1. |
I.
Geschichte und Weg in den Europarat
|
|
Nach dem Rückzug der Römer aus dem mittleren
Donautal am Ende des 3. Jh. n. Chr. waren auf dem Gebiet des heutigen
Ungarn zunächst hunnische und germanische Stämme ansässig.
Unter Attila (gest. 453) bildete es den Mittelpunkt des Hunnenreiches;
später wurde es von den Awaren kontrolliert.
Ab 896 nahm der Volksstamm der Magyaren aus Südrußland kommend
den Donau-Karparten-Raum in Besitz. Unter Géza I. (um 971-997)
wurden die ungarischen Stämme geeint und unter seinem Sohn Stephan
I., dem Heiligen (997-1038), christianisiert. Nach vorübergehender
deutscher Lehensabhängigkeit in der Mitte des 11. Jh. unterwarf
Ungarn die Slowakei und wurde Ende des 11. Jh. in Personalunion mit
Kroatien verbunden. Um 1150 begann unter König Géza II.
(1141-1162) die Ansiedlung von Deutschen in Siebenbürgen, den sog.
Siebenbürger Sachsen.
Während der Regierungszeit des Luxemburgers Sigismund (deutscher
König seit 1410, seit 1433 deutscher Kaiser) begannen die ersten
Einfälle der Türken. Bereits knapp zweihundert Jahre zuvor
(1241 - 1242) hatten Mongolen das Land besetzt, konnten jedoch schließlich
erfolgreich zurückgedrängt und ihr Vormarsch nach Europa endgültig
gestoppt werden. Mit dem Sieg von J. Hunyadi bei Belgrad (1456) wurde
auch der Vormarsch der Türken für eine Weile aufgehalten,
und während der Regierungszeit seines Sohnes Matthias I. Corvinus
(1459-1490), der auch Mähren, Schlesien, die Lausitz, Niederösterreich
und die Steiermark eroberte, erlebte Ungarn eine wirtschaftliche und
kulturelle Blütezeit. Unter der nachfolgenden Dynastie der Jagiellonen
zerfiel die Zentralmacht jedoch wieder, der Bauernkrieg von 1514 wurde
grausam niedergeschlagen und die Leibeigenschaft gesetzlich fixiert.
Im Jahr 1526 wurde die noch von diesem Krieg geschwächte Adelsarmee
von den Türken zurückgeschlagen, woraufhin Ungarn in drei
Teile zerfiel: Westungarn wurde österreichische Provinz, Zentralungarn
türkisch und Ostungarn ein zunächst unter türkischer
Oberhoheit stehendes, später selbständiges Fürstentum.
Nach der
erfolglosen türkischen Belagerung Wiens im Jahr 1683 wurde Ungarn
im darauf folgenden Großen Türkenkrieg rasch von kaiserlichen
Truppen erobert. Im Frieden von Karlowitz (1699) traten die Osmanen
die Herrschaft über Ungarn (ausgenommen den Banat, Kroatien und
Slawonien) an die Habsburger ab. Der ungarische Freiheitskampf (1703-1711)
endete mit dem Frieden von Sathmar, in dem die Rechte der ungarischen
Stände gesichert und Religionsfreiheit garantiert wurde. Einige
Jahre darauf stimmte der ungarische Landtag als Gegenleistung der Unteilbarkeit
des Habsburgerreiches zu. Durch die vor allem unter Maria Theresia in
der Batschka und im Banat vorgenommene Kolonisation wurden die Magyaren
allmählich zur Minderheit. Immer wieder beharrten die Stände
auf ihren Sonderrechten wie der Steuerfreiheit des Adels und dem Leibeigenschaftssystem.
Die Reformpolitik Josefs II. (1780-90), der erneut Religionsfreiheit
garantierte, die Freizügigkeit für Leibeigene einführte
und Deutsch als Verwaltungssprache bestimmte, scheiterte am Widerstand
des ungarischen Adels.
Im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erwachte das von
einem kulturellen Aufschwung und wachsender Unzufriedenheit mit der
Herrschaft der Österreicher begleitete ungarische Nationalbewußtsein.
Nach einem von Revolutionsfurcht getragenen Polizeiregime unter Franz
II. (1792-1835) brach unter dem Eindruck der Revolutionen in Paris und
Wien am 15. März 1848 in Pest die ungarische Revolution aus. Schon
zwei Tage später akzeptierte Wien die Bildung einer liberalen ungarischen
Regierung. Im September desselben Jahres kam es jedoch zum offenen Bruch
mit Habsburg, ungarische Truppen bezwangen die österreichische
Armee, und am 14. April 1849 erklärte sich Ungarn für unabhängig.
Erst mit russischer Hilfe konnte Österreich im August 1849 den
ungarischen Freiheitskampf niederwerfen. Ungarn wurde in die zentralistische
österreichische Verwaltung eingegliedert und wie die übrigen
österreichischen Kronländer regiert.
Nach der Niederlage Österreichs im Krieg mit Preußen von
1866 wurde im Jahr 1867 der österreichisch-ungarische Ausgleich
geschlossen. Durch ihn wurde Ungarn in Realunion mit Österreich
ein selbständiges Königreich. Der im darauffolgenden Jahr
geschlossene kroatisch-ungarische Ausgleich regelte das Verhältnis
zu Kroatien mit Slawonien. Bereits 1860 war das Banat wieder zu Ungarn
gekommen, und Ende 1868 war auch die Union Siebenbürgens mit Ungarn
vollzogen.
Die in dem Ausgleich von 1867 garantierte Gleichberechtigung aller Nationalitäten,
die vor allem eine Lösung der durch Autonomiebewegungen verkomplizierten
Nationalitätenfrage vorausgesetzt hätte, wurde jedoch nicht
erreicht. Immer häufiger kam es zu sozialen, sich in Arbeiterunruhen
äußernden Konflikten und ethnischen Spannungen. Grund für
diese Spannungen waren sowohl die Magyarisierungspolitik der Regierung
als auch die Zunahme nationaler Intoleranz auf allen Seiten. Der ungarische
Nationalismus hatte dabei allerdings die Staatsmacht auf seiner Seite
und war somit in der stärkeren Position als die im Land lebenden
Minderheiten. In dieser konfliktträchtigen Atmosphäre war
somit auch der Durchsetzung der an sich bemerkenswert liberalen Minderheitengesetzgebung
kein Erfolg beschieden. Ihr Kernstück, das Nationalitätengesetz
von 1868, bestimmte zwar Ungarisch als Staatssprache, ließ jedoch
Minderheitensprachen auf der regionalen und lokalen Ebene und besonders
gegenüber den Kirchen in weitem Maße zu.
Erst I. Graf Tisza, der von 1913 - 1917 das Amt des Ministerpräsidenten
bekleidete, bemühte sich angesichts des auf Expansion ausgerichteten
Nationalismus Serbiens und Rumäniens um eine Einigung mit den Nationalitäten.
Zu diesem Zeitpunk war es dazu allerdings bereits zu spät. Nach
der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand
in Sarajewo (28. Juni 1914) war Wien darauf bedacht, dieses Attentat
zur Niederwerfung Serbiens auszunutzen. Nachdem Deutschland Rückendeckung
gegen Rußland signalisiert hatte, erklärte Österreich-Ungarn
am 28. Juli Serbien den Krieg
.
4. |
3. Die Republik
Ungarn und die restaurierte Monarchie
|
nach
oben |
Im
Ersten Weltkrieg kämpfte Österreich-Ungarn auf der Seite des
Deutschen Reiches. Mit dem im September 1918 einsetzenden militärischen
Zusammenbruch begann auch der Zerfall der Habsburgermonarchie, und am
17. Oktober 1918 erklärte Ungarn seine Unabhängigkeit. Diese
Trennung wurde in den Verträgen von Saint-Germain-en-Laye (1919)
und Trianon (1920) bestätigt. Ungarn verlor hiermit allerdings
auch weite Gebiete im Süden und Osten des Landes an Tschechien,
Rumänien und Serbien. Zurück blieben ein Staatsgebiet, das
nurmehr ein Drittel des ursprünglichen Territoriums umfaßte
und eine um die Hälfte reduzierte Bevölkerung. Etwa 3 Mio.
Magyaren lebten nun außerhalb der neuen Landesgrenzen als nationale
Minderheiten. Durch den Verlust der vorwiegend von bäuerlichem
Klein- und Mittelbesitz geprägten Randgebiete wurde das Übergewicht
des in Zentralungarn vorherrschenden Großgrundbesitzes verstärkt,
und ein Heer von arbeitssuchenden Landarbeitern und Kleinstbauern sorgte
für sozialen Zündstoff.
Am 16. November 1918 wurde die "Republik Ungarn" ausgerufen.
Die seit dem 31. Oktober 1918 bestehende Regierung unter M. Graf Károly,
die für die harten Friedensbedingungen verantwortlich gemacht wurde,
mußte im März 1919 einer von Béla Kun dominierten
sozialdemokratisch-kommunistischen Räterepublik weichen, die mit
Enteignungen und politischem Terror eine Diktatur des Proletariats propagierte.
Ihre Bemühungen um internationale Anerkennung schlugen jedoch fehl,
und mit Hilfe der Entente-Alliierten griffen Mitte April tschechische
und rumänische Truppen das Land an. Angesichts der ausweglosen
militärischen Lage dankte der regierende Rat am 1. August 1919
ab. Ihm folgten mehrere schwache und mehrfach umgebildete Regierungen
in dem von rumänischen Truppen besetzten Budapest. Währenddessen
hatte sich unter dem Schutz der französischen Besatzung in Szeged
schon im Mai desselben Jahres eine gegenrevolutionäre Regierung
unter M. Horthy gebildet. Zusammen mit seiner Nationalarmee zog er am
16. November 1919 in Budapest ein, und blutig wurde mit den Anhängern
der alten Räterepublik abgerechnet. Das schon im Februar 1919 ausgesprochene
Verbot der Kommunistischen Partei blieb bestehen. Bei den Anfang 1920
stattfindenden Wahlen zur Nationalversammlung siegte die Partei der
Kleinen Landwirte. Als "Einheitspartei" sicherte sie unter
wechselnden Namen noch bis 1944 den Regierungen einen beständigen
Rückhalt. Die Monarchie wurde trotz späterer Thronenthebung
der Habsburger (6. November 1921) beibehalten und Horthy als Reichsverweser
an ihre Spitze gewählt.
Der von restaurativen Kräften unterstützte Horthy richtete
die Außenpolitik konsequent auf eine Revision der harten Friedensbedingungen
aus und versuchte durch Anlehnung an Mussolini und Hitler günstigere
Grenzregelungen zu erreichen. Soziale Reformen des Landes wurden dabei
weitgehend zurückgestellt. Zwar gelang es Ungarn, in Folge der
Wiener Schiedssprüche von 1938/40 und durch die Teilnahme am Angriffskrieg
gegen Jugoslawien im Jahr 1941 einen Teil der im Ersten Weltkrieg verlorenen
Gebiete zurückzugewinnen, doch hatte dies mit dem Beitritt zum
Antikominternpakt (13. Januar 1939) und der Teilnahme an den deutschen
Angriffskriegen in Südosteuropa und gegen die Sowjetunion teuer
bezahlt werden müssen.
Mit dem allgemein unpopulären Rußlandfeldzug und der sich
dabei abzeichnenden Niederlage des Deutschen Reiches 1943 wuchs der
Wunsch, ins alliierte Lager zu wechseln. Am 19. März 1944 besetzten
daraufhin deutsche Truppen das Land, entmachteten nach geheimen Waffenstillstandsverhandlungen
mit den Sowjets (Moskauer Vereinbarung, 11. Oktober 1944) Horthy und
ersetzten ihn durch den Faschisten Férencz Szálasy. Nun
begann auch in Ungarn die systematische Verfolgung von Juden und Zigeunern,
der letztlich ca. 450.000 Menschen zum Opfer fielen.
5. |
4.
Volksdemokratie und kommunistische Herrschaft
|
nach
oben |
Vom
23. September 1944 bis zum 4. April 1954 besetzten schrittweise sowjetische
Truppen das Land. Schon Ende 1944 hatte sich eine provisorische Gegenregierung
gebildet, die einen Waffenstillstand mit den Sowjets schloß und
Deutschland den Krieg erklärte. Am 1. Februar 1946 wurde die ungarische
Republik ausgerufen, und mit dem Pariser Frieden vom 10. Januar 1947
die ungarischen Grenzen vom 1. Januar 1938 - das heißt der nach
dem ersten Weltkrieg entstandene Grenzverlauf - wiederhergestellt. Zwischen
1946 und 1948 wurden ca. 170.000-180.000 Deutsche aus Ungarn ausgesiedelt,
jeweils etwa 50-60.000 Deutsche und Slowaken gingen aus eigenem Antrieb.
Gleichzeitig strömten aus Rumänien, Jugoslawien und der Slowakei
insgesamt gut 300.000 ungarische Flüchtlinge in das Land. Im Ergebnis
wurde Ungarn immer mehr zu einem national homogenen Staat mit zwar noch
vorhandenen, aber längst nicht mehr so bedeutenden nationalen Minderheiten.
Obwohl die gemäßigte Partei der Kleinlandwirte in den Parlamentswahlen
von 1945 die absolute Mehrheit erreicht hatte und mit Zoltán
Tildy auch den ersten Präsidenten stellte, erlangten die von der
sowjetischen Militärmacht unterstützten Kommunisten unter
ihrem Generalsekretär Màtyàs Ràkosi rasch
die Oberhand und leiteten die Sowjetisierung des Landes ein. Die Sozialdemokraten
mußten sich mit der KP vereinigen, und bis 1948 waren fast alle
Parteien verboten oder hatten sich aufgelöst. Es entwickelte sich
ein rigoroses stalinistisches System, das auch den Konflikt mit der
katholischen Kirche nicht scheute und brutal gegen innerparteiliche
Oppositionelle vorging. Mit der Verfassung vom 18. August 1949 wurde
Ungarn eine Volksrepublik. Das Land wurde in bilaterale Verträge
mit der UdSSR eingebunden, war Mitglied der Kominform, des RGW und des
Warschauer Paktes.
6. |
5. Die Bestrebungen
Ungarns zu einer demokratischen Regierungsform
|
nach
oben |
Im Zuge der vorsichtigen sowjetischen Entstalinisierungsprozesse
unter Chruschtschow wurde auch das politische Klima in Ungarn milder.
Auf den Stalinisten M. Rákosi folgte 1953 I. Nagy als Ministerpräsident.
Er führte politische und wirtschaftliche Reformen durch, scheiterte
jedoch schließlich am Widerstand der dogmatischen Kräfte
um den immer noch das Amt des Generalsekretärs bekleidenden Rákosi
und dessen Nachfolger E. Gero. Die unnachgiebige Haltung Geros führte
schließlich nach Studentendemonstrationen am 23. Oktober 1956
zum ungarischen Volksaufstand, der erst durch den Einsatz sowjetischer
Panzer niedergeschlagen werden konnte. Fast 200.000 Ungarn flüchteten
daraufhin ins westliche Ausland.
Unter der prosowjetischen Potitik des neuen Parteisekretärs und
späteren Regierungschefs János Kádár erholte
sich das Land politisch und wirtschaftlich und fand den Weg zu einem
selbständigen und vergleichsweise liberalen, auch Gulaschkommunismus
genannten Sozialismusmodell. Reformorientierte Kräfte innerhalb
der Kommunistischen Partei, die durch die sowjetische Politik von Glasnost
und Perestroika noch verstärkt wurden, ermöglichten schließlich
ab 1988 den Übergang zu einer umfassenden Liberalisierung, zum
politischen Pluralismus und zur Marktwirtschaft. Kádár
wurde abgewählt und die kommunistische Partei genötigt, auf
ihr Machtmonopol zu verzichten und die Grenzen zu öffnen. Die dadurch
ausgelöste und in diesem Ausmaß nicht vorhergesehene Flüchtlingswelle
hauptsächlich jüngerer DDR-Bürger beeinflußte und
beschleunigte den politischen Umbruch in der DDR und im ganzen Ostblock.
Ungarn wurde zum Vorreiter einer demokratischen Bewegung, die in wenigen
Monaten auf die benachbarten Staaten des sozialistischen Lagers übergriff
und das Ende der kommunistischen Alleinherrschaft in Ostmittel- und
Südosteuropa bedeutete
.
Nach der Verfassung vom 18. August 1949, die 1972, 1989
und 1990 weitgehend revidiert wurde, ist Ungarn eine parlamentarische
Republik. Träger der gesetzgebenden Gewalt ist das auf 4 Jahre
gewählte Einkammernparlament. Von ihm werden der Präsident
(das Staatsoberhaupt) und als Exekutivorgan der unter der Leitung des
Ministerpräsidenten arbeitende und dem Parlament zur Rechenschaft
verpflichtete Ministerrat gewählt. Seit Oktober 1989 gibt es in
Ungarn ein Mehrparteiensystem. Die allgemeine Gerichtsbarkeit ist in
den Obersten Gerichtshof und die ihm nachgeordneten Komitats- und Kreisgerichte
gegliedert. Sie sind für Straf- Zivil-, Wirtschafts- und Verwaltungsrechtssachen
zuständig; als besondere Gerichte gibt es bisher nur die Arbeitsgerichte.
Es wird allerdings erwogen, zumindest die Verwaltungsgerichtsbarkeit
institutionell zu verselbständigen. Seit 1990 existiert auch ein,
für eine umfassende Normenkontrolle zuständiges Verfassungsgericht.
Seine 15 Mitglieder werden mit 2/3-Mehrheit vom Parlament gewählt.
Mit einer Verfassungsbeschwerde oder Popularklage steht auch dem einzelnen
Bürger der Zugang zu ihm offen.
Mit den ersten Parlamentswahlen im März 1990 zog zur Enttäuschung
der Reformkommunisten eine Koalition aus dem national-konservativen
Demokratischen Forum, dem Bund Freier Demokraten und der Christlich-Demokratischen
Volkspartei unter dem Ministerpräsidenten Jósef Antall ins
Parlament ein.
Staatspräsident wurde der am 3. August 1990 gewählte Schriftsteller
Arpéd Göncz (Bund Freier Demokraten). 1994 erlangte die
Ungarische Sozialistische Partei unter dem ehemaligen Außenminister
Gyula Horn die absolute Mehrheit im Parlament. Um die Verantwortung
für die anstehenden Aufgaben zu teilen, bildete Horn dennoch eine
Koalitionsregierung mit dem die zweitstärkste Kraft stellenden
liberalen Bund Freier Demokraten. Horn wurde Ministerpräsident.
Seit den Wahlen von 1998 ist eine nicht ganz spannungsfreie Mehrparteienkoalition
unter dem Vorsitz von Viktor Orban im Amt; Staatspräsident ist
der am 6. Juli gewählte Ferenc Mádl.
Angesichts der Tatsache, daß neben den ca. 10,6
Mio. innerhalb des Landes lebenden Ungarn weitere 3,5 Mio auf die benachbarten
Länder verteilt sind (2 Mio. in Rumänien, 600.000 in der Slowakei,
720.000 im ehemaligen Jugoslawien und 200.000 in der Ukraine), hat sich
Ungarn stets für einen möglichst weitreichenden internationalen
Minderheitenschutz eingesetzt und versucht, selbst mit gutem Beispiel
voranzugehen. Schon im Völkerbund bemühte es sich immer wieder
um eine Ausweitung des allgemeinen Minderheitenschutzes.
Heute genießen die insgesamt 13 von Ungarn anerkannten nationalen
Minderheiten (darunter Zigeuner, Deutsche, Kroaten, Rumänen und
Slowenen) besonderen Schutz. Im Minderheitengesetz von 1993 werden den
Angehörigen von Minderheiten - von der Verfassung sogar als konstituierende
Elemente des Staates bezeichnet - weitgehende individuelle und kollektive
Rechte eingeräumt, so vor allem kulturelle Autonomierechte wie
das auf muttersprachlichen Unterricht. Frei gewählte Minderheitenselbstverwaltungen
und das dem Justizministerium zugeordnete Amt für nationale und
ethnische Minderheiten setzen sich für ihre Rechte ein. In Fällen
von Diskriminierung und Rassismus können sich ihre Angehörigen
seit Sommer 1995 an den Parlamentarischen Beauftragten für Minderheitenrechte
wenden, und seit März 1999 beschäftigt sich eine dem Ausschuß
für Menschen-, Minderheitenrechte und Religion des Parlaments zugeordnete
ad hoc-Kommission aus Abgeordneten, Minderheiten- und Regierungsvertretern
mit den Fragen der Minderheitenvertretung im Parlament. Aber auch den
im Ausland lebenden Ungarn sind durch bilaterale Grundverträge
(Ukraine 1991, Slowenien 1992, Rumänien 1996) besondere Rechte
und Schutz garantiert.
Als erstes Land aus Mittel- und Osteuropa wurde Ungarn
am 6. November 1990 in den Europarat aufgenommen. Ungarn hat die EMRK
und die Protokolle Nr. 1, 4 und 6 am 5. November 1992 ratifiziert. Es
folgten das Europäische Übereinkommen zur Verhütung der
Folter1,
das 11. Protokoll zur EMRK, die Sprachencharta2,
das Minderheitenübereinkommen3
und die europäische Sozialcharta in der Fassung von 1961. Ungarn
ist Mitglied der Vereinten Nationen, OSZE, WTO, IWF, OECD und assoziiertes
Mitglied der EU. Unter den Beitrittskandidaten nimmt es eine Spitzenposition
ein und ist fest entschlossen, bis Ende 2002 die Kriterien für
den Beitritt zur EU zu erfüllen. Die Aussichten dafür sind
nicht schlecht. Wie die EU-Kommission bestätigt, hat Ungarn eine
funktionierende Marktwirtschaft und ist dabei, die rechtlichen Vorschriften
an das neue System anzupassen. Auch tätigt Ungarn schon jetzt den
Großteil seines Handels mit der EU. Das Wirtschaftswachstum betrug
im letzten Jahr 6,2 %, die Arbeitslosenquote ist nach einem Hoch von
12, 5 % im Jahre 1993 auf heute 6,5 % gefallen. Probleme gibt es allerdings
noch mit der relativ hohen Inflationsrate von ca. 10 %, der Ineffizienz
der regionalen Verwaltung und der Korruption. Außerdem bestehen
Anpassungsschwierigkeiten in der Landwirtschaft, ein großes Wohlstandsgefälle
zwischen West- und Ostungarn, und trotz des weitreichenden Minderheitenschutzes
kommt es immer wieder zu Diskriminierungen von Roma.
Mit ausländischen Direktinvestitionen von 20 Milliarden Dollar
und 34.000 ausländischen Unternehmen, die sich seit der Wende vor
zehn Jahren in dem Land etabliert haben, steht Ungarn an der Spitze
der mittel- und osteuropäischen Transformationsländer. Dennoch
sehen sich zwei Drittel seiner Bürger als Verlierer des politischen
und wirtschaftlichen Umbruchs; über die Hälfte hält noch
immer Großbetriebe in Privatbesitz für schädlich. Besonders
stark ist die Ablehnung von Immobilien- und Unternehmensbesitz von Ausländern;
lediglich die Jugend und gut ausgebildete Bevölkerungsgruppen unterstützen
diese Entwicklung. Noch immer leidet ein großer Teil der ungarischen
Bevölkerung unter dem Einbruch des Lebensstandards, und die Schuld
an dieser Entwicklung wird weniger der kommunistischen Mißwirtschaft
als dem neuen System gegeben.
|
II.
Ungarns Bilanz vor den Straßburger Instanzen
|
nach
oben |
Seit Ungarns Ratifikation der Konvention am 5. November 1992 ist
über die Zulässigkeit von 46 Beschwerden entschieden worden.
Vorgelegt wurden hauptsächlich Verstöße gegen Art.
6 Abs. 14,
aber auch Verstöße gegen die Art. 3, 8 und 13 wurden mehrfach
angeführt.
Da in allen Fällen eine Konventionsverletzung erst ab dem 5.
November 1992 geprüft werden konnte, wirkte sich dies besonders
auf die Klagen wegen überlanger Verfahrensdauer aus, und ein
Großteil der Beschwerden mußte wegen offensichtlicher
Unbegründetheit gem. Art. 35 Abs. 3 abgewiesen werden. Im Rahmen
von Art. 3 wurde mehrmals eine schlechte Behandlung durch die Polizei
gerügt. Diese Beschwerden scheiterten teils daran, daß
der nationale Rechtsweg noch nicht erschöpft war, teils aber
auch daran, daß die Kommission aus dem vorgebrachten Sachverhalt
keine Verletzung erkennen konnte.
Nur 8 Beschwerden waren teilweise und 4 vollständig zulässig.
Die dabei geltend gemachten Verletzungen bezogen sich bis auf wenige
Ausnahmen auf die Rechte aus Art. 6 Abs. 1.
So brauchte
es zum Beispiel bei einer Erbstreitigkeit5
über 5 Jahre, bis die vom Kläger eingereichte Anfechtung
des Testaments von dem Gericht zurückgewiesen wurde. In einem
weiteren Fall zog sich eine arbeitsrechtliche Streitigkeit6
über 9 Jahre (1987 bis 1996) hin. Ein anderes Mal7
hatte ein älteres Ehepaar die Korrektur eines Grundbucheintrags
beantragt. Erst Ende 1996 war, und auch das nur zum Teil, über
den bereits im März 1984 eingereichten Antrag entschieden worden.
In allen drei Fällen bejahte die Komission eine Verletzung von
Artikels 6 Abs. 1. In einer gütlichen Einigung verpflichtete
sich die Regierung jeweils, dem Kläger den immateriellen Schaden,
in einem Fall auch die Anwaltskosten, zu ersetzen.
Zu einer Entscheidung des Ministerkomitees kam es nach einer weiteren,
ebenfalls Art. 6 Abs. 1 betreffenden Klage8.
Hier hatte sich eine Streitigkeit wegen Hausfriedensbruchs und verschiedenen
Unterlassungsklagen über 13½ Jahre hingezogen. Obwohl
auch hier nur die Zeit nach Ungarns Beitritt zur Konvention berücksichtigt
werden konnte, verblieben noch gute 5 Jahre, in denen das Gericht
lange Zeit untätig geblieben war. Dem Kläger wurden insgesamt
1.100.000 HUF (1.000 HUF 8,90 DM) als Ersatz des materiellen
und immateriellen Schadens zugesprochen, und die ungarische Regierung
verpflichtete sich, durch Bekanntmachung des Urteils eine Wiederholung
derartiger Zustände nach Möglichkeit zu verhindern.
Eine
Verletzung von Art. 8 bejahte das Ministerkomitee im Fall Sarközy9.
Der Kläger, der sich durch seine Haftbedingungen in seinen Rechten
aus Art. 3, 8 und 13 verletzt sah und sich aus diesem Grunde bereits
an die Kommission gewandt hatte, konnte glaubhaft machen, daß
die Gefängnisleitung einen Brief der Kommission an ihn geöffnet
hatte. Während das ursprüngliche Verfahren keinen Erfolg
hatte, führte dieses Vorkommnis zu einer Verurteilung. Die Regierung
wurde verpflichtet, einen Rundbrief an alle Gefängnisdirektoren
zu schicken und sie daran zu erinnern, daß die Korrespondenz
mit der Kommission nicht überwacht werden darf. Außerdem
hatte sie dem Kläger Schadensersatz in Höhe von 850.000
HUF zu zahlen.
Um unmenschliche
und erniedrigende Haftbedingungen ging es in einem weiteren Fall10,
der bisher erst vorläufig vom Ministerkomitee entschieden wurde.
Der Kläger, ein querschnittsgelähmter, wegen Mordes verurteilter
Gefangener, hatte sich bereits im November 1993 wegen der schlechten
hygienischen Verhältnisse und der mangelhaften medizinischen
Versorgung im Gefängnis an das Gericht gewandt. Da er die Funktion
von Blase und Darm nicht mehr kontrollieren und sich auch nicht selbständig
waschen konnte, habe er oft in seinen eigenen Ausscheidungen liegen
müssen. Die anderen, mit ihm in der selben Zelle untergebrachten
Gefangenen hätten ihn deswegen beleidigt und mißhandelt,
für Handreichungen habe er bezahlen müssen. Auch sei ihm
innerhalb von 3 Jahren lediglich zwei- oder dreimal ermöglicht
worden, auf den Hof zu gehen, und nur unregelmäßig habe
er die ärztlich verordnete Gymnastik machen können.
Der Staat machte demgegenüber geltend, daß der Kläger
alle nötige pflegerische Aufmerksamkeit erhalten habe, die hygienischen
Zustände zufriedenstellend gewesen seien, ihm ein Balkon zur
Verfügung gestanden habe und er schließlich Anfang Januar
1996 sogar in ein Einzelzimmer verlegt worden sei. Im übrigen
sei er selbst unkooperativ gewesen und habe häufig die ihm angebotene
Hilfe abgelehnt.
Im Oktober 1995 beschloß die Komission, die ungarische Regierung
von der Klage zu informieren und um eine Stellungnahme zu bitten.
Im Mai 1997 wurde die Klage schließlich in Bezug auf die Verletzung
von Art. 3 für zulässig erklärt und Ende Oktober des
darauffolgenden Jahres dem Ministerkomitee übergeben. Dieses
stellte dann am 15. April 1999 in einem vorläufigen Beschluß
in Übereinstimmung mit der Komission für die Zeit zwischen
dem 5. November 1992 (Inkrafttreten der EMRK in Ungarn) und dem 3.
Januar 1996, als sich seine Haftbedingungen bedeutend verbesserten,
eine Verletzung von Artikel 3 fest.
Erst
zwei Fälle sind bisher vom Gerichtshof entschieden worden. Im
ersten dieser Fälle11
ging es um eine Änderung der ungarischen Verfassung, mit der
unter anderem Mitgliedern der Polizei die Teilnahme an politischen
Aktivitäten und die Mitgliedschaft in Parteien verboten wurde.
Ergänzt wurde diese Vorschrift durch einfachgesetzliche und polizeirechtliche
Regelungen sowie die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes. Der
Kläger machte eine Verletzung von Art. 10 und 11 sowie von Art.
14 in Verbindung mit Art. 10 und mit Art. 11 geltend.
Der Gerichtshof hielt eine solche Verletzung nicht für gegeben.
Zwar mögen derartige Vorschriften einem zunächst einmal
undemokratisch erscheinen, doch müsse hier auch das Ziel dieser
Regelung und ihre äußeren Umstände beachtet werden.
Angesichts der jüngsten Vergangenheit, als unter der kommunistischen
Einparteienherrschaft Angehörige der Polizei auch Mitglied in
der kommunistischen Partei sein mußten, können daher auch
Maßnahmen, die eine Beeinflussung der Polizei durch politische
Parteien ausschließen sollen, notwendig werden.
Eine
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 stellte das Gericht mit Urteil vom 5.
Oktober 200012 fest. Darin
ging es um die Registrierung eines Vereines, der die Interessen der
ungarischen Steuerzahler vertreten sollte. Seine Gründer hatten
ihm den Namen "Bündnis der von APEH Verfolgten" gegeben,
wobei "APEH" die gebräuchliche Abkürzung für
die ungarische Steuerbehörde ist. Als sie ihren Verein registrieren
lassen wollten, erhob der Präsident von APEH dagegen Einspruch.
Er fand diese Bezeichnung herabwürdigend und wollte sie durch
einen anderen Ausdruck ersetzt haben. Da die Vertreter hierzu nicht
bereit waren, wurde der Streit vor Gericht fortgeführt, wo es
zu Unregelmäßigkeiten zugunsten von APEH kam. So wurde
diesen einmal noch vor der beklagten Vereinigung ein Gerichtsurteil
zugestellt, und die Beklagten auch von verschiedenen anderen Schritten
der Kläger nicht unterrichtet. Ein solches Verhalten, so der
EGMR, verletze das Prinzip der Waffengleichheit und erfülle somit
nicht die Kriterien des Art. 6 Abs. 1. Der Antrag der Kläger
auf Ersatz des immateriellen Schadens wurde dagegen abgelehnt.
|