Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 8. Juni 2010

Inhalt

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Urteile des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte gegen Deutschland
- Teil 5*

Aufbereitung von Friederike Brinkmeier:

Waite & Kennedy ./. Deutschland

Urteil vom 18. November 19991 

 
Zusammenfassung (nicht-amtliche Leitsätze):
  1. Bei der Gewährung von Immunität an Internationale Organisationen sind Staaten an ihre Pflichten und Verantwortungen nach der Konvention gebunden. Da Immunität zur Einschränkung des Rechts aus Art. 6 Abs. 1 EMRK führt, ist ein solches staatliches Handeln an den Maßstäben der Konvention unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu prüfen.

  2. Das Einräumen von Privilegien und Immunitäten dient dazu, das ordnungsgemäße Funktionieren internationaler Organisationen unbeeinflußt von einseitigen Eingriffen einzelner Staaten zu gewährleisten. Diese Praxis gewinnt im Hinblick auf die wachsende und verstärkte internationale Kooperation auf allen Gebieten der modernen Gesellschaft immer mehr an Bedeutung.

  3. Vor diesem Hintergrund betrachtet, verfolgt die der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA2 zuerkannte gerichtliche Immunität grundsätzlich ein legitimes Ziel.

  4. Die Gewährung von Immunität ist im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 EMRK eine verhältnismäßige Maßnahme, da den im konkreten Fall Betroffenen vernünftige alternative Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer privatrechtlichen Ansprüche zur Verfügung stehen.

 

Sachverhalt

Die Beschwerdeführer sind britische Staatsangehörige, die in der Bundesrepublik Deutschland leben.

Sie sind Systemprogrammierer und waren beim britischen Unternehmen CDP beschäftigt. 1977 wurden sie der ESA von ihrem Arbeitgeber für Arbeiten am European Space Operations Centre zur Verfügung gestellt, welches die ESA in Darmstadt betreibt. Die ESA mit ihrem Hauptsitz in Paris wurde im Jahr 1995 durch den ESA-Vertrag vom 30. Mai 1975 errichtet und löste die Vorgängerorganisationen ESRO3 und ELDO4 ab.

Im Jahre 1990 wurden die Beschwerdeführer von der CDP informiert, daß ihre Verträge nicht erneuert würden.

Daraufhin verklagten sie die ESA vor dem Arbeitsgericht Darmstadt auf Feststellung, daß sie den Status von Arbeitnehmern der ESA erlangt hätten.

Sie trugen vor, daß sie gemäß dem deutschen Arbeitnehmerüberlassungsgesetz den Status von Arbeitnehmern der ESA erlangt und daher die Beendigung der Vertragsverhältnisse mit der CDP keine Auswirkungen auf ihre Dienstverhältnisse mit der ESA hätten.

Die ESA wandte demgegenüber ihre Immunität als internationale Organisation gem. Art. XV (2) ESA-Konvention5 und ihrer Anlage I, Art. VI (1)(a)6 ein.

Das Arbeitsgericht wies die Klagen gem. § 20 Abs. 2 GVG als unzulässig ab. In der Begründung wurde angeführt, daß die ESA eine unabhängige, internationale Organisation sei, welche aufgrund eines internationalen Abkommens gegründet worden und der darin auch wirksam gerichtliche Immunität eingeräumt worden sei.

Sowohl die Berufung vor dem Landesarbeitsgericht als auch die Revision vor dem Bundesarbeitsgericht blieben erfolglos. Die Gerichte konnten insbesondere auch keine Verletzung des Art. 19 VI GG feststellen, da die ESA keine deutsche öffentliche Gewalt ausübe und ihr Handeln auch nicht dem Staat zuzurechnen sei. Außerdem hätten den Klägern andere, innerorganisatorische Möglichkeiten der Rechtsverfolgung zur Verfügung gestanden.

Am 11. Mai 1994 lehnte das Bundesverfassungsgericht die Annahme der von den Beschwerdeführern erhobenen Verfassungsbeschwerde mangels Erfolgsaussichten ab.

Verfahren vor der Kommission und Gerichtshof

Am 24. November 1994 legten die Beschwerdeführer gem. Art. 25 EMRK a.F. (heute Art. 34) Individualbeschwerde gestützt auf eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK gegen die Bundesrepublik Deutschland ein. Diese wurde durch die Europäische Kommission für Menschenrechte angenommen, aber als unbegründet zurückgewiesen.

Am 16. März 1998 wurde die Beschwerde gem. Art. 32 § 1 und Art. 47 EMRK a.F. an den Gerichtshof in der damaligen Zusammensetzung weitergeleitet.

Nachdem am 1. November 1998 das 11. Zusatzprotokoll7 zur EMRK in Kraft getreten war, wurde die Sache an die Große Kammer (17 Richter) des Gerichtshof verwiesen, welcher ex officio der gewählte nationale Richter G. Ress angehört.

Aufgrund der besonderen prozessualen Situation war Richter G. Ress, der bei der vorangegangenen Entscheidung der Kommission über die Beschwerde mitgewirkt hatte, gem. Art. 28 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs8 ausgeschlossen.

Die Regierung Deutschlands benannte daraufhin gem. Art. 27 Abs. 2 EMRK und Art. 29 § 1 Verfahrensordnung für das Verfahren in der Großen Kammer Prof. Dr. E. Klein als Richter ad hoc.

In der mündlichen Verhandlung beantragten die Beschwerdeführer festzustellen, daß ihre Rechte aus Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt seien, und daß ihnen eine gerechte Entschädigung nach Art. 41 EMRK zu zahlen sei.

Sie rügten, daß ihre vor den nationalen Gerichten erhobenen Klagen allein wegen fehlender Jurisdiktionskompetenz abgewiesen worden seien und keinerlei Prüfung ihrer materiellen Rechte aus dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz stattgefunden habe. Sie waren der Auffassung, nicht in billiger Weise öffentlich von einem Gericht gehört worden zu sein. Das in Art. 6 Abs. 1 EMRK verbriefte Recht auf ein faires Verfahren umfasse insoweit auch die Beschäftigung mit inhaltlichen Fragen und den Erfolgsaussichten ihrer geltend gemachten Ansprüche. Individualrechte müßten insoweit Vorrang vor einem lediglich prozessualen Institut der Immunität genießen.

Die Prozeßvertreter der Regierung trugen demgegenüber vor, daß die Klage der Beschwerdeführer in drei Instanzen der nationalen Gerichtsbarkeit zumindest auf die Zulässigkeit geprüft worden sei. Die Abweisung der Klage aufgrund der festgestellten Immunität der beklagten Organisation sei auch konventionskonform, da die Gewährung von Immunität an internationale Organisationen grundsätzlich ein legitimes Ziel verfolge.

Die Regierung beantragte daher festzustellen, daß keine Verletzung des Art. 6 EMRK vorliege.


A. Zulässigkeit der Klage

Die Zulässigkeit der Beschwerde ist im vorliegenden Fall unproblematisch zu bejahen.

B. Begründetheit der Klage

Die Klage ist begründet, wenn die Immunitätsgewährung an die ESA dazu führt, daß den Beschwerdeführern kein ausreichender gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung steht und so zu der Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland aus Art. 6 Abs. 1 EMRK in Widerspruch steht.

I. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Art. 6 Abs. 1 EMRK in der hier einschlägigen Fassung lautet:

"Jede Person hat ein Recht darauf, daß über Streitigkeiten in bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen [...] von einem unabhängigen [...] Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich [...] verhandelt wird."

1. Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Der Gerichtshof bestätigt seine ständige Rechtsprechung,9 daß es sich bei dem von den Beschwerdeführern gerügten arbeitsgerichtlichen Verfahren um die Entscheidung über "zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" handele.

2. Vereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 EMRK

a) Zugang zum Gericht

Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährt jedermann das Recht auf Zugang zu einem Gericht und darauf, vor diesem in billiger Weise rechtliches Gehör zu finden.

In den von den Beschwerdeführern gerügten Verfahren vor den deutschen Arbeitsgerichten wurde ausschließlich über die Frage entschieden, ob die ESA sich auf gerichtliche Immunität berufen konnte.

"54. Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofes, die nationale Rechtsprechung zu ersetzen. [...]Allein die nationalen Gerichte haben die Gesetze auszulegen. [...] Der Gerichtshof hat zu prüfen, ob die Auswirkungen der nationalen Rechtsprechung mit der Konvention vereinbar sind."10

Der Gerichthof prüft insoweit allein, ob die nationalen Gerichte durch die Auslegung des § 20 Abs. 2 GVG und der Immunitätsvorschriften gegen das Willkürverbot verstoßen.

"57. In Anbetracht der erschöpfenden Regelungen in Annex I der ESA Konvention [...] sind die gerichtlichen Begründungen zur positiven Feststellung der Immuntiät nicht als willkürlich zu betrachten."

b) Beschränkungen

Der Gerichtshof beschäftigt sich daher mit der Frage, ob die in drei Instanzen erfolgte ausschließliche Prüfung der prozessualen Bedeutung der Immunität den Maßstäben des Art. 6 Abs. 1 EMRK genügt:

"58. Der Gerichthof muß also weiter untersuchen, ob diese Art des Zugangs zum Gericht, also eine auf eine reine Vorfrage beschränkte Prüfung, den Ansprüchen der Beschwerdeführer aus Art. 6 Abs. 1 EMRK genügt [...]."11

"59. Das Recht auf Zugang zu einem Gericht ist nicht absolut, sondern unterliegt inhärenten Schranken. Diese Einschränkungsmöglichkeit folgt aus der Natur des Prozeßrechtes selbst, welches durch den Staat eine einheitliche Regelung erfahren muß. Bei der Ausgestaltung dieses Rechtes genießen die Staaten einen gewissen Ermessenspielraum, welcher durch den Gerichtshof anhand der Maßstäbe der Konvention überprüfbar ist."12

Die Beschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht durch das auf Immunität bezugnehmende Prozeßrecht ist also nicht grundsätzlich konventionswidrig.

c) Grenzen des staatlichen Ermessens

Die Befugnisse zur Einschränkung und der staatliche Ermessenspielraum finden ihre Grenzen im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Der Gerichtshof prüft die Verhältnismäßigkeit anhand folgender Kriterien:13

aa) Im konkreten Fall hatten die Beschwerdeführer die Möglichkeit, in drei Instanzen rechtlich vorzutragen. Der Kerngehalt des Rechts aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ist demnach nicht berührt. Ein déni de justice liegt nicht vor.

bb) Die staatliche Befugnis, internationalen Organisationen Privilegien und Immunität zu gewähren, ist ein von Staaten traditionell und allgemein anerkanntes Prinzip. Hinsichtlich der Anerkennung von Immunität geht der Gerichthof mit völkerrechtlichen Grundsätzen und Völkergewohnheitsrecht konform. Er stellt in diesem Zusammenhang aber ausdrücklich fest, daß die Staaten im Rahmen der diesbezüglichen internationalen Tätigkeiten nicht von den Verpflichtungen nach der Konvention befreit sind. Die Konvention garantiert auch insoweit effektive Rechte.14  

Die Immunitätsregelungen haben zum Ziel, die Funktionsfähigkeit und die sich in der modernen Welt immer weiter ausdehnenden internationalen Tätigkeiten solcher Organisationen nicht durch einseitige Eingriffe von Staaten zu behindern oder zu unterlaufen.

"63.[...] Vor diesem Hintergrund betrachtet, verfolgt die Gewährung von Immunität an die ESA ein legitimes Ziel."

cc) Diese Maßnahme ist auch verhältnismäßig.

Für die Frage der Verhältnismäßigkeit ist eine Abwägung des Zwecks und des Mittels im konkreten Einzelfall durchzuführen. Daher ist bei der Gewichtung der gegenläufigen Interessen die Tatsache relevant, daß es sich um die Anwendung einer Immunitätsregelung handelt, die eine internationale Organisation mit besonderen Aufgaben betrifft.

Die Immunität der ESA ist mit der Einschränkung von Rechten von Individuen, dem Personal, verbunden. Für die Frage der Verhältnismäßigkeit ist daher entscheidend, ob den betroffenen Mitarbeitern der ESA eine vernünftige Alternative für die wirksame und effektive Durchsetzung ihrer Rechte zur Verfügung stand. Im vorliegenden Fall behaupteten die Beschwerdeführer das Bestehen von Dienstverhältnissen mit der ESA.

Dafür stand ihnen der Weg zu einer innerhalb der ESA errichteten und unabhängigen Schlichtungsstelle, dem ESA Appeals Board, zur Verfügung. Diese Stelle entscheidet gemäß den "ESA Staff Regulations" über Streitigkeiten zwischen der Organisation und den Angestellten.

Als weitere Alternative zur Durchsetzung ihrer Rechte hätte den Beschwerdeführern die Möglichkeit offengestanden, vom dem Unternehmen CDP Entschädigung nach dem deutschen Arbeitnehmerüberlassungsgesetz zu fordern.

"72. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung kann nicht dazu führen, daß eine internationale Organisation gezwungen wird, sich der deutschen Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit unterwerfen zu müssen. Eine solche Auslegung des Art. 6 Abs. 1 EMRK [...] würde auch dem Erfordernis und der Praxis der fortschreitenden Ausdehnung und Stärkung der internationalen Zusammenarbeit, die unbeeinflußt und unbehindert erfolgen muß, widersprechen."

Bei der Auslegung der Vorschriften zur Immunität der ESA gem. § 20 Abs. 2 GVG haben die innerstaatlichen Gerichte ihren Ermessensspielraum nicht überschritten.


Ergebnis:

Es liegt keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.15


Anmerkungen:
 

* Aufbereitet von Assessorin Friederike Brinkmeier. Die Zitate der Entscheidung sind kursiv in die Angaben der Bearbeiterin eingeordnet.
1 Beschwerde Nr. 26083/94, bislang nicht veröffentlicht. Vgl. auch das Urteil des EGMR vom 18. Februar 1999 im Parallelfall Beer und Regan ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 28934/95), ebenfalls noch nicht veröffentlicht. Beide Urteile sind ind englischer und französischer Sprache im Volltext auf der Homepage des Gerichtshofes (http://www.echr.coe.int/) verfügbar.
2 "European Space Agency".
3 "European Space Research Organisation".
4 European Organisation for the Development and Construction of Space Vehicle Launchers".
5 "Die Organisation, ihr Personal und [...] genießen die Rechtsstellung, die Vorrechte und Immunitäten, die in Anlage I vorgesehen sind."
6 "Die Agentur genießt Immunität vor staatlicher Gerichtsbarkeit und Vollstreckungsmaßnahmen […], wenn nicht ausdrücklich und im Einzelfall [...] auf die Immunität verzichtet wurde."
7 Im folgenden zitiert als 11. ZP, veröffentlicht in: BGBl 1998 II, 578.
8 Mit Wirkung vom 1. November 1998, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des 11. ZP, hat der Gerichtshof am 4. November 1998 eine neue Verfahrensordnung beschlossen. Diese ist bisher im amtlicher Fassung nur in eng-lischer und französischer Sprache verfügbar, u.a. im Internet auf der Homepage des Gerichtshofs (http://www.echr.coe.int).
9 Vgl. Fall "Obermeier", Urteil vom 28. Juni 1990, Series A, Bd. 179, § 67.
10 Unter Bezugnahme auf Fall "Pérez de Rada Cavanilles", Urteil vom 28.Oktober 1998, § 43.
11 Unter Bezugnahme auf Fall "Golder", Urteil vom 21. Februar 1975, Series A Bd. 18, S. 18, § 36.
12 Unter Bezugnahme auf Fall "Fayed" Urteil vom 21. September 1994, Series A Bd. 294, S. 49-50, § 65.
13 Unter Bezugnahme auf Fall "Osman", Urteil vom 28. Oktober 1998, Reports 1998 - VIII, § 147.
14 Unter Bezugnahme auf Fall "Ait-Mouhoub", Urteil vom 28. Oktober 1998, § 52.
15 Einstimmige Entscheidung der Großen Kammer des Gerichtshofes. Die Kommission hatte mit 17:15 Stimmen gegen eine Verletzung votiert.
 
 
  Quelle: MenschenRechtsMagazin Heft 3/99  
 
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