissionen von Kernkraftwerken, für die Verunreinigung durchfließender oder gemeinsamer Gewässer oder aber die offenen Fragen der Ausbeutung anliegender Meeresteile.

 

5. Fünftes Prinzip: Friedliche Regelung von Streitfällen

Dieses Prinzip lehnt sich – auch im Wortlaut – an die Satzung der Vereinten Nationen und die Friendly-Relations-Deklaration an.

 

6. Sechstes Prinzip: Nichteinmischung in innere Angelegenheiten

Dieses Prinzip war für die UdSSR und ihre Verbündeten von zentraler Bedeutung. Eine klare Trennung von verbotener Einmischung und erlaubter Einflußnahme erscheint im zwischenstaatlichen Bereich insofern problematisch, weil eine wechselseitige Beeinflussung denknotwendig Bestandteil des Zusammenlebens der Staaten ist.

Zunächst hatten die Entwicklungsländer und die sozialistischen Staaten im Rahmen der Friendly-Relations-Deklaration versucht, die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten als allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts zu formulieren und zu präzisieren. Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen verbotener Einmischung und erlaubter Einflußnahme gelang dort jedoch nicht.

Während der Erarbeitung der Schlußakte setzten sich Ost und West für die Aufnahme des Prinzips der Nichteinmischung ein. Die UdSSR und ihre Verbündeten wollten das eigene Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gegenüber westlichen Einflüssen abschirmen. Dies galt umso mehr, als die von westlicher Seite favorisierte größere Freizügigkeit für Menschen und Informationen darauf hindeutete, daß sich die KSZE künftig mit dem Abbau der Hindernisse befassen würde, die die sozialistischen Staaten errichtet hatten und die dieser erhöhten Freizügigkeit im Wege standen.

Demgegenüber wollte die westliche Staatengruppe eine Handhabe gegen die sowjetische Hegemonialpolitik in Mittel- und Südosteuropa erhalten.

Aus den unterschiedlichen Zielen, die beide Seiten mit der Aufnahme dieses Prinzips verbanden, ergaben sich Schwierigkeiten bei der Redaktion des Textes. An der Ablehnung einer von den Sowjets geforderten Passage, die Teilnehmerstaaten sollten die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Grundlagen der anderen Teilnehmerstaaten und deren Recht auf Gestaltung der eigenen Verfassungsordnung achten, drohte die Konferenz zu scheitern. Erst ein Vorschlag der neutralen Staaten, der das Recht auf die Gestaltung der innerstaatlichen Rechtsordnung in das erste Prinzip verschob, ermöglichte eine Einigung.

Diese erlaubte es sogar, daß im sechsten Prinzip eine kritische Passage auftauchen konnte, die sich gegen die sowjetische Intervention in der ČSSR richtete. Hiernach enthalten sich die Teilnehmerstaaten “ungeachtet ihrer jeweiligen Beziehungen” Einwirkungen in die inneren oder äußeren Angelegenheiten. Besonders Jugoslawien und Rumänien hatten auf diese Formulierung gedrängt. So sollten ostblock-interne Interventionen zur Sicherung "sozialistischer Errungenschaften" ausgeschlossen werden.

Zu den positiven Ergebnissen des sechsten Prinzips gehört es ferner, daß hier gegenüber der Friendly-Relations-Deklaration Präzisierungen gelungen sind.15

 

7. Siebtes Prinzip: Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit

Die Verknüpfung von Sicherheit und Menschenrechten hatte die Generalversammlung der Vereinten Nationen bereits in einer Resolution aus dem Jahr 1970 vorgenommen.16 Die westlichen Teilnehmerstaaten hatten einen entsprechenden Vorschlag erst während der Konferenzphase eingebracht und verknüpften ihre Zustimmung zum Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen mit derjenigen der Ostblock-Staaten zu dem der Achtung der Menschenrechte.

Auf Betreiben des Heiligen Stuhls wurde der präzisierende Zusatz "einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit aufgenommen, der die Verknüpfung mit dem dritten Korb der Schlußakte noch deutlicher werden läßt.

Lehnten die Sowjets die Aufzählung einzelner Rechte kategorisch ab, so gelang es doch, diese Haltung aufzuweichen. Dem Wirken des Heiligen Stuhl war es zu danken, daß im dritten Absatz des Prinzips Religions- und Überzeugungsfreiheit herausgestellt wurde. Der russische Text setzt das Wort Glauben für Überzeugung, die anderen Textfassungen (belief, credo, etc.) können, wie die deutsche, auch weiter verstanden werden.

Der den Rechten der Angehörigen nationaler Minderheiten gewidmete Passus sorgte für Koalitionen quer zu den Blöcken. Jugoslawien, unterstützt von Italien und Österreich, setzte sich für kollektive Minderheitenrechte ein, was außer Rumänien sämtliche Warschauer-Pakt-Staaten ablehnten, aber auch für Frankreich, Spanien, Belgien und andere westliche Staaten nicht akzeptabel war. Der Passus, der den Begriff der Minderheit nicht definiert, ist in seiner endgültigen Fassung mithin nicht sonderlich weitreichend.

Wichtig sollte schließlich der siebte Absatz werden, der das Recht des Individuums bekräftigt, seine Rechte und Pflichten auf dem Gebiet der Menschenrechte zu kennen und auszuüben. Der ursprüngliche Vorschlag des Vereinigten Königreichs hatte die Teilnehmerstaaten auch zur aktiven Bekanntmachung dieser Rechte verpflichten wollen, was allerdings von den Sowjets abgelehnt wurde. Doch auch in der abgeschwächten Form, die schließlich verabschiedet wurde, war der Grundstein für die Bürgerrechtsbewegung in den Staaten Mittel- und Osteuropas gelegt. Eine Berufungsgrundlage existierte nunmehr, die den Regierungen immer wieder in Erinnerung gebracht werden konnte.

Insgesamt macht die Aufnahme des siebten Prinzips die Gleichwertigkeit der Menschenrechte mit anderen Grundwerten der internationalen Zusammenarbeit wie Souveränität und Gewaltverzicht deutlich.

 

8. Achtes Prinzip: Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker

Im Gesamtzusammenhang des KSZE-Prozesses fehlt dem Selbstbestimmungsrecht einerseits die antikoloniale Konnotation der Friendly-Relations-Deklaration. Außerdem hatten einige der Teilnehmerstaaten selbst mit ihren Minderheiten zu tun (etwa Kanada und Jugoslawien), so daß die Konferenz andererseits auch keinen Anlaß hatte, das gegen die bestehenden Staaten gerichtete Selbstbestimmungsrecht zu proklamieren. Dieses Selbstbestimmungsrecht der Staatsvölker bezieht sich auf die – bereits im ersten Prinzip getroffene – Aussage über die innen- und außenpolitische Entscheidungsfreiheit der Staaten.

Die gefundene Formulierung konnte beide Auffassungen zur deutschen Frage abdecken und ließ die vom Westen gewünschte Möglichkeit eines freiwilligen Systemwechsel offen.

 

9. Neuntes Prinzip: Zusammenarbeit zwischen den Staaten

Da die Konferenz die Zusammenarbeit im Namen führt, erschien es selbstverständlich, diese auch zu einem grundlegenden Prinzip der wechselseitigen Beziehungen zu erheben. Dennoch stellte sich die konkrete Formulierung als schwierig heraus. Dies folgt aus den Inhalten der Zusammenarbeit, die in den Körben zwei und drei umschrieben waren.

Während die UdSSR und ihre Verbündeten die Sicherheitsfragen als alleiniges Ziel der Zusammenarbeit ansahen, traten die anderen Teilnehmerstaaten dafür ein, daß auch der Bereich der Menschenrechte hierzu zählen und daß die Zusammenarbeit vor allem auch auf nichtstaatliche Kontakte erweitert werden sollte. Dies wurde dann auch im dritten Absatz zum Ausdruck gebracht.

 

10. Zehntes Prinzip: Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben.

Die Aufnahme des allgemeinen bona fide-Grundsatzes in den Prinzipienkatalog war unproblematisch und ist an der Gestaltung der Friendly-Relations-Deklaration orientiert.

An dieser Stelle soll noch einmal die Rolle der neutralen und blockungebundenen Staaten ("N+N"-Staaten) hervorgehoben werden, die sich während der gesamten Verhandlungen, gerade aber auch bei den Beratungen über die Zehn Prinzipien immer wieder als Mittler und Impulsgeber bewährten.


 

 

VI.

V. Die menschliche Dimension der KSZE/OSZE

 

1. Allgemeines

Im dritten Korb der Schlußakte ist die Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen geregelt; diese wird untergliedert in menschliche Kontakte, Information, Zusammenarbeit und Austausch im bereich der Kultur und schließlich im Bereich der Bildung.

Damit wird klar zum Ausdruck gebracht, daß den Menschen ebenso wie den Regierungen ein wesentlicher Anteil an der Schaffung von Stabilität und Vertrauen auf internationaler Ebene zukommt. Informationsfluß, Austausch von Ideen und Begegnungen von Menschen werden für Stabilität und Sicherheit in Europa als unverzichtbar betrachtet.

 

2. Menschliche Kontakte

Auf diesem Feld wurde zwischen den Blöcken besonders hart gerungen; es gehört zu den hervorragenden Verdiensten der "N+N"-Staaten, insbesondere Österreichs, hier tragfähige Kompromisse ausgelotet und konsensfähige Formulierungen vorgelegt zu haben.

Gerade für die Formulierung der Präambel hat die österreichische Delegation viel geleistet; hier hatte die UdSSR hartnäckig versucht, die Inhalte des dritten Kapitels der Souveränität im allgemeinen und bestimmten Zielen im besonderen unterzuordnen. Dies konnte vermieden werden, wie ein Blick in die Präambel lehrt, die etwa nicht zwischen wertvollen und wertlosen Kontakten und Austauschinhalten unterscheidet.

In subtilen Nuancen stärkt der Text der Präambel das Individuum, wenn etwa in ihrem ersten Absatz von der "geistigen Bereicherung der menschlichen Persönlichkeit" die Rede ist – der Osten hatte hier die geistige Bereicherung der Nationen präferiert, was beispielsweise abstrakte Kunst von der Verbreitung hätte ausschließen können, wenn zuständige Funktionäre diese als abträglich eingestuft hätten.17 

Im einzelnen behandelt die Schlußakte in diesem Kapitel die Punkte familiäre Kontakte, Familienzusammenführung, Eheschließung zwischen Bürgern verschiedener Staaten, Reisen aus persönlichen oder beruflichen Gründen, Sport und Jugendbegegnungen. In detaillierter Form wird all das beschrieben, was Kontakte erleichtert und demzufolge von den Teilnehmerstaaten, die sich diesem Ziel verpflichtet haben, innerstaatlich umzusetzen ist. Vielfach stellt der Text konkrete Maßnahmen in Aussicht, auf die sich die Bürger der Teilnehmerstaaten sollen berufen können.

 

Auf dem Wiener Folgetreffen (1989) wurde im Abschlußdokument18 festgehalten, daß die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der menschlichen Dimension verbessert werden solle. Zu diesem Zweck sollen Informationen ausgetauscht und bilaterale Treffen zur einvernehmlichen Lösung konkreter Situationen und einzelner Fälle durchgeführt werden. Außerdem sollen die Teilnehmerstaaten berechtigt sein, dritte oder alle anderen Teilnehmerstaaten über die zweiseitigen Probleme zu unterrichten.

Um diese Absichten in die Tat umzusetzen, wurde beschlossen, eine eigene Konferenz über die menschliche Dimension einzuberufen. Diese traf in der Folgezeit dreimal zusammen: in Paris (1989), Kopenhagen (1990) und Moskau (1991). Dank der dort geleisteten Vorarbeiten brachte das KSZE-Folgetreffen in Helsinki (1992) eine erkennbare Aufwertung der menschlichen Dimension, die sich gerade auch in der deutlicheren Institutionalisierung zeigt.

Neben dem bereits erwähnten Hohen Kommissar für Nationale Minderheiten mit seinem präventionsorientierten Mandat ist hier das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (= BDIMR / ODIHR) zu nennen. Zunächst als "Büro für freie Wahlen" in Warschau gegründet, hat es Funktionen im Rahmen des Mechanismus der menschlichen Dimension und organisiert alle zwei Jahre Expertentreffen zur Überprüfung der menschenrechtlichen Entwicklung in den Teilnehmerstaaten. Außerdem fungiert es als Koordinierungsstelle für Informationen aus dem menschenrechtlichen Bereich, führt Seminare zu menschenrechtlichen Spezialfragen durch und wird teilweise in die Entsendung von OSZE-Missionen einbezogen.

Der Mechanismus der menschlichen Dimension stellt sicher, daß Menschenrechtsverletzungen rasch durch Experten- und Berichterstattermissionen untersucht und anschließend weitere Schritte unternommen werden können. Im Dokument des Moskauer Treffens wurden auch deutliche Vorgaben für die innere Struktur der Teilnehmerstaaten formuliert: Hier werden freie demokratische Wahlen, Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Gerichte als Vorraussetzungen für einen effektiven Menschenrechtsschutz genannt.

 
 

 
VI. Schlußbetrachtungen
 

Die KSZE hat sich als Dialogforum in der Zeit des Kalten Krieges bewährt und – entgegen den Intentionen der von der UdSSR angeführten Staatengruppe – den tiefgreifenden Wandel in Europa mit herbeigeführt.

Vor allem durch die Aufnahme der GUS-Staaten und ihrer nach dem Verschwinden des "Sowjetmenschen" offenbar gewordenen ethnischen Vielgestaltigkeit ist die Organisation heute mit neuartigen Herausforderungen konfrontiert. Auch die Neuordnung des Balkans hat das Konfliktpotential, das in der Minderheitenproblematik liegt, in dramatischer Weise deutlich gemacht. Hier also, im Bereich von Konfliktprävention und -lösung liegt ebenso eine zukunftsträchtige Aufgabe der OSZE wie in der Begleitung von Transformation und (Wieder-) Aufbau von Demokratie und Rechtsstaat.

Eine solcherart verstandene Sicherheitskonzeption kann dem geographischen Raum von Vancouver bis Wladiwostok einen nicht zu unterschätzenden Stabilitätsrahmen bieten. Besondere Bedeutung wird dabei auch dem Angebot von Koordination und Unterstützung für die anderen europäischen und transatlantischen Organisationen zukommen.

 


Anmerkungen:
 
1 So auch die Analyse von Jost Delbrück, Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – Von Deklamationen über Deklarationen zu einer neuen Sicherheitsordnung in Europa?, in: ders., Die Konstitution des Friedens als Rechtsordnung, 1996, S. 122ff. (128) unter Bezugnahme auf eine Äußerung des seinerzeitigen US-Außenministers Rogers. Der Beitrag wurde erstmals 1974 veröffentlicht.
2 Sigrid Pöllinger, Der KSZE/OSZE-Prozeß, Ein Abschnitt europäischer Friedensgeschichte, 1998, S. 3f.
3 So die Prognose aus dem Jahr 1972 von Jost Delbrück, Modelle eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems, in: ders. (Fn. 1), S. 137ff. (149ff.)
4 Etwa in der Prager Erklärung der Außenminister der Staaten des Warschauer Paktes vom 31. Oktober 1969, in: Europa Archiv 24/1969, D 551.
5 Heute sind es durch die Nachfolgerepubliken der Sowjetunion und die Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei sowie des ehemaligen Jugoslawien (die Bundesrepublik Jugoslawien war von 1992 bis 2000 von der Mitarbeit in den Gremien suspendiert) 55 Teilnehmerstaaten.
6 Pöllinger (Fn. 2), S. 3f.
7 Bulletin der Bundesregierung 1975, S. 965ff.
8 Zu den Abläufen instruktiv Wilfried von Bredow, Der KSZE-Prozeß, 1992, S. 46ff. sowie S. Pöllinger (Fn. 2), S. 28ff.
9 .Bulletin der Bundesregierung 1990, S. 1409.
10 Dazu: Anders Rönquist, The Functions of the OSCE High Commissioner on National Minorities with Special Regard to Conflict Prevention, in: Eckart Klein (ed.), The Institution of a Commissioner for Human Rights and Minorities and the Prevention of Human Rights Violations, 1995, S. 43ff.; Rob Zaagman / Arie Bloed, Die Rolle des Hohen Kommissars der OSZE für nationale Minderheiten bei der Konfliktprävention, in: OSZE-Jahrbuch 1995, 1995, S. 25ff
11 The Foundation on Inter-Ethnic Relations (ed.): The Role of the High Commissioner on National Minorities in OSCE Conflict Prevention, 1997, S. 53ff.
12 Frans Timmermans, Die Konfliktverhütungs-Aktivitäten des Hohen Kommissars für Nationale Minderheiten der OSZE, in: OSZE-Jahrbuch 1996, 1996, S. 405ff.
13 Vom 6. Dezember 1994, Bulletin der Bundesregierung 1994, S. 1097ff. (Ziff. 3).
14 Vgl. dazu: Pöllinger (Fn. 2 ), S. 71f.
15 Vgl. im einzelnen: Pöllinger, (Fn. 2 ), S. 59.
16 GV-Res. 2734 (XXV) vom 16. Dezember 1970, Ziff. 22.
17 So Pöllinger (Fn. 2 ), S. 95.
18 Vom 15. Januar 1989, in: Bulletin der Bundesregierung 1989, S. 77ff.
 
Inhalt Quelle: MenschenRechtsMagazin 3 / 2000 nach oben