Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 8. Juni 2010

Inhalt

Carsten Stahn*:

Der Weltstrafgerichtshof: Ein effektiver neuer Pfeiler im System des internationalen Menschenrechtsschutzes ?

Inhaltsübersicht
I. Die einzelnen Verbrechenstatbestände des Statuts
II. Anforderungen an die Zuständigkeiten des Gerichtshofs
III. Die Stellung des Gerichtshofs in der Staatengemeinschaft
IV. Das Streben nach institutioneller Autonomie
V. Fazit
 

50 Jahre hat es gedauert, bis sich die Staatengemeinschaft nach den Präzedenzfällen von Nürnberg und Tokio1 am 17. Juli 1998 in Rom für die Schaffung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs (im folgenden: Weltstrafgerichtshof oder IntStGH) entschlossen hat.

Die dahinter stehende Grundidee ist einfach: Ist der Machtapparat eines Staates systematisch oder in großem Ausmaße an der Begehung schwerwiegender Menschenrechtsverstöße beteiligt, soll die Aburteilung dieser Verbrechen nicht der staatlichen Gerichtsbarkeit überlassen werden, sondern durch eine internationale Straf-instanz erfolgen, die glaubhaft im Namen der internationalen Gemeinschaft judiziert. Dabei wird ein Unrechtsurteil nicht über das Völkerrechtssubjekt Staat, sondern über die unmittelbar nach Völkerrecht verantwortlichen Individuen gefällt.

Nach dem Ende des Kalten Krieges, der die Realisierung der verschiedenen Kodifikationsarbeiten der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen2 auf diesem Gebiet blockiert hat, war es insbesondere der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der das bereits in der Völkermord-Konvention von 1948 erwähnte Vorhaben einer internationalen Strafgerichtsbarkeit durch die Gründung der beiden ad hoc-Strafgerichtshöfe für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien vorangetrieben hat. Er errichtete die beiden Gerichte als seine Nebenorgane und stützte die Maßnahmen auf eine extensive Deutung von Kap.VII der Satzung der Vereinten Nationen.3

Auf Dauer stellt die internationale ad hoc-Strafgerichtsbarkeit aber nur eine Notlösung dar, die sich dem Vorwurf selektiver Gerechtigkeit nicht verschließen kann. Dem soll durch die Schaffung einer ständigen internationalen Strafinstanz entgegengewirkt werden, deren Grundlage durch die Annahme des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs ("Rome Statute of the International Criminal Court"4 auf der Staatenkonferenz in Rom gelegt wurde.

Ein erster Verdienst des Statuts von Rom ist darin zu sehen, daß es auf der Grundlage eines multilateralen Vertrags beruht, der - anders als Resolutionen des UN-Sicherheitsrats - nicht nur von dem Willen einiger handverlesener Staaten getragen ist, sondern durch die Mindestvorgabe von 60 Vertragsparteien die nötige Anerkennung der internationalen Gemeinschaft aufweist. Das ist deshalb von großer Bedeutung, da der Gerichtshof nach Abs. 4 der Präambel und Art. 1 des Statuts mit der Wahrung von Werten betraut ist, die als Ausdruck einer internationalen Moral und Sittlichkeit empfunden werden.5

Inhaltlich weisen die völkerrechtlichen Straftatbestände des Statuts eine Doppelfunktion auf. Zum einen sind sie repressive Sanktionsmechanismen, die durch die Bestrafung der Übeltäter einen Beitrag zur Herstellung eines gerechten Friedens leisten sollen; gleichzeitig entfalten sie abschreckende Wirkung, um die Einhaltung eines von der internationalen Gemeinschaft gebilligten Mindeststandards an Humanität zu sichern. Dem Schutz der Menschenrechte dienen sie dabei vor allem in Ausnahmesituationen, die durch den Zerfall vorhandener Staatsstrukturen oder den Mißbrauch zentrierter Machtpositionen gekennzeichnet sind. Das zeigt sich insbesondere an der Auswahl der Delikte, für die der IntStGH nach Art. 5 des Statuts zuständig ist. 

 

II.
I. Die einzelnen Verbrechenstatbestände des Statuts
 

Es sind die drei klassischen Tatbestände, die sich auch im Statut der beiden ad hoc-Strafgerichtshöfe wiederfinden: Völ-kermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Das Verbrechen der Aggression wurde vorbehaltlich einer späteren Definition aufgenommen. Alle Delikte stehen mehr oder weniger im Kontext der Wahrung des Weltfriedens. Die Bereiche Terrorismus und Bekämpfung der Drogenkriminalität (sog. "treaty-based crimes"6 ), die aus dem Kontext bewaffneter Konflikte herausfallen und mehr in die Richtung von Integration und Verlust klassischer Hoheitsgewalt weisen, haben zwar in einer Entschließung im Anhang des Statuts Erwähnung gefunden7

, wurden aber noch nicht zum Gegenstand einer zentralisierten internationalen Strafverfolgung gemacht.

Offensichtlich ist der enge Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenrechte zunächst einmal beim Tatbestand des Völkermords (Art. 6), der wortwörtlich Art. II der Völkermord-Konvention entnommen ist und fester Bestandteil des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts bildet. Er verbürgt das Existenzrecht nationaler, rassischer, religiöser und ethnischer Gruppen, welches Grundaxiom einer auf das Zusammenleben von Menschen zugeschnittenen Werteordnung ist.

Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7) steht den allgemeinen Menschenrechtsinstrumenten am nächsten. Tathandlungen wie vorsätzliche Tötung, Folter, Vergewaltigung oder ungerechtfertigte Inhaftierung sind häufig Gegenstand der klassischen Menschenrechtsrechtsprechung. Damit sich ihre Begehung jedoch als völkerrechtliches Verbrechen darstellt, das individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit nach sich zieht, müssen besondere Umstände vorliegen.

Im Einklang mit der Rechtsprechung des Jugoslawien-Tribunals im Tadic-Fall8  

sieht die Eingangsformulierung in Art. 7 Abs. 1 des Statuts nun vor, daß die einzelnen Verbrechenstatbestände an der Zivilbevölkerung begangen werden müssen und entweder den Rahmen einer größeren Verfolgungssituation ("widespread attack") oder aber eine systematische, d.h. planmäßige Begehung ("systematic attack") voraussetzen. Die weitere Voraussetzung von Art. 6 lit. (c) des Statuts des Nürnberger Militärgerichtshofs, wonach Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor oder während eines Krieges ("before or during war") begangen werden müssen, wurde in Rom erfreulicherweise aufgegeben.

Was den Katalog der Tathandlungen anbelangt, ist das Statut außerordentlich modern. Mit Tatbeständen wie dem Verschwindenlassen von Personen ("forced dissapearance of persons") oder der erzwungenen Schwangerschaft ("forced pregnancy") knüpft es an Phänomene an, die sich erst jüngst in die traurige Reihe der Menschenrechtsverletzungen eingereiht haben.9

Bemerkenswert ist, daß die Folterdefinition des Statuts nicht nur auf staatliche Handlungen beschränkt ist, sondern ihrem Wortlaut nach auch die Akte krimineller Organisationen abdeckt. Damit weicht sie von Art. 1 der UN-Folterkonvention ab, die wegen dieser Beschränkung vielfach kritisiert wurde.

Am schwierigsten erwiesen sich in Rom die Verhandlungen über die einzelnen Kriegsverbrechen (Art. 8), die in das Statut aufgenommen werden sollten. Auch diese Vorschriften dienen dem Schutz der Menschenrechte, und zwar in der speziellen Situation bewaffneter Konflikte. Das Statut unterscheidet internationale und nicht-internationale Konflikte.

Im Bereich internationaler Konflikte besteht eine individuelle Strafbarkeit unbestrittenermaßen für die "schweren Verletzungen" (grave breaches) der vier Genfer Rotkreuz-Abkommen vom 12. 8. 194910 (im folgenden: die vier Genfer Konventionen) und des Zusatzprotokolls I über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 12. 12. 197711 

(im folgenden ZP I). Sie finden sich im wesentlichen in Art. 8 Abs. 2 lit (a) u. (b) des Statuts. Ergänzt werden sie durch eine Reihe weiterer Vorschriften, die der Haager Landkriegsordnung vom 18. Oktober 1907 oder dem ZP I entnommen sind.

Aus menschenrechtlicher Hinsicht ist die Bestimmung über Sexualverbrechen interessant, die nun als selbständiger Tatbestand geregelt sind und auch Gewaltformen wie sexuelle Sklaverei, erzwungene Schwangerschaft und Sterilisation umfassen. Dem Schutz von Kindern unter 15 Jahren wird durch ein Rekrutierungsverbot Rechnung getragen, das an Art. 77 Abs. 2 ZP I sowie Art. 38 Abs. 2 u. 3 der Kinderrechte-Konvention angelehnt ist. In der Frage der verbotenen Waffen hält sich das Statut bedeckt. Eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für den Einsatz von biologischen, chemischen oder Nuklearwaffen ist nicht ausdrücklich vorgesehen. Sollte es tatsächlich soweit kommen, müssen die Richter auf die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung bzw. des Genfer Giftgasprotokolls von 1925 zurückgreifen.

Als Fortschritt ist die - bis zuletzt heftige umstrittene - Entscheidung zu werten, in Art. 8 Abs. 2 lit (c) und (e) auch schwerwiegende Verletzungen des Kriegsrechts in innerstaatlichen Konflikten strafrechtlich zu sanktionieren. Denn das einschlägige Zusatzprotokoll II zu den vier Genfer Konventionen, das dem Schutz der Opfer nicht-internationaler bewaffneter Konflikte dient, legt an keiner Stelle fest, daß Verstöße gegen diese Schutzgarantien strafrechtlich zu ahnden seien.

Doch auch hier hat sich die Entscheidung der Berufungskammer des Jugoslawien-Tribunals im Tadic-Fall als wichtiger Vorläufer erwiesen.12  Bedauerlich ist dennoch, daß der Anwendungsbereich der Kriegsverbrechen ganz allgemein eingeschränkt wurde. Erfaßt werden nach der Eingangsformulierung in Art. 8 Abs. 1 insbesondere solche Handlungen, die als Teil eines Plans oder einer Politik oder in massiver Art und Weise begangen werden. Eine entsprechende Schwellenklausel war im humanitären Völkerrecht bisher nicht vorgesehen 

 

III.
II. Anforderungen an die Zuständigkeit des Gerichtshofs
 

Ist der Gerichtshof durch die Straftatbestände des Statuts eng in den Schutz der Menschenrechte in besonderen Konfliktlagen eingebunden, stellt sich die weitergehende Frage, ob er diese Kompetenzen auch effektiv wahrnehmen kann. Anlaß zu Zweifeln gibt Art. 12 des Statuts, der ein mehrstufiges System zur Begründung der Zuständigkeit regelt.

Positiv ist die Regelung des Art. 12 Abs. 1 zu vermerken, wonach die Ratifikation des Statuts bzw. der Vertragsbeitritt automatisch die Unterwerfung des betreffenden Staates unter die Gerichtsbarkeit des Weltstrafgerichtshofs bewirkt (sog. automatic jurisdiction).

Auf Drängen der vielen Befürworter eines effektiven Gerichtshofs wurde dem souveränitäts-freundlichen Modell einer Gerichtsbarkeit "à la carte" (sog. Opt-in-Regime) eine klare Absage erteilt. Danach hätte es jeder Vertragsstaat - ähnlich wie im Fall von Art. 36 IGH-Statut - in der Hand gehabt, die Anerkennung der Zuständigkeit auf eine begrenzte Zeitspanne oder bestimmte Verbrechenstatbestände zu reduzieren. Ein Restbestand dieses Regelungsvorschlags findet sich noch in Art. 114 des Statuts. Danach kann ein Vertragsstaat die Zuständigkeit des Gerichts im Bereich der Kriegsverbrechen für 7 Jahre ausschließen (sog. Opt-out-Regime).

Der Schwachpunkt des Statuts liegt darin, daß die Strafverfolgung durch den Gerichtshof als Anknüpfungspunkt die Zustimmung von Staaten mit einem gewissen Näheverhältnis zur Tat voraussetzt.

Der für das Völkerrecht erfreulichste Ansatz wäre eine Übertragung der universellen Gerichtsbarkeit nationaler Gerichte13

auf den IntStGH gewesen, was zur Folge gehabt hätte, daß dieser für alle der in Frage stehenden Delikte stellvertretend für die gesamte Staatengemeinschaft tätig werden könnte (sog. universal jurisdiction). Doch dieser Vorschlag, der auf eine Initiative Deutschlands zurückgeht, konnte sich in Rom nicht durchsetzen.

Statt dessen sieht Art. 12 Abs. 2 des Statuts vor, daß entweder der Territorialstaat, d.h. der Staat, auf dessen Gebiet die Straftaten verübt wurden, oder der Heimatstaat des Angeklagten die Zuständigkeit des Gerichtshof akzeptiert haben muß. Dies ist problemlos der Fall, wenn der entsprechende Staat Vertragspartei ist. Ansonsten kann eine Zustimmungserklärung nach Art. 12 Abs. 3 ad hoc abgegeben werden.

Die schmerzliche Konsequenz dieser Regelung ist, daß im Ernstfall nur die Verbrechen vom Gerichtshof abgeurteilt werden können, die sich auf dem Staatsgebiet von Vertragsstaaten des Statuts abgespielt haben. Innerstaatliche Konflikte in Nichtvertragsstaaten fallen grundsätzlich nicht in die Zuständigkeit des IntStGH. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn der Weltsicherheitsrat eine Ländersituation durch eine verbindliche Resolution nach Kap.VII der UN-Charta an den Gerichtshof überweist.14 Doch darauf ist kein Verlaß. Sträubt sich ein ständiges Ratsmitglied durch Ausübung des Vetorechts gegen die Befassung des Gerichtshofs, muß dieser untätig bleiben.

Anders wäre es gewesen, wenn sich am letzten Verhandlungstag in Rom der von 79% der anwesenden Staaten befürwortete Korea-Vorschlag.15 durchgesetzt hätte, wonach als Anknüpfungspunkt die Zustimmung des Gewahrsamsstaates ausgereicht hätte. Zumindest bei Verlassen des Tatorts hätten die Täter dann vor den IntStGH gebracht werden können.)  

 

IV.
III. Die Stellung des Gerichtshofs in der Staatengemeinschaft
 

Eine weitere Einschränkung der Kompetenzen des Gerichtshofs ergibt sich daraus, daß er bei seiner Tätigkeit in die Struktur der internationalen Gemeinschaft eingebettet ist, in der den Staaten sowie dem UN-Sicherheitsrat eine herausragende Rolle zukommt.

Wie § 220a i.V.m. § 6 Abs. 1 StGB veranschaulicht, kann die Verfolgung völkerstrafrechtlicher Tatbestände auch dezentralisiert, d.h. durch nationale Gerichtsorgane erfolgen. Oft bietet sich dies aufgrund der effektiveren Strafverfolgungsmöglichkeiten sogar an. Diese nationale Strafjustiz im Bereich des Völkerstrafrechts soll der IntStGH nicht ersetzen, sondern nur ergänzen.

Seine Gerichtsbarkeit beruht auf dem grundlegenden Prinzip der Komplementarität, das dem Statut als Leitsatz in Abs. 10 der Präambel sowie in Art. 1 vorangestellt ist. Es beinhaltet mehrere Aussagen. Zunächst einmal legt es den Grundsatz fest, daß der Gerichtshof nur für die schwersten Verbrechen von internationaler Bedeutung zuständig ist. Durch Verankerung dieser Mindestschwelle ist insbesondere gewährleistet, daß handlungsbereiten Staaten durch die Androhung von Strafmaßnahmen nicht von vornherein der Anreiz genommen wird, sich in Konfliktsituationen zu engagieren.

Die wichtigste inhaltliche Aussage ergibt sich aus Art. 17 Abs. 1. Danach darf der Gerichtshof überhaupt nur dann tätig werden, wenn die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte unfähig oder nicht willens sind ("unwilling or unable genuinely"), die Tat angemessen zu verfolgen. Die eng begrenzten Fallgruppen, in denen der IntStGH zuständig ist, sind in Art. 17 Abs. 2 u. 3 näher ausgeführt. Im wesentlichen handelt es die um die Fälle des Zusammenbruchs der Staatsstrukturen ("failed state") oder des Rechtsmißbrauchs, der sich u.a. in der Verschleppung des Verfahrens oder der offensichtlich mangelnden Sanktionsabsicht manifestieren kann. Obwohl dies nicht ausdrücklich im Statut geregelt ist, wird man annehmen können, daß kooperationsfreundlichen Staaten die Möglichkeit offensteht, auf den Einwand der Komplementarität zu verzichten und dem Gerichtshof die Rechtssache freiwillig zu überlassen.16

Zu einer Überlagerung der Verantwortungsbereiche kann es auch im Verhältnis von IntStGH und UN-Sicherheitsrat kommen. Delikte, wie sie das Statut voraussetzt, fallen typischerweise mit Situationen zusammen, die sich als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit i.S.v. Kap. VII der UN-Charta darstellen. Unter solchen Umständen kann es der Primat der Politik verlangen, das Streben nach Gerechtigkeit und Strafe dem generellen Bedürfnis nach Frieden unterzuordnen. Darum verfügt der Sicherheitsrat nach Art. 16 des Statuts über die Möglichkeit, die Aufnahme und Durchführung von Ermittlungen für 12 Monate auszusetzen. Von besonderem Nutzen kann dies etwa sein, wenn man die Hauptverantwortlichen eines Konflikts zur Einleitung des Friedensprozesses benötigt.

Bemerkenswert ist die Art und Weise, in der die Sperrwirkung ausgelöst wird. Sie tritt nicht etwa automatisch dadurch ein, daß sich der Sicherheitsrat mit einer Situation befaßt, sondern setzt eine verbindliche Anweisung durch eine Resolution nach Kap. VII voraus.

Diese Regelung bezweckt, das Vetorecht der fünf ständigen Ratsmitglieder bei der Verfahrenssperre aus dem Spiel zu lassen. Denn muß der Rat an den Gerichtshof herantreten, um die Sperrwirkung zu begründen, liegt die Entscheidung über deren Herbeiführung bei dem Rat als Kollektivorgan. Wäre umgekehrt eine Sicherheitsratsresolution notwendig gewesen, um die Aufhebung der Sperre zu bewirken, hätte es ein einziger Staat (wie die USA z.B.) in der Hand gehabt, verbindlich über das Schicksal des Verfahrens zu entscheiden. Und gerade diese Folge sollte vermieden werden. Dennoch bleibt auch hier eine Einschränkung, die nachdenklich stimmt: Die 12monatige Verfahrenssperre ist unbegrenzte Male wiederholbar.

 

 
V.
IV. Das Streben nach institutioneller Autonomie
 

Trotz des Vorrangs staatlicher Strafverfolgung und der Eingebundenheit des Gerichtshofs in den Zuständigkeitsbereich des Sicherheitsrats hat man sich in Rom bemüht, dem Gericht die Unabhängigkeit einzuräumen, die es als unparteiische Strafinstanz der internationalen Gemeinschaft benötigt. Erfolge wurden insbesondere im Bereich der Verfahrenseinleitung erzielt. Bedeutsam ist zunächst einmal, daß der Staatsanwaltschaft (Prosecutor) in einem Anklageverfahren nicht konkrete Taten oder Personen vorgegeben werden, sondern Situationen anhängig gemacht werden müssen. Die oft von politischen Erwägungen getragene Entscheidung, gegen wen und für welche Tatbestände Ermittlungen eingeleitet werden, trifft die Staatsanwaltschaft dann selbst.

Eine der größten Errungenschaften der Rom-Konferenz sind die ex officio-Befugnisse der Staatsanwaltschaft. Nach Art. 13 lit (c) i.V.m. Art. 15 kann sie Ermittlungsverfahren proprio motu, d.h. ohne vorheriges Tätigwerden der Vertragsparteien oder des Sicherheitsrats einleiten. Dadurch hat die internationale Gemeinschaft ein Organ gewonnen, das für die Opfer auch dann eintreten kann, wenn Staaten davor aus politischen Eigeninteressen zurückschrecken. Ganz unwahrscheinlich ist dies nicht. Denn oft wird mit der Anklage bestimmter Drahtzieher zugleich ein Unrechtsurteil über einen ganzen Staatsapparat gesprochen. Und eine solche Anschuldigung nimmt kein Staat gerne auf sich. Der geringe Gebrauch des Mechanismus der Staatenbeschwerde in den einschlägigen Menschenrechtsinstrumenten belegt diese Aussage.

Trotz aller Euphorie ist auch hier Vorsicht vor zu großem Optimismus geboten. Da enormer politischer Druck auf der Person des Generalstaatsanwalts lasten wird, überprüft die Vorverfahrensinstanz (Pre-Trial chamber) nach Art. 15 Abs. 4 des Statuts, ob die Aufnahme der Ermittlungen auf ausreichendem Faktenmaterial beruht. Ist diese Hürde überwunden, können die zuständigen Staaten die Ermittlungen nach Art. 18 Abs. 2 des Statuts einen Monat später dadurch an sich ziehen, daß sie selbst Untersuchungen einleiten. Dagegen kann sich die Staatsanwaltschaft nur durch erneute Einschaltung der Vorverfahrenskammer und gegebenenfalls durch Anrufung der Berufungsinstanz wehren. Dieser langwierige Prozeß birgt die Gefahr in sich, daß es bereits zu einem frühen Zeitpunkt zu einer Verschleppung oder Blockierung des Verfahrens kommt.

 

 
 
V. Fazit
 

Insgesamt zeigt sich, daß das Statut von seinem Anwendungsbereich ratione materiae her auf einen effektiven Menschenrechtsschutz in Situationen zugeschnitten ist, in denen die nationale Rechtsordnung nicht mehr Herr der Lage ist oder die Machthaber selbst zu Verbrechern geworden sind. Sogar für die Straftaten im eigenen Land müssen sich die Verantwortlichen vor dem Gerichtshof rechtfertigen. Das ist eine für das materielle Völkerstrafrecht höchst erfreuliche Entwicklung.

Geht es jedoch um die konkrete Umsetzung dieser Kompetenzen, muß das Urteil bescheidener ausfallen. Positive Ansätze in Richtung einer unabhängigen und effektiven internationalen Strafjustiz sind zwar in vielerlei Hinsicht vorhanden. Zur Geltung kommen sie aber nicht universell, sondern nur zwischen den Vertragsparteien. Strafbarkeitslücken bestehen dann, wenn die Taten auf dem Territorium von Nichtvertragsparteien begangen werden oder die Täter dorthin fliehen.

Dem kann nur durch eine große Zahl an Vertragsstaaten entgegengewirkt werden. Insofern ist das Erfordernis von 60 Ratifikationen, die für das Inkrafttreten des Statuts erforderlich sind, nicht unglücklich gewählt. Ansonsten hängt der Erfolg zu einem großen Teil von der Kooperation und dem guten Willen der Staaten ab. Entscheidend wird insbesondere sein, ob der UN-Sicherheitsrat sich dazu entscheidet, seine weitgehenden Befugnisse im Sinne der Gerichtsbarkeit des IntStGH auszuüben.



Anmerkungen:
 
* Maître en droit, Mitarbeiter am Institut für Völker- und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin.
1 Vgl. dazu: C. Tomuschat, Von Nürnberg nach Den Haag, Die Friedenswarte 70 (1995), S. 143 ff.
2 Dazu gehören der Entwurf eines Strafgesetzbuchs der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit, in der Fassung von Juli 1996 abgedruckt in: Human Rights Law Johttp://nbn-resolving.de/urnal 1997, S. 96 ff. sowie der Statutentwurf eines Internationalen Strafgerichtshofs, Report of the International Law Commission on the work of its forty-sixth session, 2 May-22 July 1994, General Assembly Official Records, 49th Session, Supp. No. 10 (A/49/10), S. 43. Vgl. dazu J. Crawford, "The ILC’s Draft Statute for an International Criminal Tribunal", in: AJIL 88 (1995), S.140 ff.
3 Mittlerweile hat sowohl die Berufungskammer des Jugoslawien-Tribunals als auch die 2. Strafkammer des Strafgerichts für Ruanda die Rechtmäßigkeit der Errichtung bestätigt. Vgl. Prosecutor v. Tadic, Decision on the Defence Motion for Interlocutary Appeal, Case No. IT-94-1-AR72, Urteil vom 2. Oktober 1995, in: I.L.M. 35 (1996), S. 32 ff., para. 32-40, sowie Prosecutor v. Kanyabashi, ICTR-96-15-T, S. 5 ff., besprochen von V. Morris, in: AJIL 1998, S. 67 ff.
4 Das Statut ist auf der Homepage der Vereinten Nationen unter folgender Adresse zugänglich: http://www.un.org/icc. Dagegen stimmten u.a. die USA, Israel, Katar und Mikronesien. Vgl. dazu auch: A. Zimmermann, Die Schaffung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs, in: ZaöRV 1998, S. 47 ff, K. Ambos, Der neue Internationale Strafgerichtshof, in: Entwicklung und Zusammenarbeit Jg. 39, Heft September 1998, S. 224 ff. Vorab sei auf das demnächst erscheinende Sonderheft des European Johttp://nbn-resolving.de/urnal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 4/1998 hingewiesen sowie auf den Beitrag von G. Seidel/C. Stahn, Das Statut des Weltstrafgerichtshofs, voraussichtlich in Jura, Heft 12/1998.
5 Das ergibt sich aus der Formulierung "most serious crimes of concern to the international community as a whole", die die Zuständigkeit des Gerichtshofs umschreibt.
6 Der Terminus hat seinen Ursprung in Art. 20 lit (e) des ILC Draft Statute, wo für diese beiden Bereiche auf die "treaty provisions" verwiesen wird, die im Annex aufgelistet sind.
7 Dort ist klargestellt, daß die Verhandlungen über diese Tatbestände im Rahmen einer Revisionskonferenz fortgeführt werden sollen.
8 Dort heißt es: "it is now well established that the requirement that the acts be directed against a civilian ‘population’ can be fullfilled if the acts occur on either a widespread basis or in a systematic manner." Vgl. The Prosecutor v. Tadic, Case No. IT-94-1-T, Urteil vom 7. Mai 1997, abgedruckt in: I.L.M. 36 (1997), para. 646, S. 942.
9 Vergewaltigungen zum Zweck der Auslöschung der ethnischen Identität der gezeugten Kinder zählen zu den typischen Erscheinungsformen des Konflikts in Bosnien-Herzegowina. Das Verschwindenlassen von Personen ohne Benachrichtigung der Angehörigen ist insbesondere aus Lateinamerika bekannt. Ein entsprechendes Abkommen dagegen, die Interamerikanische Konvention über das Verschwindenlassen von Personen, ist erst 1996 in Kraft getreten.
10 Vgl. Art. 49 des 1. Genfer Abkommens, Art. 50 des 2. Genfer Abkommens, Art. 129 des 3. Genfer Abkommen sowie Art. 146 des 4. Genfer Abkommens.
11 Vgl. Art. 85 Abs. 3 u. 4 des ZP I.
12 Vgl. Prosecutor v. Tadic, Decision on the Defence Motion for Interlocutory Appeal, Urteil vom 2. Okt. 1995, in: I.L.M. 35 (1996), S. 32, (71), para. 134, wo es heißt: "All of these factors confirm that customary international law imposes criminal liability for serious violations of Common Article 3, as supplemented by other general principles and rules on the protection of victims of internal armed conflict, and for breaching certain fundamental principles and rules regarding means of combat in civil strife."
13 Vgl. zum Nachweis der entsprechenden Staatenpraxis: A. Zimmermann, (Anm. 4), S. 85-92.
14 Vgl. Art. 13 lit. (b) des Statuts.
15 Dieser sah die Zuständigkeit des Gerichtshofs bereits für den Fall vor, daß der Tatort-, Täter-, Opfer- oder Gewahrsamsstaat Vertragspartei ist bzw. ad hoc zustimmt.
16 In diesem Sinne: A. Zimmermann, (Anm. 4), S. 97 Anm. 249.
 
Quelle: MenschenRechtsMagazin 3/98

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