Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 8. Juni 2010

Inhalt

Norman Weiß:

Auswertung der Rechtsprechung des Ausschusses gegen Folter (CAT)

- Berichtszeitraum: 1. bis 16. Sitzungsperiode (bis 10. Mai 1996) -

 

I. Einleitung

Der Ausschuß ist im Berichtszeitraum in 43 Fällen von Individualbeschwerdeführern gemäß Art. 221 angerufen worden. Über 25 Fälle wurde entschieden, eine Mitteilung wurde vom Beschwerdeführer zurückgenommen; die Behandlung zweier weiterer Fälle vom Ausschuß abgebrochen. Die Beratung von fünf Beschwerden wurde ausgesetzt, um innerstaatliche Überprüfungen der erhobenen Vorwürfe zu ermöglichen. 10 Fälle waren im Berichtszeitraum noch nicht entschieden.

In den 25 entschiedenen Fällen stellte der Ausschuß achtzehnmal die Unzulässigkeit der Beschwerden fest; meistens wegen fehlender Rechtswegerschöpfung. Von sieben zulässigen Beschwerden waren fünf begründet; einmal stellte der Ausschuß die Verletzung von Art. 12 fest, in den anderen Fällen war Art. 3 verletzt. Diese Vorschrift verbietet die Ausweisung oder Abschiebung in und die Auslieferung an einen anderen Staat, wenn dem einzelnen dort Folter droht.
 

II. Darstellung der Fälle

Die wichtigen Entscheidungen zum Verbot der Ausweisung oder Abschiebung wegen drohender Folter sind nachfolgend zusammengefaßt:
 

1. Mutombo ./. Schweiz

Sachverhalt

Hier ist zunächst die dreizehnte Mitteilung aus dem Jahre 19942 zu nennen. Der illegal in die Schweiz eingereiste Beschwerdeführer wendet sich gegen eine Ausweisung in sein Heimatland Zaire. Dort drohe ihm erneute Folter. Als Armeeangehöriger habe er sich einer Oppositionsbewegung angeschlossen und sei deswegen bereits inhaftiert und schwer gefoltert worden.

Ein Arzt in der Schweiz hatte bestätigt, daß der Körper des Beschwerdeführers Merkmale erlittener Folterungen aufwies. Doch die zuständigen schweizerischen Behörden verweigerten ihm den Flüchtlingsstatus. Sie begründeten dies damit, daß er jedenfalls nicht aus politischen Gründen inhaftiert worden sei. Denn das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) habe ihn im Gefängnis nicht besucht, weil er nicht zu derjenigen Häftlingsgruppe gehört habe, die dem Mandat des IKRK unterfalle.

Die Behörde zweifelte seine Inhaftierung an und verneinte eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle der Rückführung nach Zaire.

Hierunter verbirgt sich der Rückgriff auf die Rechtsprechung der Straßburger Organe,3 derzufolge eine Ausweisung oder Abschiebung in einen Staat, wo dem einzelnen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe droht, eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen kann. Die Verletzung besteht darin, daß die aufenthaltsbeendende Maßnahme die unmenschliche Behandlung erst ermöglicht.
 

Entscheidung

Der Ausschuß erklärte die Beschwerde für zulässig und erbat von der Schweiz erfolgreich das vorläufige Absehen von der Ausweisung des Beschwerdeführers, solange die Mitteilung geprüft werde. Solche vorläufigen Maßnahmen sind gemäß Verfahrensregel 108, Abs. 9 des Ausschusses möglich.

Der Ausschuß war sich der Sorge des Staates bewußt, daß Asylbewerber die Schutzvorschrift des Art. 3 mißbrauchen könnten. Doch sei es seine Aufgabe, die Sicherheit des Beschwerdeführers selbst bei Zweifeln an dessen Angaben zu schützen (§ 9.2).

Für die Begründetheitsprüfung postulierte der Ausschuß (Übersetzung aus dem Englischen durch den Verfasser):
"Der Ausschuß muß gemäß Art. 3 Abs. 1 entscheiden, ob stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, daß Mr. Mutombo Gefahr liefe, gefoltert zu werden. Dabei muß der Ausschuß nach Abs. 2 alle relevanten Erwägungen einschließlich des Umstandes, daß in dem betreffenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte herrscht, in Betracht ziehen. Das Ziel der Feststellung ist es jedoch, festzustellen, ob der Beschwerdeführer persönlich dem Risiko einer Folterung im Zielstaat ausgesetzt sein wird. Daraus folgt, daß die Existenz einer ständigen Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte in einem Staat nicht bereits als solche einen stichhaltigen Grund für die Annahme liefert, eine Person werde bei ihrer Rückkehr dorthin gefoltert; vielmehr müssen zusätzliche Anhaltspunkte für das persönliche Risiko des Beschwerdeführers vorliegen. Andererseits bedeutet die Abwesenheit einer ständigen Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte nicht, daß der einzelne in seiner spezifischen Situation nicht konkret von Folter bedroht sein kann." (§ 9.3)

Der Ausschuß kam zu dem Ergebnis, daß die Beschwerde begründet sei. Hierbei stützte er sich auf drei Erwägungen:

 

2. Tahir Hussain Khan ./. Kanada

Sachverhalt

Aus Angst um seine persönliche Sicherheit war der Beschwerdeführer der fünfzehnten Mitteilung 19904 von Pakistan nach Kanada geflüchtet, wo er um Aufnahme als Flüchtling nachsuchte. Dieses Ersuchen wurde 1992 letztinstanzlich abgewiesen. Weiteres Bemühen des Beschwerdeführers um ein humanitäres Bleiberecht wurde 1994 abgewiesen. Vierzehn Tage vor dem endgültigen Ausweisungsdatum legte der Beschwerdeführer die Mitteilung zum Ausschuß ein.

Als Sympathisant einer Bewegung, die für die Unabhängigkeit Kaschmirs von Pakistan eintritt, habe er schon im Gefängnis gesessen und sei gefoltert worden. Weil er weiterhin für die Unabhängigkeit Kaschmirs eingetreten sei, habe man ihn erneut festgenommen und im Gefängnis gefoltert. Ein medizinisches Gutachten aus Kanada bestätigt, daß der Körper des Beschwerdeführers Foltermale aufweise.

Der Beschwerdeführer wirft den kanadischen Behörden vor, daß sie seinen Fall nicht korrekt behandelt hätten, als es um die Anerkennung als Flüchtling gegangen sei. Außerdem laufe er bei einer Rückführung nach Pakistan Gefahr, erneut verfolgt und gefoltert zu werden.

Die kanadische Regierung entgegnet, der Fall des Beschwerdeführers sei ordnungsgemäß durchgeführt, sein Antrag wegen innerer Widersprüche seiner Aussagen jedoch abgelehnt worden. Der Beschwerdeführer habe während des gesamten Verfahrens nie darauf hingewiesen, daß er während seiner zurückliegenden Verhaftungen gefoltert worden sei, noch daß er Folter für die Zukunft fürchte. Auch im anschließenden Verfahren zur Erlangung des humanitären Bleiberechts habe der Beschwerdeführer nicht mit dem drohenden Risiko in Pakistan argumentiert.

Kanada meint, daß die vom Ausschuß im Fall Mutombo aufgestellten Kriterien für einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 der Konvention nicht vorliegen.

Insbesondere fehle es an einer ständigen Praxis grober offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte in Pakistan. Bei der Beurteilung des persönlichen Risikos weist Kanada darauf hin, daß der Beschwerdeführer stets widersprüchliche Angaben gemacht habe, sowohl was die Daten und Länge seiner Inhaftierung angehe als auch die Gründe hierfür. Kanada weist im übrigen darauf hin, daß die Tatsachenfeststellung und Auslegungen des innerstaatlichen Rechts Sache der nationalen Gerichte sei. Es handle sich um ein anerkanntes Prinzip des Völkerrechts, das in der Praxis internationaler Tribunale, und insbesondere in der von Human Rigths Treaty Bodies anerkannt sei, in dieses Vorrecht der nationalen Gerichte nicht korrigierend einzugreifen. Kanada hält es daher für angebracht, daß der Ausschuß Tatsachenfeststellungen der national zuständigen Behörden und Gerichte nur mit extremer Zurückhaltung abändern dürfe.

Der Ausschuß wird sich zu dieser Rechtsansicht nicht äußern, aber die vom Beschwerdeführer vorgetragenen Tatsachen abweichend vom Vertragsstaat werten (§ 12.3).
 

Entscheidung

Der Ausschuß entschied gleichzeitig über die Zulässigkeit und über die Begründheit der Mitteilung.

Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung wies er darauf hin, daß er nicht das Anerkennungssystem für Flüchtlinge in Kanada generell und abstrakt beurteile, sondern nur untersuche, ob bei der Untersuchung des Falls des Beschwerdeführers Kanada seinen Verpflichtungen aus der Konvention nachgekommen sei. Der Ausschuß untersuche auch nicht, ob Pakistan, das die Konvention nicht unterzeichnet habe, möglicherweise Bestimmungen der Konvention verletzt habe. Ihn interessiere nur, ob die zwangsweise Rückführung des Beschwerdeführers nach Pakistan eine Verletzung von Art. 3 durch Kanada darstelle (§ 12.1).

Der Ausschuß entfaltet in der Begründetheitsprüfung den bereits im Fall Motombo entwickelten Prüfungsmaßstab. Er stellt fest, daß der Beschwerdeführer eine Reihe von Angaben gemacht hat, die sich zwar zum Teil widersprechen bzw. nicht alle von Anfang an vorgebracht worden sind. Dies sei jedoch bei Folteropfern nicht unüblich. Der Ausschuß weist darauf hin, daß - selbst wenn die Sachverhaltsdarstellung des Autors nicht jeden Zweifel ausräumen könne - er gehalten sei festzustellen, ob die Sicherheit des Beschwerdeführers im Falle einer Rückführung gefährdet sei oder nicht. Hierzu merkt der Ausschuß an, daß hinreichend gesicherte Erkenntnisse darüber vorlägen, daß Folter eine gängige Praxis in Pakistan gegenüber politisch andersdenkenden wie auch gewöhnlichen Häftlingen darstelle (§ 12.3).

Seiner Ansicht nach liegen deshalb stichhaltige Gründe für die Annahme vor, daß ein politischer Aktivist wie der Beschwerdeführer Gefahr laufe, gefoltert zu werden. Der Ausschuß nimmt in diesem Zusammenhang bezug auf den Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer und auf den Brief eines Mitaktivisten, der ihn auf die Gefahren im Falle seiner Rückkehr hinweise. Außerdem habe der Beschwerdeführer den Nachweis geführt, daß Aktivisten in Pakistan Unterdrückung zu erleiden hätten (§ 12.4).

Der Ausschuß berücksichtigt außerdem, daß Pakistan nicht Konventionsmitglied ist. Dies erhöhe nicht nur die tatsächliche Gefahr einer Folterung, sondern beraube den Beschwerdeführer im Falle seiner Rückführung auch jeglicher weiteren Mittel, gegen etwaige Folterungen vorzugehen (§ 12.5).

Das Ergebnis lautet daher, daß die Rückführung des Autors eine Verletzung von Art. 3 darstelle. Der Ausschuß forderte Kanada daher auf, von dieser Rückführung abzusehen.
 

3. Ismail Alan ./. Schweiz

Sachverhalt

Die einundzwanzigste Mitteilung gerichtet gegen die Schweiz5 hatte erneut drohende Folter als Abschiebungshindernis zum Gegenstand. Der kurdische Beschwerdeführer hatte in der Schweiz Asyl beantragt, weil er in der Türkei wegen seiner politischen Aktivitäten inhaftiert und gefoltert worden sei. Während es ihm gelang, seine erstmalige Inhaftierung und die Verurteilung zu internem Exil in Izmir glaubhaft zu machen, konnte er die schweizerischen Berhörden und Gerichte nicht davon überzeugen, daß er auch später verfolgt, festgenommen und gefoltert worden sei. Ihm wurde eine inländische Fluchtalternative nahegelegt und er zum Verlassen der Schweiz aufgefordert.

Der Beschwerdeführer behauptete, ihm drohe bei seiner Rückkehr in die Türkei Folter. Hierzu stützte er sich auf Berichte von Amnesty International und des Ausschusses selbst, nach denen Kurden eine Zielgruppe staatlicher Repressionen in der Türkei und zahlreiche Fälle von Folter und schweren Menschenrechtsverletzungen dokumentiert sind.

Die Schweiz wand ein, daß der Beschwerdeführer widersprüchliche Aussagen gemacht habe, daß eine ihn konkret betreffende Bedrohungssituation nicht bestehe und außerdem die Türkei Konventionsmitglied sei, ihm also dort ausreichend Rechtsschutzmöglichkeit offenstehe.
 

Entscheidung

Dazu befand der Ausschuß, daß die Ratifizierung der Konvention für sich genommen noch nichts über die tatsächliche Situation in dem betreffenden Staat aussage. Gerade das Beispiel der Türkei zeige, daß eine systematisch praktizierte Folter auch unter der Konvention erfolgen könne (§ 11.5).

Der Ausschuß schärfte das Kriterium der Ratifikation in dieser Entscheidung: Hat ein Staat die Konvention nicht ratifiziert, so ist dies ein zusätzliches Indiz dafür, daß sich die Situation des Beschwerdeführers bei seiner Rückkehr dorthin gefährlich darstellt. Liegt die Ratifikation vor, so kann aufgrund der tatsächlichen Lage gleichwohl eine Rückkehr mit Art. 3 unvereinbar sein.

Mit Blick auf Art. 3 wandte der Ausschuß die im Fall Mutombo entwickelten Kriterien an und kam zu dem Ergebnis, daß über die generelle Verfolgungssituation für Kurden hinaus gerade der Beschwerdeführer bei seiner Rückführung nicht vor Folter sicher sei. Etwaige Widersprüchlichkeiten seiner Aussage führten nicht zur Unglaubhaftigkeit. (§ 11.3 und 4).
 

4. X. ./. Niederlande

Die sechsunddreißigste, gegen die Niederlande gerichtete Mitteilung6 war unbegründet. Nach Ansicht des Ausschusses hatte der Beschwerdeführer nicht hinreichend dargelegt, inwiefern ihm persönlich bei seiner Rückkehr nach Zaire Folterung drohe. Seine Inhaftierungen seien nur von kurzer Dauer gewesen, der Beschwerdeführer sei kein politischer Aktivist - bloße Parteizugehörigkeit oder -anhängerschaft reiche nicht aus - und außerdem gebe es keine Hinweise darauf, daß er in Zaire gesucht werde (§ 8).
 

5. P. M. P. Kisoki ./. Schweden

Demgegenüber war die einundvierzigste Mitteilung7 einer ebenfalls zairischen Beschwerdeführerin, der in Schweden die Ausweisung drohte, begründet. In diesem Fall hielt der Ausschuß aufgrund des politischen Engagements der Beschwerdeführerin und der bereits erlittenen Verfolgung und Folterung die konkrete Gefahr der Folter bei ihrer Rückkehr für gegeben. Der Wert ihrer vom beklagten Staat in wesentlichen Punkten nicht bestrittenen Angaben werde durch geringe Widersprüchlichkeiten, die bei Folteropfern nicht unüblich seien, nicht beeinträchtigt (§ 9.3 und 4). Ergänzend griff der Ausschuß auf Erkenntnisse des UNHCR zurück, nach denen rückkehrende Flüchtlinge, die im Ausland um Asyl nachgesucht hätten, von den Behörden besonders überprüft würden, weil diese bei den Rückkehrern ein politisches Profil vermuteten (§ 9.5).
 

III. Auswertung

Noch bilden die Zulässigkeitsentscheidungen den zahlenmäßigen Schwerpunkt der Ausschußarbeit. Die Erschöpfung des Rechtsweges steht dabei im Mittelpunkt. Der Ausschuß achtet den Vorrang der nationalen Gerichte und stellt strenge Anforderungen an die Erschöpfung des Rechtsweges. Die in Art. 22 Abs. 5 lit. b statuierte Ausnahme bei genereller Erfolglosigkeit des Rechtsbehelfs muß vom Beschwerdeführer jeweils detailliert begründet werden; pauschale Behauptungen hat der Ausschuß nicht gelten lassen.

Die bisherigen Entscheidungen zur Begründetheit von Mitteilungen lassen trotz ihrer geringen Anzahl bereits Art. 3 als Hauptanwendungsfall erkennen. Zu anderen materiellen Vorschriften ist kurz festzuhalten:
 

Art. 12

Die Verschleppung eines Verfahrens gegen Polizisten, gegen die Foltervorwürfe erhoben worden waren, wurde gerügt.8 Im konkreten Fall hatten die österreichischen Behörden fünfzehn Monate gebraucht, um ein Verfahren in Gang zu bringen, nachdem der nachmalige Beschwerdeführer seine Vorwürfe gegenüber einem Untersuchungsrichter geäußert hatte. Dadurch war Art. 12 verletzt, eine "umgehende" Untersuchung nicht erfolgt.
 

Art. 13

Art. 13 verpflichtet die Vertragsstaaten dazu, jedermann eine umgehende unparteiische Überprüfung seines Falles zu ermöglichen. Dies gilt auch dann, wenn kein förmlicher Rechtsbehelf eingelegt wird.9 Bereits der einfache Vorwurf, es sei Folter verübt worden, verpflichtet den Staat zur umgehenden und unparteiischen Überprüfung. Diese Überprüfung kann durchaus in dem Verfahren vorgenommen werden, das gegen den nachmaligen Beschwerdeführer durchgeführt wird. Der Ausschuß hielt es jedoch für wünschenswert, daß dem Vorwurf der Folter, wenn er in einem Gerichtsverfahren geäußert werde, in einem separaten Verfahren nachgegangen werde. Die konkrete Ausgestaltung hänge jedoch vom innerstaatlichen Recht ab, das akzeptiert werden müsse.10 Die gegen Spanien gerichtete Mitteilung war deshalb unbegründet.
 

Art. 3

Die Rechtsprechung des Ausschusses zu Art. 3 nahm ihren Ausgang in der Entscheidung Mutombo ./. Schweiz,11 und führte über die Stationen der Fälle Tahir Hussain Khan ./. Kanada,12 Alan ./. Schweiz13 und Kisoki ./. Schweden14 zur Herausarbeitung folgender Kriterien:

Bei der Entscheidung nach Art. 3 Abs. 1 muß festgestellt werden, ob stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, daß der Beschwerdeführer Gefahr läuft, gefoltert zu werden. Es handelt sich also um eine Prognoseentscheidung. Anders als die EMRK begrenzt die Konvention den Schutz bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen nur auf Folter, nicht aber auch gegenüber anderer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe.

Der Ausschuß muß hierzu nach Abs. 2 alle relevanten Erwägungen einschließlich des Umstandes, daß in dem betreffenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte herrscht, in Betracht ziehen.

Das Ziel der Feststellung ist es jedoch, herauszufinden, ob der Beschwerdeführer persönlich dem Risiko einer Folterung im Zielstaat ausgesetzt sein wird.

Die Existenz einer ständigen Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte in einem Staat liefert deshalb nicht bereits als solche einen stichhaltigen Grund für die Annahme, eine Person werde bei ihrer Rückkehr dorthin gefoltert; vielmehr müssen zusätzliche Anhaltspunkte für das persönliche Risiko des Beschwerdeführers vorliegen. Als solche werden genannt: ethnisches Herkommen des Beschwerdeführers, sein politisches Engagement, bereits erfolgte Inhaftierungen und Folterungen.

Andererseits bedeutet die Abwesenheit einer ständigen Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte nicht, daß der einzelne in seiner spezifischen Situation nicht konkret von Folter bedroht sein kann.

Um herauszufinden, ob eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte besteht, zieht der Ausschuß die Stellungnahmen anderer Organe der Vereinten Nationen beziehungsweise seine eigenen Feststellungen zur Menschenrechtslage in dem betreffenden Staat heran, ebenso auch Berichte von Nichtregierungsorganisationen.

Von herausragender Bedeutung ist die Frage nach den Anforderungen, die an den Nachweis einer drohenden Mißhandlung zu stellen sind. Ist von der Existenz einer ständigen Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte in einem Staat auszugehen, so sind nach der Rechtsprechung des Ausschusses im Falle Mutombo die Anforderungen an den Nachweis der individuellen Gefährdetheit geringer. Damit setzt er sich ausdrücklich über die Sorge der Vertragsstaaten hinweg, daß Asylbewerber die Umsetzung von Art. 3 mißbrauchen könnten.

In den beiden neueren Entscheidungen wies der Ausschuß auf die spezifische Situation von Folteropfern hin. Eine vollständige Korrektheit der Angaben könne selten erwartet werden. Auftretende Widersprüche seien nicht per se geeignet, die generelle Glaubwürdigkeit der Aussage in Zweifel zu ziehen.

Damit greift der Ausschuß Erkenntnisse aus der Arbeit mit traumatisierten Folteropfern auf. In der medizinischen und psychologischen Betreuung ist es längst bekannt, daß Opfer von Folter und Mißhandlung in ein tiefes Schweigen fallen und das Erlebte nachhaltig zu verdrängen suchen. Die im Anerkennungsverfahren vor den Asylbehörden notwendigen Angaben fallen aus einer Vielzahl von Gründen selten so schlüssig und überzeugend aus, wie es erforderlich wäre. Dies hängt unter anderem mit retraumatisierenden Assoziationen der Lagerunterbringung und dem Gespächsklima (begrenzte Zeit, Über-/Unterordnungsverhältnis, Abwehrhaltung des Fragestellers) zusammen.15

Ergänzend geht der Ausschuß in seiner Prüfung darauf ein, ob dem Beschwerdeführer nach einer etwaigen Rückkehr Rechtsschutzmöglichkeiten fehlen, weil das Land nicht Vertragsstaat des Übereinkommens ist. Hat ein Staat die Konvention nicht ratifiziert, so ist dies ein zusätzliches Indiz dafür, daß sich die Situation des Beschwerdeführers bei seiner Rückkehr dorthin gefährlich darstellt. Liegt die Ratifikation vor, so kann aufgrund der tatsächlichen Lage gleichwohl eine Rückkehr mit Art. 3 unvereinbar sein.
 



Anmerkungen:
 
1 Artikel ohne nähere Bezeichnung sind solche des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984, BGBl. 1990 II S. 246.
2 Communication 13/1993, B. Mutombo ./. Schweiz vom 18. November 1993, Entscheidung vom 27. April 1994, UN-Dok. A/49/44/Annex V B.
3 Nachweise bei Frowein / Peuckert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996, Art. 3, Rdnr. 18.
4 Communication 15/1994, Tahir Hussain Khan ./. Kanada vom 4. Juli 1994, Entscheidung vom 15. November 1994, UN-Dok. A/50/44/Annex V A, S. 46ff.
5 Communication 21/1995, Ismail Alan ./. Schweiz vom 31. Januar 1995, Entscheidung vom 8. Mai 1996, UN-Dok. CAT/C/26/D/21/1995.
6 Communication 36/1995, X. ./. Niederlande vom 17. November 1995, Entscheidung vom 8. Mai 1996, UN-Dok A/51/44/Annex V.
7 Communication 41/1996, Pauline Muzonzo Paku Kisoki ./. Schweden vom 12. Februar 1996, Entscheidung vom 8. Mai 1996, UN-Dok A/51/44/Annex V.
8 Communication 8/1991, Q. Halimi-Nedzibi ./. Österreich vom 27. September 1991, Entscheidung vom 18. November 1993, UN-Dok. A/49/44/Annex V A.
9 Communication 6/1990, H.U.P. ./. Spanien vom 13. Oktober 1990, Entscheidung vom 2. Mai 1995, UN-Dok. A/50/44/Annex V B, S. 62ff. Dort § 10.4.
10 Wie vorige Fn., § 10.6.
11 Communication 13/1993, B. Mutombo ./. Schweiz vom 18. November 1993, Entscheidung vom 27. April 1994, UN-Dok. A/49/44/Annex V B.
12 Communication 15/1994, Tahir Hussain Khan ./. Kanada vom 4. Juli 1994, Entscheidung vom 15. November 1994, UN-Dok. A/50/44/Annex V A, S. 46ff.
13 Communication 21/1995, Ismail Alan ./. Schweiz vom 31. Januar 1995, Entscheidung vom 8. Mai 1996, UN-Dok. CAT/C/26/D/21/1995.
14 Communication 41/1996, Pauline Muzonzo Paku Kisoki ./: Schweden vom 12. Februar 1996, Entscheidung vom 8. Mai 1996, UN-Dok A/51/44/Annex V.
15 Vgl. dazu Sepp Graessner/Salah Ahmad/Frank Merkord, Alles Vergessen! - Gedächtnisstörungen bei Flüchtlingen mit Foltererfahung, in: Graessner/Gurris/Pross, Folter. An der Seite der Überlebenden. Unterstützung und Therapien, 1996, 237ff.

 
Quelle: MenschenRechtsMagazin Heft 3 - Juni 1997, S. 15-22

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