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6-herneck

Friedrich Herneck

Hegel und Alexander von Humboldt

Vorbemerkung

Der Wissenschaftshistoriker Friedrich Herneck (1909–1993) gilt als einer der „Nestoren und bekanntesten Forscher auf dem Gebiet der Geschichte der Naturwissenschaften in der DDR“1. Arbeiten über Ernst Mach und Albert Einstein brachten ihm nationale und internationale Anerkennung. Hernecks Laufbahn als Wissenschaftler in der DDR war jedoch keineswegs geradlinig. Seine „quellenbezogenen Arbeiten über Ernst Mach“2 trugen ihm, trotz der Unterstützung des damals noch angesehenen Robert Havemann, den Entzug der Lehrerlaubnis an der Humboldt-Universität zwischen 1958 und 1964 ein. Dennoch konnte sich Herneck – durch die Fürsprache Havemanns – 1961 habilitieren. Ab 1967 war er Professor für Wissenschaftsgeschichte in Ost-Berlin.3

Trotz einiger einschlägiger Aufsätze kann Herneck nicht als Alexander-von-Humboldt-Forscher im engeren Sinne gelten. In der sehr fundierten „Geschichte der ostdeutschen Alexander von Humboldt-Forschung“ von Gregor Schuchart (Stuttgart 2010) wird er nicht erwähnt. Wissenschaftliche Kontakte etwa mit dem langjährigen Leiter der Humboldt-Forschungsstelle, Kurt-R. Biermann, scheinen nicht bestanden zu haben. Hernecks Arbeiten deuten auch nicht auf die Benutzung unpublizierter Quellen hin, die er in der Forschungsstelle hätte einsehen können.

Der im Folgenden neu publizierte Aufsatz stammt aus der Zeit, in der Herneck an der Humboldt-Universität Geschichte der Naturwissenschaften las. Mit einer Analyse der Beziehungen zwischen Alexander von Humboldt und Georg Friedrich Wilhelm Hegel wandte er sich einem Thema zu, das gewissermaßen außerhalb des Forschungsprofils der Humboldt-Arbeitsstelle an der Berliner Akademie der Wissenschaften lag. Humboldts Kritik an den naturphilosophischen Äußerungen Hegels war natürlich bekannt, aber eine Interpretation aus marxistischer Sicht war für Humboldt-Forscher wie Kurt-R. Biermann wohl ein zu heißes Eisen. Herneck hat sich dieser Aufgabe gestellt. Die Hinweise auf Marx, Engels und Lenin am Schluss des Aufsatzes – übrigens ohne längere Zitate – muten uns heute hergeholt an.4 Sie mussten dem Autor aber thematisch passend erscheinen, gehörte die Hegel’sche Dialektik doch zu den von Lenin formulierten „Drei Quellen und drei Bestandteilen des Marxismus“5. So konnte es für Herneck mit der Fundamentalkritik an der Hegel’schen Naturphilosophie durch Humboldt nicht sein Bewenden haben. Ein Hinweis auf die im Marxismus „aufgehobenen“ bleibenden Leistungen Hegels sollte das Bild des Philosophen gleichsam abrunden.

Herneck bezieht sich zu Beginn seines Aufsatzes auf Humboldts „Kosmos-Vorlesungen“. Eine Anzahl von Mitschriften dieser Vorträge sind heute im Deutschen Textarchiv verfügbar6.

Die Neuveröffentlichung des Aufsatzes erfolgt nach dem Druck in der „Wissenschaftlichen Zeitschrift der Humboldt-Universität“ von 1971. Die Humboldt- und Hegel-Zitate wurden geprüft und werden in der ursprünglichen Orthographie abgedruckt. Hernecks Text erscheint in neuer Rechtschreibung; einige Fußnoten wurden – etwa um die vollständigen Vornamen der genannten Autoren – erweitert. Zusätze des Herausgebers erscheinen in [eckigen Klammern].

Ingo Schwarz

August 2016

Zuerst erschienen in:

Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe XX (1971) 2, S. 267–270.

1 Vgl. die von Dieter Hoffmann verfasste Kurzbiographie Hernecks: http://bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=1372

2 Ebd.

3 Zur Biographie Hernecks siehe auch die Würdigung von Dieter B. Hermann in „Das Blättchen“ vom 2. Sept. 2013: http://das-blaettchen.de/2013/08/friedrich-herneck-ein-provokanter-bahnbrecher-der-wissenschaftsgeschichte-26396.html

4 Vgl. dazu: Rupke, Nicolaas A.: Alexander von Humboldt. A Metabiography. Frankfurt am Main, Berlin (et al.) 2005, S. 126/127.

6 Übersicht der bisher publizierten Nachschriften: http://www.deutschestextarchiv.de/search/metadata?corpus=avhkv

Hegel und Humboldt haben viereinhalb Jahre nebeneinander in Berlin gelebt. Ihre Wohnungen lagen fast in Rufweite: Hegel wohnte am Kupfergraben, Humboldt damals in der Straße ,,Hinter dem neuen Packhofe“, die dort verlief, wo später die Nationalgalerie und das „Neue Museum“ errichtet wurden. Sicherlich sind Hegel und Humboldt einander bei irgendwelchen Anlässen begegnet, aber über einen persönlichen Verkehr ist nichts bekannt.

Das Kartenspiel konnte hier nicht vermitteln, wie dies bei Wöhler der Fall war, denn Humboldt pflegte nicht Karten zu spielen. Auch eine Begegnung im Tivoli, einer beliebten Vergnügungsstätte der Berliner vor dem Halleschen Tor, war nicht gut denkbar. Hegel kam öfter ins Tivoli, und er hat auch seinen letzten Geburtstag bei einem guten Tropfen mit Freunden dort fröhlich gefeiert. Wie berichtet wird, machten Hegel und Schleiermacher, die sich sonst nicht ausstehen konnten, im Tivoli einmal „Arm in Arm“ eine Rutschpartie.1 Ordentliche Professoren der Universität konnten sich einen solchen Spaß offenbar erlauben; für einen königlichen Kammerherrn wie Humboldt wäre dies aber wohl nicht schicklich gewesen. Im Übrigen dürfte Humboldt kaum jemals einen Rummelplatz besucht haben; sein Reich war der Salon, wo er sich als geistvoller Dauerredner betätigte.

Zum mangelnden Kontakt der beiden etwa gleichaltrigen Gelehrten trug sicherlich der Umstand bei, dass Humboldt nicht dem Lehrkörper der Universität angehörte – er trat hier nur als „Lesendes Akademiemitglied“ auf –, und andererseits Hegel nicht Mitglied der Akademie war, woran die Hauptschuld sein Rutschbahngefährte trug, nicht etwa Humboldt, der im Gegenteil den in der Akademie herrschenden „Parteihass“ gegen Hegel bedauerte.2

Aber selbst dann, wenn es sich anders verhalten hätte, wäre eine Beziehung zwischen den beiden doch nur oberflächlich, weil ohne innere Gemeinsamkeit, geblieben. Die Hegel-Biographen erwähnen Alexander von Humboldt meist überhaupt nicht. Die Humboldt-Biographen führen Hegel stets mit einem negativen Akzent an und meist mit der Bemerkung, dass Hegel und Humboldt durch eine Welt voneinander getrennt waren. Das entspricht im Wesentlichen auch den Tatsachen.

Alexander von Humboldt war der Typ des empirisch arbeitenden, sorgfältig beobachtenden Naturforschers, der eine exakte Beschreibung von Naturgegenständen zu liefern bestrebt war, so wie er es bei Abraham Gottlob Werner an der Bergakademie in Freiberg gelernt hatte: mit dem Ziel, die inneren Zusammenhänge und die Ursachen der Tatsachen aufzuspüren. Alle seine Behauptungen waren durch Belege gesichert.

Bei dieser Haltung konnte Humboldt nichts übrig haben für den Mitbegründer einer „Zeitschrift für spekulative Physik“, für den Schöpfer und Verkünder einer abstrakt-spekulativen „Naturphilosophie“. Als enzyklopädischer Beherrscher des Naturwissens seiner Zeit stieß sich Humboldt überdies an den Ungenauigkeiten und den sachlichen Fehlern, die Hegel in seinen Darlegungen unterliefen, weil er bei allem Interesse an naturkundlichen Fragen doch meilenweit entfernt war von der profunden und universellen Sachkenntnis, über die Humboldt auf naturwissenschaftlichem Gebiet wie kein anderer seiner Epoche verfügte. In einem Brief an Varnhagen von Ense tadelt Humboldt 1837 an Hegel „ein abstraktes Behaupten rein falscher Thatsachen und Ansichten über Amerika und die indische Welt“, und er fügt hinzu, dies sei für ihn „freiheitraubend und beängstigend“3.

Alexander von Humboldt war deshalb nicht gerade erfreut darüber, als ihn bei seiner Rückkehr aus Paris, im Frühjahr 1827, Berliner Zeitungen mit Hegel und dessen Naturphilosophie in einen geistigen Zusammenhang zu bringen suchten.4 Schon ein halbes Jahr später grenzte er sich von Hegels Naturphilosophie öffentlich ab. Er tat dies in seinen berühmten „Kosmos-Vorlesungen“, die er im Wintersemester 1827/28 an der Berliner Universität und gleichzeitig, etwas später beginnend und mit verkürztem Programm, nebenan in der „Singakademie“, dem heutigen Maxim-Gorki-Theater, vor überfüllten Sälen hielt.

Auf dem Konzeptblatt zur 6. Vorlesung steht: „Verwahrung gegen Hegel“. Es ist nicht bekannt, welchen Wortlaut diese „Verwahrung“ an der Universität hatte; wir wissen aber, weil von Humboldt selbst bezeugt, was er in der „Singakademie“ sagte. Gleich in der Eröffnungs-Vorlesung am 6.12.1827 erklärte er:

Die dogmatischen Ansichten der vorigen Jahrhunderte leben dann nur fort [...] in gewissen Disziplinen, die, in dem Bewußtsein ihrer Schwäche, sich gern in Dunkelheit hüllen.5

Weiter heißt es:

Neben der wissenschaftlichen Physik bildet sich dann eine andere, ein System ungeprüfter, zum Theil gänzlich mißverstandener Erfahrungs-Kenntnisse. [...] Sie ist in sich abgeschlossen, unveränderlich in ihren Axiomen, anmaßend wie alles Beschränkte; während die wissenschaftliche Naturkunde, untersuchend und darum zweifelnd, das fest Ergründete von dem bloß Wahrscheinlichen trennt, und sich täglich durch Erweiterung und Berichtigung ihrer Ansichten vervollkommnet.6

In einer der folgenden Vorlesungen prangerte Humboldt die „abenteuerlich-symbolisierende Sprache“ und den „Schematismus“ der naturphilosophischen Systeme an, der enger sei, als ihn jemals das Mittelalter der Menschheit aufgenötigt habe.7 Humboldt nannte auch hier keinen Namen, doch wusste jeder seiner Hörer, dass vor allem Hegel gemeint war. Und da von der Universität und der Singakademie bis zum Kupfergraben nur ein paar Schritte sind, hat Hegel es auch prompt erfahren. Er war empfindlich verletzt, wie er sich immer äußerst gereizt zeigte, wenn es seinen Lehrmeinungen ans Leder ging. Die Akten unseres Universitäts-Archivs, z.B. die Protokolle der Fakultätssitzungen aus jener Zeit, belegen dies.

Humboldts Angriffe hatten zur Folge, dass Hegel sich bei Varnhagen, einem gemeinsamen Freund, darüber beschwerte. Er soll sogar an Humboldt selbst geschrieben haben. Humboldt zog sich gewandt aus der Affäre, ohne jedes Zugeständnis in der Sache, aber verbindlich und schmiegsam in der Form,8 wie es seine Art war; in Berlin haben ihn seine Gegner deswegen ja die „enzyklopädische Katze“ genannt.

Auch später änderte Humboldt seine ablehnende Haltung gegenüber der Hegelʼschen Naturphilosophie nicht. Im „Kosmos“, der aus seinen Berliner Vorlesungen hervorging, druckte er die kritischen Ausführungen vom Winter 1827/28 wörtlich ab. Er verbrämte sie jedoch mit einigen Zusätzen, die – wie sich gleich zeigen wird – nicht ganz ehrlich gemeinte Einschränkungen enthielten. Der Angriff gegen Hegel und Schelling liest sich im „Kosmos“ folgendermaßen:

Mannigfaltig mißverstanden, und ganz gegen die Absicht und den Rath der tiefsinnigen und mächtigen Denker, welche diese schon dem Alterthum eigenthümlichen Bestrebungen wiederum angeregt, haben naturphilosophische Systeme, eine kurze Zeit lang, in unserem Vaterlande, von den ernsten und mit dem materiellen Wohlstande der Staaten so nahe verwandten Studien mathematischer und physikalischer Wissenschaften abzulenken gedroht. Der berauschende Wahn des errungenen Besitzes, eine eigene, abenteuerlich-symbolisirende Sprache, ein Schematismus, enger, als ihn je das Mittelalter der Menschheit angezwängt, haben, in jugendlichem Mißbrauch edler Kräfte, die heiteren und kurzen Saturnalien eines rein-ideellen Naturwissens bezeichnet. Ich wiederhole den Ausdruck: Mißbrauch der Kräfte; denn ernste, der Philosophie und der Beobachtung gleichzeitig zugewandte Geister sind jenen Saturnalien fremd geblieben.9

Welche Bewandtnis es mit den nachträglichen Zusätzen und Veränderungen hatte, geht aus einem Brief Humboldts an den Altphilologen August Böckh aus dem Jahre 1843 hervor. Offensichtlich hatte Humboldt Teile des Manuskripts zum ersten Band des „Kosmos“, der 1845 erschien, Böckh zu lesen gegeben, und dieser hatte sich anscheinend über einige Stellen gewundert. In einem Nachsatz zu seinem Brief gab Humboldt folgende Erläuterung:

Mit Schelling, worüber Sie lächeln, hängt es so zusammen: Es ist nicht Wohlwollen, sondern etwas List und besonders Schonung für den verstorbenen Hegel. Die Stelle gegen die ‚heiteren und kurzen Saturnalien eines rein ideellen Naturwissens, eines Schematismus enger als ihn je das Mittelalter der Menschheit angezwängt‘ hatte ich in der Singakademie 1827 ausgesprochen, und ich hielt es für feige sie nicht zu wiederholen. Nun hatte Hegel sich bitter gegen Varnhagen beklagt, und da ich nicht werde vermeiden können, den sehr geachteten, jezt ungerecht verfolgten Mann bald dort oben zu sehen, so hielt ich es de bon goût, zu thun als glaube ich, er und Schelling, die Erfinder der neuen Naturphilosophie, seien unschuldig, alles sei gegen ihren Willen geschehen. Daher die Phrase ,ernste, der Philosophie und der Beobachtung gleichzeitig zugewandte Geister‘. Aus dem Bruno citire ich dann aus Malice die Stelle, in der er sagt, die Philosophie scheine oft wie eine vergängliche meteorische Erscheinung, von Hegel citire ich etwas ernstes und ehrenvolles. So komme ich zu meinen Zwecken, ohne Liebe für beide, aber mit mehr Achtung für Hegel […].10

Humboldt macht sich also über den damals noch lebenden Schelling lustig mit einem Zitat aus dessen eigenen Schriften: mit einer Stelle aus dem Dialog „Bruno oder über die göttlichen und natürlichen Prinzipien der Dinge“, worin es heißt – „wie so schön im Bruno gesagt wird“, schreibt Humboldt ironisch – , die Philosophie zähle für viele „zu den vergänglichen Erscheinungen feuriger Dünste“.11 Dem inzwischen verstorbenen Hegel aber erweist Humboldt Respekt mit einem Wort aus der „Philosophie der Geschichte“, obwohl er – wie er ausdrücklich bemerkt – Hegel ebenso wenig liebte wie Schelling.

Für Humboldt war Hegels Naturdeutung laienhaft, ein Ausdruck ungenügender Sachkenntnis, und er hielt sie auch methodisch für verfehlt. Ein Brief an Varnhagen aus dem Jahre 1841 verdeutlicht dies. Dort schreibt Humboldt im Blick auf Hegel und die deutsche Naturphilosophie:

Es ist eine bejammernswürdige Epoche gewesen, in der Deutschland hinter England und Frankreich tief herabgesunken ist. Eine Chemie, in der man sich die Hände nicht naß machte.12

Eine solche Einstellung ist verständlich aus der Sicht eines Naturforschers, der Gruben befahren und Vulkangipfel erstiegen hatte bis zu Höhen, wie niemand vor ihm; der unter Lebensgefahr forschend in unerschlossene tropische Urwälder vorgedrungen war; der als junger Mann selbst experimentierte und später in Paris in den Laboratorien der Physiker und Chemiker ein- und ausging. Was sollte Humboldt, der gemeinsam mit Gay-Lussac die Wärmeausdehnung der Gase erforschte, mit einer Definition der Wärme anfangen, wie Hegel sie in seiner „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ gegeben hatte:

Die Wärme ist das sich Wiederherstellen der Materie in ihre Formlosigkeit, ihre Flüssigkeit, der Triumph ihrer abstracten Homogeneität über die specifischen Bestimmtheiten; ihre abstracte, nur an sich seyende Continuität, als Negation der Negation ist hier als Activität gesetzt, als daseyendes Auflösen.13

Ebenso „in Dunkelheit gehüllt“ sind auch andere naturphilosophische Definitionen Hegels, beispielsweise die des Magnetismus und der Elektrizität.

Bei der Lektüre dieser Stellen wird man unwillkürlich erinnert an das, was der erste Einstein-Biograph in seinem aus Gesprächen mit Einstein entstandenen Buch über gewisse naturphilosophische Auslassungen Hegels schrieb: Mit ihrem „Wortschwall von betäubender Sinnlosigkeit“ nähmen sie sich aus wie Abschnitte „aus einer Karnevalszeitung, von Wissenschaftlern in Weinlaune zur Selbstverulkung verfaßt“.14 In ähnlich abschätziger Weise hatte sich schon um die Jahrhundertwende der von Lenin hochgeachtete theoretische Physiker und Materialist Ludwig Boltzmann in einer Vorlesung an der Wiener Universität zu Hegels Philosophie geäußert. Boltzmann, der auf einen philosophischen Lehrstuhl berufen worden war, sagte, er sei nur zögernd dem Rufe gefolgt, sich „in die Philosophie hineinzumischen“, während Philosophen – Vertreter der idealistischen Schulen jener Zeit – sich desto öfter in die Physik eingemischt hätten. Da er nicht einmal verstand, was sie meinten, wollte er sich über „die Grundlehren aller Philosophie“ besser informieren.

Um gleich aus den tiefsten Tiefen zu schöpfen, griff ich nach Hegel; aber welch unklaren, gedankenlosen Wortschwall sollte ich da finden!15

Man sollte den hier vorliegenden Sachverhalt nicht zu beschönigen versuchen. Es ist ganz unbestreitbar, dass Hegel mit seinem „unklaren Wortschwall“ und seinen „dunklen“ naturphilosophischen Spekulationen dem Ansehen der Philosophie in den Augen der Naturwissenschaftler objektiv schwer geschadet hat. Mit Recht bemerkte der Physikhistoriker Rosenberger in den 80er Jahren zu Hegels „Definitionen“ naturwissenschaftlicher Begriffe, dass von diesem „Spiel mit Worten“ keine Brücke mehr zur Natur führte und selbst das Verständnis der naturwissenschaftlichen Methode von hier aus nicht mehr möglich war; es sei daher nicht verwunderlich, wenn die Physiker die Ansprüche der Naturphilosophie „mit Hohn und Erbitterung“ zurückwiesen.16

Es ist nun reizvoll zu sehen, wie Alexander von Humboldt sich trotz alledem angelegentlich darum bemühte, einen Zugang zu Hegels geistiger Größe zu finden. Da er ihm auf dem Gebiet der Naturphilosophie nicht folgen konnte, suchte er auf dem Weg über die Geschichtsphilosophie und die Ästhetik an ihn heranzukommen, über Gebiete also, die Humboldt selbst ferner lagen. Der Katalog seiner Bibliothek verzeichnet Hegels geschichtsphilosophische Werke und die Vorlesungen über Ästhetik17: Bücher, die Humboldt offensichtlich eigens für diesen Zweck angeschafft oder von Freunden erhalten hatte.

Über seine geplante Lektüre von Hegels geschichtsphilosophischen Schriften schrieb Humboldt 1837 an Varnhagen, dass ihn Hegels „geschichtliche Studien“ sehr interessieren werden; nach einer Zwischenbemerkung über eine Frage, in der er Hegel bisher nicht zustimmte, heißt es weiter: „Ich werde aufmerksam lesen, und gern von meinem Vorurtheile zurückkommen.“18

An dem Willen und der Bereitschaft, Hegel nach Verdienst zu würdigen, ließ es Humboldt also nicht fehlen. Man gewinnt freilich den Eindruck, dass er mit seinem Vorhaben nicht allzu weit gekommen ist. Dafür gab es äußere Gründe, wie die Niederschrift des „Kosmos“, die ihn völlig in Anspruch nahm; es waren aber wohl auch innere Gründe vorhanden. Humboldt war kein Philosoph. Bei allem guten Willen hatte er für die „groteske Felsenmelodie“ in Hegels Werk kein Ohr.

Bei der Struktur seines Denkens kann man Humboldt daraus keinen Vorwurf machen. Auch die zeitgenössischen und die ihnen folgenden Naturforscher kamen nicht weiter. Nicht nur die Physiker lehnten Hegels „Wortschwall“ ab; auch Physiologen und Biologen, wie Emil du Bois-Reymond und Ernst Haeckel, hielten von Hegel und seinen „dialektischen Luftschlössern“,19 seiner „reinen Spekulation“,20 nicht viel. Nicht zuletzt waren die Mathematiker Hegels Gegner: an der Berliner Universität und an der Akademie, aber auch sonst. Als Größter unter ihnen ist Gauß zu nennen. In einem seiner Briefe an Schumacher heißt es:

Daß Sie einem Philosophen ex professo keine Verworrenheiten in Begriffen und Definitionen zutrauen, wundert mich fast [...]. Sehen Sie sich doch nur bei den heutigen Philosophen um, bei Schelling, Hegel, Nees von Esenbeck und Consorten, stehen Ihnen nicht die Haare bei ihren Definitionen zu Berge.21

Es gehörten im 19. Jahrhundert tatsächlich – und das scheint mir das eigentliche Fazit dieser Betrachtungen zu sein – der philosophische Spürsinn und die Geistesschärfe eines Marx und Engels, im beginnenden 20. Jahrhundert die Genialität eines Lenin dazu, um in dem Wust von Mystizismus, Verworrenheit und abenteuerlicher idealistischer Spekulation in Hegels Werk das eigentlich Bedeutende, die Dialektik, aufzufinden und zu erschließen. Dabei war sich Engels spätestens nach seiner „naturwissenschaftlichen Mauserung“ völlig darüber im Klaren, dass es an der Hegel‘schen „Naturphilosophie“ nichts zu retten gab. Im Jahre 1878 schrieb er in der sogenannten „Alten Vorrede“ zum Anti-Dühring, dass mit dem idealistischen Ausgangspunkt auch das darauf konstruierte System Hegels falle, „also namentlich auch die Hegelsche Naturphilosophie“.22

Es ist bemerkenswert und aufschlussreich, dass sich Lenin, der diesen erst um 1925 veröffentlichten Text von Engels nicht kennen konnte, in seinen Hegel-Studien ausschließlich mit den logischen, erkenntnistheoretischen und geschichtsphilosophischen Werken Hegels auseinandergesetzt hat. Hier lagen in der Tat noch ungehobene Schätze. Die Naturphilosophie Hegels ließ Lenin als taubes Gestein links liegen; er würdigte sie in seinen „Philosophischen Heften“23 keiner Beachtung. Und dies mit gutem Grund: denn an Hegels „Definitionen“ der Wärme, der Elektrizität usw. kann man wahrhaftig keine Dialektik studieren. Hier gibt es auch nichts, was man – wie Lenin forderte – „materialistisch lesen“ könnte.

Was Hegel als Logiker, Erkenntnistheoretiker, Geschichtsphilosoph geleistet hat, ist „aufgehoben“ im dialektischen und historischen Materialismus. Hierauf beruht Hegels Unsterblichkeit als Denker. Was er als „Naturphilosoph“ anbot, war nicht vertretbar. Dass Lenin bei seinem Studium Hegels dessen naturphilosophische Schriften unbeachtet ließ, erscheint in diesem Zusammenhang wie eine nachträgliche Rechtfertigung von Humboldt und Gauß.

1 Rosenkranz, Karl: Georg Wilhelm Friedrich Hegel‘s Leben. Berlin 1844, S. 326.

2 Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858. [Hg. v. Ludmilla Assing]. Leipzig 1860, S. 9.

3 Ebd.: S. 44.

4 Günther, Siegmund: Geschichte der anorganischen Naturwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert. Berlin 1901, S. 33.

5 Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 1. Stuttgart und Tübingen 1845, S. 5.

6 Ebd.: S. 17.

7 Ebd.: S. 68/69.

8 Beck, Hanno: Alexander von Humboldt. Bd. II: Vom Reisewerk zum „Kosmos“ 1804–1859. Wiesbaden 1961. S. 80–81.

9 Kosmos I. S. 68/69.

10 Hoffmann, Max: August Böckh. Lebensbeschreibung und Auswahl aus seinem wissenschaftlichen Briefwechsel. Leipzig 1901. S. 425. [Neu ediert in: Alexander von Humboldt. August Böckh. Briefwechsel. Hrsg. von Romy Werther unter Mitarbeit von Eberhard Knobloch. Berlin 2011 (Beiträge zu Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 33), S. 119/120.]

11 Kosmos I. S. 71.

12 Briefe an Varnhagen. S. 90.

13 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Naturphilosophie als Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zweiter Theil. Hrsg. v. D. Carl Ludwig Michelet. Berlin 1842, S. 224.

14 Moszkowski, Alexander: Einstein – Einblicke in seine Gedankenwelt. Hamburg/Berlin 1921. S. 54.

15 Boltzmann, Ludwig: Populäre Schriften. Leipzig 1905. S. 341.

16 Rosenberger, Ferdinand: Die Geschichte der Physik. III. Teil. Braunschweig 1887 – 1890. S. 166.

17 Stevens, Henry: The Humboldt Library. London 1863 (Reprint Leipzig 1967). S. 290/291, Nr. 4114 – 4118.

18 Briefe an Varnhagen. S. 43.

19 Du Bois-Reymond, Emil: Reden. Bd. II. Leipzig 1912. S. 277.

20 Haeckel, Ernst: Die Welträtsel. Leipzig 1922. S. 19.

21 Briefwechsel zwischen C[arl] F[riedrich] Gauss und H[einrich] C[hristian] Schumacher. Hrsg. v. C[hristian] A[ugust] F[riedrich] Peters. Bd. IV. Altona 1862. S. 337. Brief No. 944.

22 Marx, Karl, und Engels, Friedrich.: Werke. Bd. 20. Berlin 1962, S. 334.

23 Lenin, W. I.: Werke. Bd. 38. Berlin 1964.



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