Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 2015
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David Blankenstein, Bénédicte Savoy

Frontale Präsenz

Zu einem unbekannten Porträt Alexander von Humboldts im Besitz des französischen Conseil d’État

Zusammenfassung

Ein bislang unveröffentlichtes Porträt Alexander von Humboldts aus der Hand Frédéric d’Houdetots, ein Schüler des Malers Jacques-Louis David, bereichert die Humboldt-Ikonographie um eine Darstellung, die den berühmten Reisenden und Gelehrten als jungen Mann, wenige Jahre nach seiner Rückkehr aus Amerika zeigt – beeindruckend lebendig, fokussiert und präsent. Das 1807 während der Franzosenzeit in Berlin entstandene Porträt verweist als Teil eines im Conseil d’État in Paris aufbewahrten Porträt-Albums auf die Zirkel und Beziehungen, die sich in der besetzten preußischen Hauptstadt zwischen Besatzern, jüdischen Salonkreisen und der wissenschaftlichen Community gebildet haben, ein Nährboden für den transnationalen Austausch von Vertretern einer jungen und vitalen Generation, die sich als echte Europäer verstanden.

Résumé

Un portrait jusqu’à présent inédit d’Alexander von Humboldt par Frédéric d’Houdetot, élève de Jacques-Louis David, enrichit l’iconographie humboldtienne d’une effigie qui donne à voir le célèbre voyageur et érudit en jeune homme, quelques années seulement après son retour des Amériques – un portrait qui frappe par sa vitalité, sa concentration et la forte présence du savant. Dessiné dans le contexte de l’occupation de Berlin par l’armée napoléonienne et conservé au Conseil d’Etat à Paris, ce portrait est issu d’un album réunissant un grand nombre d’autres portraits de Berlinois des années 1800, qui témoigne des relations étroites que l’occupant put entretenir avec les représentants de l’élite juifs de la ville et la communauté scientifique, dans une dynamique propice aux échanges transnationaux d’une génération jeune, vitale et profondément européenne.

Summary

A previously unreleased portrait of Alexander von Humboldt, drawn by Jacques-Louis David’s disciple Frédéric d’Houdetot, adds a lively, focused and astonishingly present image to the iconography of Humboldt, that of the famous traveler and scholar as a young man, a few years after his return from the Americas. The effigy, traced in 1807 Berlin during the French occupation, is part of an album of portraits by Houdetot conserved in the Conseil d’État in Paris and throws some light upon the relationships that formed in the Prussian capital between members of the occupying forces, Jewish salon circles and the scientific community – a breeding ground for the transnational exchange of representatives of a young and vital generation that saw themselves as true Europeans.

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Abb. 1: Porträt Alexander von Humboldts « Bon de Humboldt 1807 », 1807, Bleistift auf Papier, laviert, 8 x 10,5 cm, Paris, Bibliothèque du Conseil d’Etat, Album Houdetot, n°116

Im Archiv des französischen Conseil d’État befindet sich seit 1987 ein bisher unbekanntes Porträt Alexander von Humboldts. Humboldt ist in schnellen Bleistiftzügen skizziert, in Nahsicht und frontal, das Gesicht leicht nach vorn geneigt. Dabei ist sein Blick konzentriert auf das Gegenüber gerichtet. Das Papier ist dick, etwas grob, das Format bescheiden: Es hat gerade die Größe einer Postkarte. Humboldt, oder besser sein jungenhaftes Gesicht und das Verwundene von Schal und Mantel, das wie ein Sockel für sein Antlitz ist, füllen das Blatt vollständig aus. Eine handgeschriebene Notiz auf dem Blatt verortet das Bild: „Bon Humboldt, Berlin 1807“. Die Frontalität, der enge Bildraum, das Spiel von Licht und Schatten schaffen eine ergreifende Präsenz. Unter den bis heute bekannten Porträts Humboldts scheint keines die in Briefen und Zeitungsartikeln seiner Zeitgenossen immer wieder beschriebene unvermittelte Vitalität des Wissenschaftlers, seine bestechende Persönlichkeit, die Schärfe seines Blickes und den Charme seiner Gesichtszüge besser wiederzugeben. Mit dieser Zeichnung wird die Ikonographie Alexander von Humboldts um ein wertvolles Dokument bereichert: Wertvoll in seiner Entstehung und seiner Materialität; wertvoll durch das, was es zu erzählen vermag über die Person Humboldts und seine deutsch-französischen Freundschaften während der Besetzung Berlins durch napoleonische Truppen im Jahr 1807. Wertvoll nicht zuletzt und besonders auch durch das, was es jenseits der üblichen Quellen der Historiker über die Gesellschaft mitzuteilen vermag: Als Objekt und nicht als Text, als kleine Zeichnung in diesem Fall, die uns durch ihre Frische und Plastizität daran erinnert, dass das gesellschaftliche Leben auch (und vielleicht vor allem) ein Spielfeld von Körpern, Gesten und Blicken ist.

Das Album Houdetot

„No 116: Portrait du baron de Humboldt.“ Unter diesem Titel ist das Porträt in der Bibliothek des Conseil d’État archiviert.1 Eingeklebt in ein gebundenes Album von 45 Blättern steht es 224 weiteren Porträts gegenüber, die Frédéric Christophe de Houdetot (1778–1856) größtenteils zwischen 1797 und 1835 anfertigte. Der Künstler entstammte einer sehr alten normannischen Familie, war Enkel einer der Schlüsselfiguren der Pariser Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts, der Salonière Sophie Lalive de Bellegarde, und seit 1806 Verwaltungsbeamter des Conseil d’État. Darüber hinaus und in diesem Zusammenhang entscheidend, war Houdetot in seiner Jugend Schüler der Maler Jacques-Louis David und Jean-Baptiste Regnault gewesen und hielt sich von 1806 bis 1808 als Angestellter der französischen Finanzverwaltung in Berlin auf.2 Sein Name ist, jenseits der späteren Etappen seiner erfolgreichen politischen Karriere (als Präfekt in Gent und Brüssel, pair de France, Abgeordneter des Departement Calvados), in Vergessenheit geraten. Das Album mit seinen Zeichnungen zeugt jedoch von einem offensichtlichen Talent für die Kunst, von einer frühen Meisterschaft der Techniken und der Ästhetik des Porträts, wie David sie um 1800 einer ganzen Generation junger europäischer Künstler vermittelte. Ein großer Zeuge für die Klasse Houdetots notiert zwei Jahrzehnte später: „Seine Malerei hat mir den größten Eindruck gemacht: an sie denken.“ Diese Worte sind von keinem geringeren als dem französischen Malerstar des Jahrhunderts Eugène Delacroix, festgehalten in seinem Tagebuch des Jahres 1824. Er fügt hinzu: „- Viel an die Zeichnung und den Stil des Herrn d’Houdetot gedacht.“ 3

Erst posthum zusammengestellt (eine Vignette auf dem Deckblatt zeigt an, dass das Album 1904 in seiner heutigen Form entstand), gehörte das „Album Houdetot“ den Nachfahren des Historienmalers Jean-Baptiste Debret, einem weiteren Schüler Davids, bis der Conseil d’État im Mai 1987 bei der öffentlichen Versteigerung des Albums sein Vorkaufsrecht geltend machte und es für seine Bibliothek erwarb. Die 225 Porträts, die es enthält, sind zu kleinen Rechtecken zurechtgeschnitten, auf dem recto jedes Albumblattes montiert und in annähernd chronologischer Ordnung. Von 1 bis 225 nummeriert sind auf den meisten handschriftlich Jahr, Ort und porträtierte Person notiert. Die Berliner Jahre beginnen auf Blatt 13 [Nr. 80] und zeigen etwa 60 Porträts aus der okkupierten preußischen Hauptstadt – allesamt bisher unveröffentlicht. Das „Album Houdetot“ hat kein ‚deutsches‘ Pendant. Es stellt somit eine ikonographische und soziologische Quelle besonderen Ranges für die Geschichte Berlins dar.

Berlin, die offene Stadt

Dominique-Vivant Denon, Louis-Philibert-Brun d’Aubignosc, Henri Clarke, Henri Campan, Jakob Ludwig Salomon Bartholdy, Loeb Salomon, Rebecca Friedländer, Rahel Levin (Varnhagen), Pauline Wiesel, Jean Bernoulli, Albertine Wilhelmine Luise Amalia von Voß, Gräfin von Borstell: Die Frauen und Männer, die Houdetot zwischen 1806 und 1807 in Berlin in seinen Zeichnungen festhielt, sind zumeist Teil der Gemeinschaft der französischen Besatzer, der jüdischen Intelligenzija Berlins und seltener auch der wissenschaftlichen Gemeinde der Stadt. Ihre Nähe auf dem Papier spiegelt die engen Kreise, in denen sie in Berlin agierten.

Man kann im Album zwei Arten von Porträts unterscheiden: Die einen wurden sehr schnell ausgeführt, wie aus einer kurzen Gelegenheit heraus entstanden. Sie sind nicht sehr zahlreich und wirken karikaturesk. Die anderen, der größere Teil, beeindrucken durch die Gleichmäßigkeit ihres Stils und die Qualität ihrer Ausführung. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Kategorien verläuft nicht zwischen Siegern und Besiegten, Deutschen und Franzosen, Juden oder Nicht-Juden, sondern vielmehr zwischen den Generationen. Die ältesten Porträtierten, die etablierten Persönlichkeiten, gehören zur ersten Kategorie: Denon (Direktor des Museé Napoléon, Abb. 3), Clarke (Gouverneur von Berlin), Bernoulli (bekannter Astrophysiker) etwa.

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Abb. 2: Berliner Persönlichkeiten, Seite aus dem Album Houdetot, 1806–1807, Bleistift auf Papier, laviert, verschiedene Formate, Bibliothèque du Conseil d’Etat, Album Houdetot, n°136–141

In der anderen Kategorie begegnet man jungen Erwachsenen, zwischen 20 und 30 Jahre alt, aus der Nähe und meistens in Frontalansicht festgehalten. Die Zeichnungen Houdetots zeigen keinerlei Unterscheidungen nach Nationalität oder Religion, noch enthalten sie Elemente, die das politisch schwierige Kräfteverhältnis der Berliner Okkupation andeuten. Die Gesichtszügen dieser jungen Menschen zeichnet eine gewisse Verwegenheit aus: intensive Blicke; herausfordernde Haltung und kalkulierte Lässigkeit; rebellische Frisuren, wie sie zu der Zeit modern waren. Zum Maler David hatte Goethe 1798 diese vielzitierten Worte notiert: „Die neue Energie unter David.“4 Dies scheint auch die gesamte von Houdetot hier festgehaltene Gesellschaft Berlins um 1800 zu charakterisieren. Als eine offene Stadt in der Peripherie des post-revolutionären Europas, bevölkert von Menschen, die man heute sicher „kreative Nonkonformisten“ nennen würde, stellte Berlin für die Pariser Elite der Besatzungsmacht eine terra incognita dar, wo es sich gut leben ließ. Fern von den Codes und sozialen Zwängen, denen sie in der französischen Hauptstadt – trotz der radikalen Umwälzungen der Revolution – weiterhin unterworfen waren.

Als Alexander von Humboldt sich auf Houdetots spielerische Porträtkunst einließ, war er beinahe 38 Jahre alt und sein Bekanntheitsgrad in Europa, seit seiner Rückkehr aus Amerika im Jahr 1804, enorm. Und doch zeigt Houdetot ihn hier nicht wie die anderen „arrivierten“ Persönlichkeiten im Album, ganz im Gegenteil: Das Porträt ist stilistisch deutlich der jungen Generation zugeordnet. Leider sind die genauen Umstände seiner Entstehung unbekannt. Doch der Stil einerseits und die Einordnung des Porträts in die Chronologie des Albums andererseits geben einige Hinweise auf die sozialen Netzwerke, die es dem jungen Houdetot ermöglichten, sich der gesellschaftlichen Größe Alexander von Humboldt so privat zu nähern und seine Züge in dieser beeindruckenden Intimität festzuhalten.

1806/07 war Humboldt Neu-Berliner: Nach seiner Rückkehr aus Amerika Ende 1804 hatte er sich zunächst in Paris aufgehalten, bevor er 1805 zu einer langen Italien-Reise aufbrach. Erst am Ende des Jahres kehrte er auf nachdrücklichen Wunsch des preußischen Königs nach Berlin zurück. In der deutschen Presse wurde seine Rückkehr gefeiert und, kaum angekommen, wurde er zu einer Vielzahl öffentlicher und privater Vorträge eingeladen. Durch die Erzählungen, wissenschaftlichen Präsentationen und persönlichen Gespräche wurden seine Reise und seine Arbeit von einer breiten Öffentlichkeit rezipiert. Man begegnete ihm überall, in den Salons und literarischen Clubs, am Hof des preußischen Königs, in der Akademie der Wissenschaften. Er erneuerte seine Verbindungen zu den Berliner wissenschaftlichen Kreisen und nahm z. B. an den Beobachtungen der Sonnenfinsternis Mitte Juni 1806 teil. Seine Rückkehr war also eine erfolgreiche. Und doch fühlt er sich in Berlin einsam: „Ich führe hier ein traurig isoliertes Leben. Ich habe niemanden hier, mit dem mir wohl wäre, und das ist eine fürchterliche Empfindung, “ liest man beispielsweise im Mai 1806 in einem Brief an Caroline von Wolzogen.5

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Abb. 3: Dominique-Vivant Denon « M. Denon Berlin 1807 », 1807, 7 x10 cm, Bleistift auf Papier, Paris, Bibliothèque du Conseil d’Etat, Album Houdetot, n°85

Einige Monate später, am 27. Oktober 1806, marschierten Napoleon und die Grande Armée in Berlin ein und besiegelten damit den endgültigen Triumph über Preußen. Auch Humboldt verspürte die Erniedrigung, die seinem Land widerfuhr und erklärte sich die Niederlage mit dessen in Urzeiten zurückreichende Unfähigkeit sich zu erneuern. Noch im Februar 1807 vertraut er dem Maler François Gérard seine Unsicherheit angesichts der politischen Situation an, die er selbst ebenfalls als eine psychologische und soziale Unsicherheit empfindet: „Seit meiner Rückkehr aus Italien, vor allem seit die Wege meines engen Freundes Gay-Lussac sich hier von den meinen getrennt haben, lebe ich in einer tiefen Traurigkeit. Die Ereignisse, die gerade unsere politische Unabhängigkeit zerschlagen haben und jene, die dieser furchtbaren Niederlage den Boden bereitet haben, lassen mich die Wälder des Orinoko schmerzlich vermissen, die majestätische und wohltuende Einsamkeit dieser Natur. Nachdem ich während der letzten zehn oder zwölf Jahre von einem steten Glück begleitet wurde, nachdem ich weit entfernte Regionen bereist habe, kehre ich nun zurück um die Misere meines Vaterlandes zu teilen! Die Hoffnung Ihnen bald wieder ein wenig nähern zu sein, tröstet mich ein wenig. Ich werde dieses Projekt angehen, sobald der Takt und meine Verpflichtungen es mir erlauben werden.“6

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Abb. 4: Rahel Levin [Varnhagen] « Rahel Lievin Berlin 1807 », 1807, Bleistift auf Papier, 7 x 9 cm, Paris, Bibliothèque du Conseil d’Etat, Album Houdetot, n°124

Zwischen Taktgefühl und Verpflichtungen galt es für Humboldt 1807 die gedemütigte preußische Hauptstadt nicht zu schnell zu verlassen. Er schloss sich in den jüdischen und nicht-jüdischen Salons und den literarischen Zirkeln der Sache der intellektuellen Elite an und spielte eine wichtige Vermittlerrolle zwischen Siegern und Besiegten. Während der König und sein Hofstaat die Stadt verlassen hatten, ging es in den Berliner Salons nicht um Widerstand gegen die Besatzer, sondern vielmehr um das Nachdenken über längst überfällige Reformen des preußischen Staates. Dieser Gedanke ist nicht neu: Bereits im Jugendalter hatte Humboldt diese Ideen in den Salons der Aufklärung diskutiert; nach 1789 hatten er und andere sich unter dem Eindruck der französischen Revolution und inspiriert von Immanuel Kant und Moses Mendelssohn eine neue Gesellschaft ausgemalt. Dieser Logik folgend und trotz des Schocks, den die Niederlage ausgelöst hatte, wurde die Einrichtung einer französischen Verwaltung in Berlin Ende 1806 von der intellektuellen Elite auch als dynamisierendes Moment, als Einzug der Moderne im sandigen Brandenburg empfunden. Dies erklärt die Neugier und sogar Sympathie, die den französischen Beamten, selbst jung und kultiviert, in Berlin entgegengebracht wurde und damit auch die Einfachheit, mit der ein junger Mann wie Houdetot Beziehungen zur kultivierten Jugend der Stadt aufnehmen konnte.

Europäisch sprechen

Die jungen Frauen und Männer, die im Album des Conseil d‘État festgehalten sind, bilden in Berlin, zumindest für einige Monate, eine Gesellschaft, die offen ist für alle Konfessionen, Nationalitäten und Geschlechter. Humboldt war einer von ihnen und eine der Schlüsselfiguren der Berliner Gesellschaft, wie es uns von Rahel Varnhagen überliefert wird. In mancher Hinsicht liest sich die folgende Quelle wie ein Kommentar zum Album Houdetots. Adressiert an einen ihrer Brüder, schreibt Varnhagen in einem Brief im Januar 1807:

Er [Meyer, i.e. Moritz Robert-Tornow] übt sich in l’Europe, wie ich die französische Sprache nenne; ist viel bei mir, übersetzt, list manches, muß gute Gesellschaft sehen: goutirt, und ist von Humboldt protegirt – wegen ihres Spassens und witzlens – den ich viel sehe; auch einige sehr artige Franzosen. Mrs Campan Sohn der Erziherin, Bujac, und Taboureau den M: von Amsterdamm kannte; C: ist sehr wohlerzogen und unterrichtet Bu: kennst du; der Andere ist honnet nicht ohne Kentniße, gereist und mehr als bescheiden etwas furchtsam: er sagt er kennt Dich, er habe Dich mit dem marchand Heine gesehen. Diese Herren Delmar, Pauline, Rebecca machen meine soirée aus. Sie trinken alle Bier: Humb: auch. Humb: liest uns was und ist, und bemüht sich liebenswürdig zu seyn. Vorgestern lernnten die Franzosen Mam Bethm: bey mir kennen. Sie hatte es verlangt. Sie spricht noch kein Wort Europäisch. Die Gesellschaft war aber zufrieden mit einander.7

Mit einer faszinierenden Direktheit zeugt auch das Album Houdetots von dieser Jugend in Berlin, welche über die Nationalitäten hinweg zuerst europäisch sein will. Eine junge Gesellschaft, die Alexander von Humboldt zu ihren Mitgliedern zählt, aber auch, das lässt das wiederholte Auftauchen der Züge einer schönen, jungen Frau in den Zeichnungen des Albums vermuten, sich erotisch befreit fühlt. Zwölf Mal zeichnet Houdetot Rebecca Friedländer, von Rahel Varnhagen gerade erwähnt, in vertrauten Haltungen und mit kokettem Blick, im Gesichts- und Ganzkörperporträt.

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Abb. 5: Rebecca Friedländer [Regina Frohberg] « Mme Friedlander Berlin 1807 », 1807, Bleistift auf Papier, laviert, 9 x 9 cm, Paris, Bibliothèque du Conseil d‘Etat, Album Houdetot, n°113

Ihr Leben gehört – sie ist gerade 24 Jahre alt, aber verheiratet und bereits wieder geschieden – zu ebenjenen „wilden Lebensläufen“8 des Berlins um 1800. Bevor sie später Schriftstellerin wurde, erlebte sie ein leidenschaftliches Abenteuer mit Houdetot, von dem sie Tag für Tag in den Briefen an ihre Freundin Rahel schrieb – amour fou, Heiratsantrag, Zukunftspläne von einem Leben in Frankreich – doch dann: Briefe ohne Antwort, enttäuschte Leidenschaft und zuletzt ein gebrochenes Herz. Seit dem sehr schönen Aufsatz, den Marc Fumaroli dem Briefwechsel von Alexander von Humboldt und Claire de Kersaint gewidmet hat, ist bekannt, wie sensibel Humboldt für die Sinnlichkeit der Gesellschaft war.9 Sein Porträt im „Album Houdetot“ ist hierfür ein mehr als sprechendes Zeugnis.

Übertragen aus dem Französischen von Philippa Sissis

Literatur

Bruhns, Karl (Hrsg.) (1872): Alexander von Humboldt. Eine wissenschaftliche Biographie, Bd. 1. Leipzig: F. A. Brockhaus.

Fumaroli, Marc (2014): Culture et civilisation: l’amitié entre Alexander von Humboldt et Claire de Kersaint, duchesse de Duras, d’après les lettres d’Alexander (1815–1827). In: Les frères Humboldt, l’Europe de l’esprit. Hg. von Bénédicte Savoy und David Blankenstein. Paris: Monza, 23–38.

Gérard, Henri (Hg.) (1867): Correspondance de François Gérard peintre d’histoire. Paris: Ad. Lainé et J. Havard.

Graber, Hans (Hg.) (1938): Der junge Delacroix. 1798–1832. Briefe, Tagebücher, Werke. Basel: Schwabe.

Hesbert, Jean (2011): Entre lumière et ombre: Frédéric d’Houdetot et Madeleine Masseron. Paris: Guenegaud.

Levin Varnhagen, Rahel (2001): Briefwechsel mit Ludwig Robert. Hg. von Consolina Vigliero. München: Beck.

Wiedemann, Conrad (2009): Die wilden Lebensläufe von Berlin. In: Kennen Sie Preußen – wirklich? Das Zentrum „Preußen – Berlin“ stellt sich vor. Hg. von Wolfgang Neugebauer und Bärbel Holtz. Berlin: Akademie Verlag.

1 Paris, Bibliothèque et archives du Conseil d’État, Inv. 200008, No 116.

2 Hesbert 2011. Diese Monographie thematisiert allerdings Houdetots künstlerische Ausbildung gar nicht und geht nur kurz auf seinen Aufenthalt in Berlin ein.

3 Graber 1938, 147

4 Goethe 1988, 973

5 Alexander von Humboldt an Caroline von Wolzogen, Berlin, 14. Mai 1806, zitiert nach: Bruhns 1872, 418

6 Alexander von Humboldt an François Gérard, Berlin, 12. Februar 1807, zitiert nach: Gérard 1867, 228f. (unsere Übersetzung)

7 Rahel Levin an Ludwig Robert, Berlin, 30. Januar 1807, zitiert nach: Levin Varnhagen 2001, 75.

8 Wiedemann 2009.

9 Fumaroli 2014.

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