Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 8. Juni 2010

  Inhalt
Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 | Teil 4
| Teil 5 | Teil 6
 

Mitgliedstaaten des Europarates

4. Folge

Italien

Inhaltsübersicht
I. Geschichte und Weg in den Europarat

1. Das Risorgimento
2. Der Nationalstaat 
3. Der Faschismus
4. Die Erste Republik
5. Die Zweite Republik 
6. Europarat und EMRK
7. Die Konventionen des Europarates zum Minderheitenschutz

1.Übersicht
2.Auswahl wichtiger Entscheidungen

 
1.

I. Geschichte und Weg in den Europarat

2.

 1. Das Risorgimento

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Die italienische Geschichte wurde nach dem Untergang des Staufischen Kaiserreichs (1250) von Pluralismus und Regionalismus geprägt und später von spanischer (bis 1714), französischer und österreichischer Fremdherrschaft dominiert.

Der ersten einheitlichen Verfassung des Nationalstaats von 1861 mußte eine territoriale wie politische Einigung des in Kleinstaaten zersplitterten Italiens vorausgehen.

Ende des 18. Jahrhunderts hatten sich vier politische Zentren etabliert: das Königreich Neapel und Sizilien unter den Bourbonen, das Königreich Piemont-Sardinien unter den Savoyern, die Toskana, Lombardei, Venetien unter österreichischer Vorherrschaft und der Kirchenstaat.

Durch die revolutionären Eroberungskriege erlangte Frankreich 1796 die Hegemonialstellung in Italien, was die Einführung von Republiken auf italienischem Terrain zur Folge hatte, die dem Vorbild der napoleonischen Verfassung (Code Napoléon) folgten. 1805 wurde die "Italienische Republik" zum "Königreich Italien" mit Napoleon als König.

Nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Königreichs sorgten die Beschlüsse des Wiener Kongresses von 1815 für die Wiederherstellung der alten politischen Ordnung, wobei Österreich durch die Errichtung des venezianisch-lombardischen Königreiches wiederum eine starke Position innerhalb der italienischen Staaten einnahm. Die politische Restauration und erneute Fremdherrschaft führten in den folgenden Jahren zu Aufständen der Republikaner in den italienischen Staaten. Sie setzen sich für eine liberale Verfassung und Beendigung der Fremdherrschaft ein. Mehrere Monarchen, darunter der Papst und Karl Albert von Piemont, erlassen unter dem Druck der nun erstarkten Liberal-Gemäßigten im Jahr 1848 Verfassungen, um eine Intervention Österreichs abzuwehren.

Die Kirche konnte zur Einigungsfrage des Landes wegen der damals schwachen Position des Papstes nichts beitragen. Der Einigungsprozeß wurde vielmehr vom Königreich Piemont - Sardinien forciert, das bereits Grundzüge eines modernen Staates aufweisen konnte, speziell das parlamentarische System. Unter Viktor Emanuel II, dem Sohn und Nachfolger Karl Alberts, konnte sich Italien bis auf Venetien von Österreich (1859) befreien, auch die Monarchien in Süd- und Mittelitalien wurden durch militärisches Einschreiten oder Volksaufstände gestürzt, die Gebiete schlossen sich darauf durch Plebiszite dem Königreich Piemont an. Das Turiner Parlament wählte 1861 Viktor Emanuel II zum König von Italien, wodurch zwar die Einheit des Landes geschaffen, nicht aber die republikanischen Bestrebungen erfüllt wurden. Die vollständige territoriale Einheit kam mit der Eingliederung Venetiens 1866 und der Besetzung des päpstlichen Roms (1870), das 1871 zur Hauptstadt Italiens erklärt wurde.

3.

2. Der Nationalstaat

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Der neugeschaffene italienische (Gesamt-) Staat war eine konstitutionelle Monarchie, innerhalb derer dem König eine starke Stellung zukam: Er hatte Einfluß auf die Zusammensetzung des Senats und somit indirekt auf die parlamentarische Tätigkeit; überdies stand ihm das Recht zu, Gesetze zu sanktionieren. Das Gewicht der parlamentarischen Kontrolle war gering, da nur 1,6% der männlichen Bevölkerung das aktive Wahlrecht innehatte.

Zwei komplexe Fragen haben den italienischen Nationalstaat von Anfang an begleitet: Das Verhältnis zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden sowie die Rolle der katholischen Kirche im neuen Staat. Zwischen dem Süden des Landes, hauptsächlich landwirtschaftlich orientiert, und dem modernen kapitalistischen Norden war eine wirtschaftliche und soziale Kluft entstanden, welche mit der territorial-politischen Einigung des Landes nicht zu überbrücken war. Dieses als "Süditalienische Frage" in die Geschichte eingegangene Problem prägt noch immer das Land. Weitere Integrationsschwierigkeiten ergaben sich durch die Position der katholischen Kirche, da der Papst seinen Anhängern die politische Partizipation am neuen Zentralstaat untersagte. Zwar wurde 1850 bereits die kirchliche Gerichtsbarkeit abgeschafft und bis 1861 die Autonomie von Staat und Kirche hergestellt, deutlich sichtbar blieb jedoch das unter den Katholiken verhaftete kirchliche Obrigkeitsdenken und die ins Politische hineinwirkende Autorität des Papstes.

Mit der sogenannten "Parlamentsrevolution" von 1876, die eine Linksverschiebung der Regierung zur Folge hatte, kam es zur Einführung von Schulpflicht, Verbesserungen des Wahlgesetzes und zum Arbeitsverbot für Kinder unter 9 Jahren.

Italien beteiligte sich mit der Eroberung Ostafrikas an der Kolonialpolitik der europäischen Mächte. Im Innern etablierte die Reformpolitik des Ministerpräsidenten Crispi (1887-1896) eine moderne, rechtsstaatlich verfaßte Staatsverwaltung und sicherte mehr Handlungsfreiheit für die Regierung. Seit 1888 wurden überdies die Bürgermeister durch Wahl und nicht mehr vom König bestimmt. Mit der Einführung des neuen Strafgesetzbuches, dem Codice Zanardelli, wurde für den italienischen Staat eine einheitliche Strafgerichtsbarkeit geschaffen; darin enthaltene Verbesserungen bestanden u.a. in der Abschaffung der Todesstrafe.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Demokratisierung und Reformpolitik unter der liberal- demokratischen Regierung Giolitti fortgesetzt, wobei die zunehmende gewerkschaftliche Organisation der Bevölkerung mit dem wirtschaftlichen Aufschwung durch die Industrialisierung zusammenfiel. Das gesteigerte politische Bewußtsein der Bevölkerung fand jedoch durch das Fehlen von Volksparteien und durch das strikte Zensuswahlrecht keine parlamentarische Entsprechung.

Mit dem Eintritt Italiens in den 1. Weltkrieg auf der Seite der Entente-Mächte im Jahre 1915 wurden Kolonial- und Expansionspolitik forciert. Der Londoner Vertrag sicherte Italien Territorien, die über die eigentliche Staatsgrenze weit hinausgingen, so u.a. Südtirol und Triest. Die erste Parlamentswahl der Nachkriegszeit bei erstmaligem allgemeinen Wahlrecht für Männer führte, auch die neu gegründete Partei der Katholiken (PPI), zu einer wesentlichen Umschichtung der Kräfteverhältnisse bei. Zersplitterung des Parlaments und Fraktionsbildung erschwerten jedoch die Mehrheitsbildung. Die Eindrücke des Krieges und der russischen Oktoberrevolution hatten sozialrevolutionäre Kräfte freigesetzt, die sich zunehmend gegen die liberal-demokratische Regierung wandten.

 
4.
3. Der Faschismus
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In dieser Zeit des geschwächten Parlaments erstarkten die Kampfbünde (fasci) Mussolinis, welche eine Zusammenarbeit mit den Nationalisten eingegangen waren. Diese Bündnisse hatte sich auf den Kampf gegen den Bolschewismus eingeschworen und strebte Italiens Erstarken als Großnation an. Nach dem Marsch auf Rom im Oktober 1922 wurde Mussolini von Viktor Emanuel III mit der Regierungsbildung beauftragt.

In den 21 Jahren faschistischer Herrschaft kam es mit Billigung der Monarchie zur schrittweisen Zersetzung des parlamentarischen Systems und zur Abschaffung demokratischer Grundrechte, die bis dato erreicht waren.

Die erste Phase der "Machtergreifung" (bis 1926) diente der Stabilisierung des faschistischen Systems. Die inner- wie außerparlamentarische Opposition wurde kaltgestellt oder beseitigt. Darüber hinaus wurde die Bevölkerung in Freizeit- und Jugendorganisationen zusammengeschlossen, die dem Staat direkten Zugriff auf die Privatperson einbrachte. In der zweiten Phase von 1926 – 1936 sicherten die wirtschaftlichen Erfolge, welche sich mit der staatlichen Förderung der Produktion einstellten, auch die weitgehende Zustimmung der Bevölkerung zum System. Die Beziehung zwischen Staat und der katholischen Kirche wurde durch die Lateranverträge (1929) geregelt; dies beseitigte einen jahrzehntewährenden Instabilitätsfaktor und trug so zur weiteren Konsolidierung des Regimes bei. Die dritte Phase bis 1943 stand hauptsächlich unter dem Primat der Außenpolitik. Die ersten Expansionsbestrebungen traten mit dem Äthiopienkrieg 1935/36 offen zutage, und in Rom verkündete Mussolini die Reichsgründung (impero) mit Viktor Emanuel III als Kaiser.

Der Völkerbund verhängte wirtschaftliche Sanktionen gegen Italien, das nun wiederum verstärkt mit dem nationalsozialistischen Deutschland zusammenarbeitete, wodurch vermehrt entsprechendes ideologisches Gedankengut in die eigentlich nicht auf Rassismus basierende faschistische Bewegung gelangte. Erste Rassendekrete ergingen in Italien 1938.

Mit dem Eintritt Italiens in den 2. Weltkrieg (Juni 1940), den rasch folgenden militärischen Niederlagen und Gebietsverlusten vergrößerte sich die Ablehnung des Regimes in der Bevölkerung. Oppositions- und Widerstandsgruppen organisierten sich, u.a. auch in faschistischen Kreisen. Mitte 1943 entzog der Faschistische Großrat dem Duce den Oberbefehl über die Streitkräfte, woraufhin der König ihn verhaften ließ und General Badoglio mit der Bildung einer Militärregierung beauftragte. Kurz darauf kapitulierte Italien und schloß den Waffenstillstand mit den Alliierten am 8. September 1943. Deutsche Truppen besetzten nun Ober- und Mittelitalien. Der befreite Mussolini gründete im Norden die Repubblica Sociale Italiana, während das Königreich im Süden weiterbestand, das im Oktober dem Deutschen Reich den Krieg erklärte. Seit 1943 formierten sich die nicht faschistischen Parteien des Königreiches zu Nationalen Befreiungskomitees, ebenso bildete sich im Norden ein bewaffneter Widerstand (resistenza), der gegen den Faschismus und die Deutsche Besatzung kämpfte, unter der es zur Deportation von Juden gekommen war.

Im April 1945 wurde Benito Mussolini von Partisanen erschossen und Norditalien durch den Widerstand und die Alliierten befreit. Die neue Staatsform sollte nach Kriegsende durch Wahl beschlossen werden.

 
5.

 4. Die erste Republik

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Das italienische Volk entschied sich im Juni 1946 mit knapper Mehrheit (ca. 54%) für die republikanische Staatsform, erstmalig nahmen auch Frauen an der Wahl teil. Nach der von der verfassunggebenden Versammlung erarbeiteten Verfassung, die am 1. Januar 1948 in Kraft trat, ist Italien eine demokratische, rechtsstaatlich verfaßte, Menschenrechte gewährleistende und sozial verpflichtete Republik mit parlamentarischem Regierungssystem und einigen plebiszitären Elementen. Die Kolonien und die unter dem faschistischen Regime annektierten Gebiete wurden dem Land durch den Pariser Friedensvertrag (1947) aberkannt.

Der neue Staat hatte nunmehr eine stark zentralistische Verwaltung, wobei jedoch einerseits dem Aostatal, Trentino-Südtirol, Friaul-Julisch-Venetien aufgrund der nichtitalienischen Minderheiten, andererseits Sardinien und Sizilien wegen verstärkter Autonomiebestrebungen, Sonderstatute nach Art. 116 zukamen. Sprachliche Minderheiten wurden nach Art. 6 durch besondere Bestimmungen geschützt. Erst 1970 erfolgte mit der Einteilung Italiens in 20 Regionen die Dezentralisierung der staatlichen Verwaltung für das gesamte Land.

Die Verfassung der Republik orientiert sich stark an Modellen liberaler Staaten wie Frankreich, England und den USA. Das italienische Zweikammersystem stellt jedoch mit der wesentlichen Gleichheit der Kompetenzen von Abgeordnetenhaus und Senat eine internationale Besonderheit dar. Es erfordert nämlich übereinstimmende Beschlüsse beider Häuser, was zusammen mit dem Fehlen eines Schlichtungsausschusses den Gesetzgebungsprozeß des Parlaments verlangsamen kann. Der Staatspräsident, welcher vom Parlament auf 7 Jahre gewählt wird, hat mehr Befugnisse als der deutsche Bundespräsident, bleibt jedoch weit hinter den Kompetenzen zurück, welches ein Präsidialsystem dem Amtsinhaber einräumt. Die Regierung setzt sich aus dem Ministerrat zusammen, wobei der Ministerpräsident keine den anderen Ministern übergeordnete Position einnimmt (primus inter pares). Mit der Übernahme der Lateranverträge (1929) aus der faschistischen Ära in die republikanische Verfassung in Form von Art. 7 erkannten sich italienischer Staat und Katholische Kirche gegenseitig an. Hinzu kam die Regelung der Religionsfreiheit in Art. 8, womit die katholische Staatsreligion aufgehoben wurde. Zur Modifizierung der Lateranverträge kam es erst 1984. Die Kirche verzichtete auf ihre Privilegien und der Staat auf seine Mitspracherechte (Art. 1-3). Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen wurde nicht mehr obligatorisch (Art. 9) Per Volksentscheid waren bereits das Recht auf Ehescheidung (1974) und die Liberalisierung der Abtreibung (1978,1980) durchgesetzt worden.

In den frühen Nachkriegsjahren arbeitete Italien durch Partizipation an europäischen und internationalen Bündnissystemen an einer zunehmenden West-Integration, was von den Partnern begrüßt und der italienischen Bevölkerung unterstützt wurde. So wurde Italien bereits 1946 Mitglied im Internationalen Währungsfonds. 1949 wirkte es an der Gründung der NATO und des Europarats mit. Außerdem ist Italien Gründungsmitglied der Montanunion 1951 und der E(W)G, deren Verträge in Rom unterzeichnet wurden (Römische Verträge 1957). 1955 war auch der UNO Beitritt erfolgt und somit Italiens internationale Anerkennung erreicht.

Durch die finanzielle Unterstützung des Marshall-Plans und staatliche Investitionen gelang auch der wirtschaftliche Wiederaufbau, womit sich gleichfalls die Umwandlung Italiens vom Agrarstaat zur Industrienation vollzog. Nach den Jahren des sogenannten "Wirtschaftswunders" (1955-65) war Italien eine der sieben führenden Industrienationen, obwohl der Süden den Anschluß an den industriell hochentwickelten Norden nicht erreicht hatte.

Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es bisher 57 Regierungen in Italien mit einer durchschnittlichen Amtszeit von ungefähr einem Jahr, wobei sich die italienischen Christdemokraten (DC) über fast 50 Jahre als stärkste Partei behaupten sollten. Italiens "Schwerregierbarkeit" war auf ein stark fragmentiertes und polarisiertes Parteiensystem zurückzuführen, das die Bildung stabiler Regierungen verhinderte. Die Konkurrenz der zahlreiche Parteien untereinander fand sich ebenso innerhalb der Parteien unter den einzelnen Flügel.

Die Verlängerung der Schulpflicht auf 8 Jahre konnte erst 1963 von einer Mitte-Links-Regierung erwirkt werden, welche insgesamt ein Reformprogramm vorsah, das jedoch mit den Ende der sechziger Jahre beginnenden politischen Unruhen und wirtschaftlichen Problemen des Staates gestoppt wurde. In den siebziger Jahren, welche von faschistischen Aufständen wie linksextremem Terrorismus geprägt waren, kam es wiederholt zu gesellschaftlich begründeten Regierungskrisen, wobei die sich abwechselnden DC-, Mitte- und Mitte-Linksregierungen keine politischen Kontinuitäten gewährleisten konnten. Eine Stabilisierung trat erst im Laufe der achtziger Jahre wieder ein, welche auch das erklärte Ziel des von 1983-87 amtierenden Ministerpräsidenten Craxi war. Ende der 80er konnten überdies erste Erfolge im Kampf gegen die organisierte Kriminalität (Mafia u.a.) erreicht werden, welche bis heute die wirtschaftliche und soziale Modernisierung Italiens behindert.

Die Protestbewegungen der Leghe, der norditalienischen Regionalparteien, hatten seit Anfang der 80er Jahre nicht nur deren separatistische Bestrebungen offenbart, sondern auch auf die Staatskorruption aufmerksam gemacht. Der Untersuchungsgruppe "mani pulite" gelang es, ab 1992 die Korruption der etablierten Parteien und deren illegale Finanzierung durch Abgaben (tangenti) aufzudecken.

6.
5. Die Zweite Republik
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Der sich anschließende Zusammenbruch des Parteiensystems (1992-1994) hatte die Auflösung oder Umbenennung der etablierten Parteien und diverse Neugründungen zur Folge. Im besonderen wurde die Vorherrschaft der italienischen Christdemokraten (DC) aufgehoben, welche bis 1994 die stärkste Partei stellte. In der ersten Parlamentswahl nach der Wahlreform im März 1994 konnte sich die aus der Kommunistischen Partei (PCI) hervorgegangene Sozialdemokratische Partei (PDS) als stärkste Partei durchsetzten. Die Einführung des nationalen Mehrheitswahlrechts und einer Sperrklausel von 4% erfüllten jedoch nicht die in sie gesetzten Hoffnungen auf einen Strukturwandel innerhalb des Parteiensystems. Der weiterhin bestehende Regelungsbedarf, der sich neben der Stabilisierung eines parlamentarischen Wechselspiels von Regierung und Opposition auch auf das italienische Zweikammersystem und die Schwäche der Regierungsposition erstreckt, wird durch die seit Jahren aktuelle Diskussion um eine Verfassungsrevision deutlich.

Die Finanzpolitik der Regierung Prodi qualifizierte Italien für den Beitritt zur EU-Währungsunion 1999. Das Land hat – wie Deutschland – seit längerem Ambitionen auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

 

II.
6. Europarat und EMRK
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Italien ist Gründungsmitglied des Europarates; das Statut des Europarates ist daher schon am 3. August 1949 für Italien in Kraft getreten. Die EMRK trat am 26. Oktober 1955 für Italien in Kraft.1 Die Anerkennung des Individualbeschwerderechts gem. Art. 25 a.F. EMRK erfolgte erstmalig am 1. August 19732 gleichzeitig mit der Anerkennung der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gem. Art. 46 a.F. EMRK. Italien hat auch die Zusatzprotokolle zum Eigentumsschutz (Nr. 1), zur Freizügigkeit (Nr. 4), zur Abschaffung der Todesstrafe (Nr. 6) sowie Nr. 7 (ne bis in idem) und Nr. 11 (ständ. EGMR) ratifiziert. Seit 1965 ist Italien Mitgliedstaat der Europäischen Sozialcharta und hat 1997 das Zusatzprotokoll zur Kollektivbeschwerde zur Europäischen Sozialcharta (1995) ratifiziert. Am 3. November 1997 erfolgte die Ratifizierung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten von 1994; der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ist Italien bislang noch nicht beigetreten.
 

 

 
 

II. Frankreichs Bilanz vor den Straßburger Instanzen

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1. Übersicht

Italiens Bilanz vor den Straßburger Instanzen zeigt, daß es vor Polen und Frankreich an der Spitze der vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) verklagten Staaten steht. Es wurde auch am häufigsten verurteilt (bis Ende 1999 in 44 Fällen) vor der Türkei (18mal) und Frankreich (16mal). Bis Ende letzten Jahres wurden gegen das Land insgesamt 16.256 Beschwerden eingereicht, von denen 4.793 registriert und 2.193 für zulässig erklärt wurden. Allein in dem Zeitraum zwischen November 1998 und Juli 2000 – also seit der Einrichtung des neuen Gerichtshofes – gingen 6.356 "italienische" Beschwerden in Straßburg ein. Davon wurden 1.674 registriert, 644 für zulässig erklärt und in 140 Fällen erging ein Urteil. Zum Vergleich wurden in dem gleichen Zeitraum 47 Urteile bezüglich Frankreich, das hier an zweiter Stelle steht, und 32 Urteile gegen die Türkei ausgesprochen. Um die Fülle der Beschwerden zu verdeutlichen, sei beispielhaft darauf verwiesen, daß allein am 22. Juni 2000 120 gegen Italien gerichtete Fälle von der Liste der vom Gerichtshof zu behandelnden Fälle gestrichen wurden.

Gegenstand von Beschwerden bildeten früher zum einen hauptsächlich Gesetze, die als Reaktion auf Aktivitäten der Mafia erlassen wurden und weitreichende Vorbeugungsmaßnahmen erlaubten. Zum anderen wurde in der Mehrzahl der Fälle die Dauer der zivil- und strafrechtlichen Verfahren beklagt. Nachdem 1993 ein italienisches Fernsehprogramm die Öffentlichkeit über die Möglichkeit informiert hatte, in Straßburg Entschädigungszahlungen für überhöhte Verfahrenslängen erhalten zu können, stieg die Anzahl derartiger Beschwerden zur Kommission weiter an. Als Reaktion wurde zunächst eine spezielle Unterkommission gebildet, die sich mit diesen Fällen beschäftigen sollte. Es entwickelte sich die Praxis, daß in Fällen, in denen die Kommission eine Verletzung des Art. 6 Abs. 13 feststellte, ein Bericht verfaßt und an das Ministerkomitee weiterleitet wurde. Auf Anfrage des Ministerkomitees empfahl die Kommission dann eine Entschädigungszahlung, deren Höhe das Ministerkomitee der jeweiligen Regierung mitteilte. Der italienische Finanzminister stellte allerdings später fest, daß keine Zahlungen aufgrund bloßer Empfehlungen des Ministerkomitees erfolgen würden, woraufhin die Kommission wieder begann, derartige Fälle dem Gerichtshof vorzulegen. Aufgrund der Vielzahl der italienischen Fälle änderte aber das Ministerkomitee erneut seine Praxis und traf ab sofort gemäß Art. 32 bindende Entscheidungen bezüglich der Entschädigungszahlungen. Seit Ende 1998 wurde der (neue) Gerichtshof bezüglich Art. 6 Abs. 1 in 2.228 Fällen (gegen alle Vertragsstaaten) angerufen. Bis auf wenige Ausnahmen trugen allerdings all diese Fälle wenig zu der Interpretation der EMRK bei.

 

2. Auswahl wichtiger Entscheidungen

Im ersten Fall gegen Italien,4 der vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof 1980 entschieden wurde, war der Beschwerdeführer, Ettore Artico, in Italien zu 18 Monaten Haft und einer Geldstrafe wegen Betrugs verurteilt worden, gefolgt von einer späteren Verurteilung mit einer zusätzlichen Freiheits- und Geldstrafe aufgrund anderer Vermögensdelikte. Die Berufungsverfahren wurden in absentia des Antragstellers abgelehnt. Nach einem weiteren Verfahren vor dem obersten Gerichtshof wurden die Strafen außer für wiederholten Betrug aufgehoben. Der Beschwerdeführer wurde daraufhin aus der Haft entlassen, da der Zeitraum seiner Haft die Strafdauer für das verbleibende Verbrechen bereits überschritten hatte. Ein Antrag auf diesbezüglichen Schadensersatz wurde abgelehnt. Zudem stand Attico während seiner Haft für über ein Jahr kein Rechtsbeistand zur Verfügung. Bezüglich Art. 6 Abs. 3 (c) schloß sich der Gerichtshof der Ansicht der Kommission an und befand eine Verletzung des Artikels. Gerade bezüglich eines fairen Verfahrens in einer demokratischen Gesellschaft betonte der EGMR die Natur der Konvention, praktische und effektive Rechte zu gewähren, was bedeute, ein Staat sei verpflichtet, für effektiven und tatsächlichen Rechtsbeistand zu sorgen. Die zu lange Strafe stellte für den Gerichtshof allerdings nicht eine direkte Verletzung des Art. 6 dar, sondern eine indirekte Folge der Versagung rechtlichen Beistands. Der EGMR gewährte diesbezüglich eine Entschädigungszahlung.

In dem Fall Guzzardi ./. Italien5 wurde der Beschwerdeführer im Februar 1973 wegen Beteiligung an einer Entführung von der italienischen Polizei verhaftet. Unter dem damals gültigen italienischen Strafprozeßrecht war eine Untersuchungshaft auf maximal zwei Jahre beschränkt. Nach diesem Zeitraum wurde Guzzardi auf die Insel Asinara überführt. Dort sollte er aufgrund seiner Verbindungen zur Mafia unter einer speziellen Aufsicht drei Jahre in einem vorgeschriebenen Bereich der Insel verbringen. Die Inselfläche war zu neun Zehnteln von einem Gefängnis eingenommen. Der Aufenthaltsbereich des Beschwerdeführers war auf 2,5 Quadratkilometer und sein tatsächlicher Bewegungsraum innerhalb dieses Bereiches auf einen Radius von 800 Metern begrenzt. Die dortige Lebensführung war in hohem Maße beschränkt, und sowohl seine Familie als auch sein Rechtsanwalt hatten nur begrenzten Zugang. Neben anderen Maßnahmen mußte sich Guzzardi zweimal pro Tag, wenn nicht zusätzlich aufgefordert, bei dem Aufsichtspersonal melden, durfte sein Haus nur zu bestimmten Zeiten verlassen und mußte vor jeder direkten oder telefonischen Kommunikation außerhalb des Bezirks ebenfalls die Behörden informieren. Arbeits- und medizinische Behandlungsmöglichkeiten waren kaum oder überhaupt nicht vorhanden. Die Berufungsverfahren gegen diese Maßnahmen blieben ohne Erfolg. Erst im Juli 1976 wurde Guzzardi auf das Festland verlegt. Der Straßburger Gerichtshof entschied, daß eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 vorlag. Doch lag diese Verletzung nicht in der Einschränkung des Bewegungsfreiraums an sich, da dieser nicht von Art. 5 sondern von Art. 2 Protokoll IV geschützt wird, sondern in der Dauer des Aufenthaltes auf der Insel verbunden mit den stark begrenzten Nutzungsmöglichkeiten der gewährten Freiheit. Der italienische Innenminister hat im August 1977 – also schon während des Prozesses – die Insel Asinara von der Liste möglicher Orte für Zwangsaufenthalte gestrichen.

Wie bereits in der Übersicht erwähnt, wurde Italien in einer Vielzahl von Fällen für die überhöhte Länge strafrechtlicher Verfahren verurteilt. In der ersten diesbezüglichen Entscheidung, in dem Fall Foti und andere ./. Italien,6 beklagten sich die vier Beschwerdeführer hinsichtlich des Erfordernisses der "angemessenen Frist" in Art. 6 Abs. 1 über die Dauer bis zur Aufnahme der Verfahren und über die Länge der Strafverfahren an sich. Es verging ein Zeitraum von drei Jahren und fünf Monaten bis zu fünf Jahren und zehn Monaten bis zur Urteilsverkündung. Hierbei begannen die von dem Gerichtshof berücksichtigten Zeiträume erst nach dem 1. August 1973, als das Individualbeschwerdeverfahren von Italien anerkannt wurde, obwohl der Beginn mancher Verfahren bis zu zwei Jahren vor diesem Zeitpunkt lag. In anderen Fällen mit vergleichbaren Umständen überstieg die Dauer sogar einen Zeitraum von über 13 Jahren7 Trotz Berücksichtigung der politisch angespannten Umstände der individuellen Fälle stellte das Straßburger Gericht einen Mangel an Komplexität fest, die die Länge der Verfahren hätte rechtfertigen können. Später mußte Italien an zwei der Beschwerdeführer Entschädigung zahlen.8 In den beiden anderen Fällen war zuvor eine außergerichtliche Beilegung erreicht worden.

Auch die Dauer zivilrechtlicher Verfahren war wiederholt Gegenstand verschiedener Verfahren vor dem Straßburger Gerichtshof. In den beiden ersten diesbezüglichen Entscheidungen Capuano ./. Italien und Baggetta ./. Italien9 untersuchte der Gerichtshof sowohl das Verhalten der Beschwerdeführer als auch das der gerichtlichen Institutionen hinsichtlich der kritisierten Verzögerungen. Die Straßburger Richter kamen zu dem Schluß, daß ungerechtfertigte Verzögerungen auf Seiten der Gerichtsbehörden vorlagen und somit die in Frage stehenden Zeiträume von über zehn bzw. über dreizehn Jahren eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 darstellten.

Ein weiterer Fall in bezug auf die Länge zivilrechtlicher Verfahren lohnt der Hervorhebung. In der Rechtssache Salesi ./. Italien10 war neben der eigentlichen Verletzung des Art. 6 Abs. 1 zunächst die Anwendbarkeit des Artikels Gegenstand der Untersuchungen. Frau Salesi beschwerte sich über die Weigerung des zuständigen Sozialamtes, eine monatliche Beihilfe aufgrund ihrer Behinderung (assegno mensile) zu zahlen. Ein diesbezügliches Verfahren gegen die Entscheidung des Amtes dauerte über sechs Jahre an. Eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 lag zwar schlußendlich vor, doch hatte der Straßburger Gerichtshof zunächst zu entscheiden, ob die Vorschrift auch bezüglich verwaltungsrechtlicher Verfahren Anwendung finden kann. In zwei früheren, nicht gegen Italien ergangenen Entscheidungen11 hatte der EGMR entschieden, daß Art. 6 Abs. 1 hinsichtlich Versicherungszahlungen in einem Sozialversicherungssystem anwendbar sei. Dies wurde vor allem mit dem privatrechtlichen Aspekt der Versicherungszahlungen begründet, da solche Zahlungen auf Arbeitsverträgen beruhen würden und die Zahlungsansprüche einen starken personalen und wirtschaftlichen Charakter hätten. In Hinblick auf die staatlich finanzierte Behindertenbeihilfe ließ sich jedoch ein solcher privatrechtlicher Aspekt im Bereich der Sozialhilfe nicht feststellen. Dennoch hat der Gerichtshof entschieden, daß Art. 6 Abs. 1 auch in diesem Fall anwendbar sei. Die Straßburger Richter sahen aufgrund der vorgenannten Urteile eine Entwicklung als abgeschlossen, die die Anwendbarkeit der besagten Vorschrift im Bereich der Sozialversicherung als allgemeine Regel (general rule) zum Ergebnis hatte. Doch auch im Bereich der Wohlfahrtspflege sei hinsichtlich der Entwicklung des sozialen Sicherungswesens eine Anwendbarkeit möglich. Zudem handele es sich wiederum primär um einen Eingriff in individuelle und wirtschaftliche Rechte der Beschwerdeführerin. Diese evolutionäre Interpretation trug gerade in bezug auf die unklare Formulierung der "zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen" in Art. 6 Abs. 1 dazu bei, festzustellen, daß fast jede Beeinträchtigung des Einkommens oder des Eigentums in den Anwendungsbereich der Vorschrift fallen kann.

In der Rechtssache Luberti ./. Italien12 war der Beschwerdeführer wegen Mordes verurteilt und aufgrund seines Geisteszustandes in psychiatrische Heilanstalten eingewiesen worden. Nach wiederholten Berufungsverfahren wurde Luberti aufgrund eines medizinischen Gutachtens, das zu diesem Zeitpunkt seine Ungefährlichkeit bescheinigte, entlassen. Der EGMR legte den Begriff des "psychisch Kranken" in Art. 5 Abs. 1 (e) aus. Danach müssen für eine gerechtfertigte Inhaftierung drei Mindestvoraussetzungen unter Berücksichtigung des nationalen Beurteilungsspielraumes erfüllt sein: (a) Die psychische Krankheit muß zuverlässig nachgewiesen sein; (b) der Grad oder die Art der mentalen Störung müssen eine Inhaftierung rechtfertigen, und (c) die Aufrechterhaltung der Haft muß auf dem Andauern der Störung beruhen. Der Gerichtshof entschied, daß diese Bedingungen im Falle Lubertis erfüllt waren und verneinte daher eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 (e). Allerdings stellte der EGMR zu der Frage des Rechts auf eine Überprüfung der rechtmäßigen Haft nach einem angemessenen Zeitraum gem. Art. 5 Abs. 4 fest, daß dies unabhängig von einer Verletzung des Art. 5 Abs. 1 zu betrachten sei und daß die Verzögerungen in den vorliegenden Verfahren nicht dem Erfordernis der "kurzen Frist" entsprachen. Betreffend einer Überprüfungspflicht in kurzer Frist hat der Gerichtshof in einem späteren Urteil13 dieses Erfordernis besonders im Hinblick auf die raison d’être der Untersuchungshaft betont. Infolge dieses Urteils wurde in dem neuen Strafprozeßrecht festgelegt, daß über einen Antrag auf Entlassung aus der Untersuchungshaft innerhalb von fünf Tagen zu entscheiden ist.

In dem Fall Colozza ./. Italien14 war wiederum Art. 6 Abs. 1 Gegenstand der Verhandlungen in bezug auf Gerichtsurteile in absentia. Colozza wurde aufgrund verschiedener Verbrechen gesucht, blieb jedoch unauffindbar und wurde schließlich zu einem ‚latitante‘, d.h. einer Person, die vorsätzlich die Ausführung einer Haftanweisung verhindert, erklärt und in absentia verurteilt. Es unterblieb zudem eine rechtliche Vertretung, da die nacheinander ernannten Pflichtverteidiger nicht zu den Verhandlungen erschienen. Der Straßburger Gerichtshof entschied, daß trotz der nicht-ausdrücklichen Erwähnung eines Rechtes auf Teilnahme an strafrechtlichen Verfahren eine systematisch-teleologische Auslegung des gesamten Artikels 6 unter besonderer Berücksichtigung des Abs. 3 (c), (d) und (e) ein solches Recht begründe. Er stellte zudem fest, daß es die Aufgabe der Vertragsstaaten sei, die von der EMRK entwickelten Standards zu erreichen und in einer Situation wie der vorliegenden die Beweislast für die Vorsätzlichkeit der Unerreichbarkeit nicht bei dem Angeklagten liegen dürfe. Aufgrund der mangelnden Stichhaltigkeit der Unerreichbarkeitsvermutungen und der fehlenden Berufungsmöglichkeit gegen das Urteil in absentia entschied der EGMR, daß eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 vorlag und legte eine Entschädigungszahlung fest. Daraufhin wurden die entsprechenden Regeln der italienischen Strafprozeßordnung in Einklang mit der Konvention gebracht.

In der Rechtssache Ciulla ./. Italien15 wurde der Beschwerdeführer von zahlreichen staatsanwaltlichen Behörden in Italien verfolgt. Er wurde schließlich zu einem Zeitpunkt inhaftiert, als noch ein Verfahren aufgrund eines speziellen Gesetzes gegen organisiertes Verbrechen, das den Erlaß von Zwangsaufenthalten erlaubte, anhängig war. Die italienische Regierung versuchte die in Frage stehende Verletzung des Art. 5 Abs. 1 vor allem mit der Existenz eines begründeten Verdachts gem. Abs. 1 (c) zu rechtfertigen. Der Straßburger Gerichtshof betonte jedoch, daß im Kontext des Abs. 1 (a) und Abs. 3 ein Freiheitsentzug nur im Rahmen strafrechtlicher Verfahren gerechtfertigt werden könne. Die Vorschrift zu Zwangsaufenthalten beruhe jedoch anders als bei Haftstrafen mehr auf Verdächtigungen als auf Beweisen und könne daher nicht mit der Beweisermittlung dienenden Untersuchungshaft gleich gesetzt werden. Der EGMR erkannte auf eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 und Abs. 5. Aus dem fraglichen Gesetz wurden schon vor der Verkündung des Urteils die Vorschriften über den Zwangsaufenthalt gestrichen und die Möglichkeit einer Entschädigungszahlung für ungerechtfertigte Inhaftierung eingefügt.

In der Rechtssache Brincat ./. Italien16 entschied der EGMR über die objektive Unparteilichkeit eines Mitarbeiters der Staatsanwaltschaft. Der Mitarbeiter hatte hierbei über die Fortdauer der Inhaftierung des Beschwerdeführers entschieden. Der Gerichtshof stellte fest, daß die in Art. 5 Abs. 3 geforderte Vorführung nicht vor solchen Personen erfolgen dürfe, die in das spätere Verfahren eingreifen könnten. Er stellte ferner fest, daß es nicht auf eine tatsächliche spätere Einflußnahme ankäme, sondern nur auf die objektive Möglichkeit zum Zeitpunkt der Vorführung. Infolge des Urteils schufen die italienischen Behörden die neue Instanz des Ermittlungsrichters, der auf Verlangen der Staatsanwaltschaft Maßnahmen gegen verfassungsmäßige Rechte und Freiheiten anordnen darf.

Wie bereits erörtert, hatte der Gerichtshof mehrfach Fälle ein Gesetz betreffend zu entscheiden, das Vorbeugungsmaßnahmen gegenüber Personen erlaubte, die eine Gefahr für die Sicherheit und öffentliche Moral darstellten (Mafia). In diesem Zusammenhang waren neben den bereits erwähnten Zwangsaufenthalten auch Eigentumskonfiskationen Gegenstand verschiedener Urteile. In der Rechtssache Raimondo ./. Italien17 waren verschiedene Immobilien und Fahrzeuge des Antragstellers beschlagnahmt und Raimondo zudem unter spezielle häusliche Polizeiüberwachung gestellt worden. Der EGMR verneinte aufgrund der vorläufigen Natur der Maßnahmen und im Hinblick auf die hohe wirtschaftliche Kriminalität der Mafia, daß ein endgültiger und ungerechtfertigter Eigentumsentzug und damit eine Verletzung des Art. 1 Satz 2 ZP I vorlag. Allerdings stellte die Verzögerung von bis zu über vier Jahren der von einem Berufungsgericht angeordneten Rückgabe eines Teils des Eigentums eine Verletzung des Art.1 ZP I dar. Die gleichzeitig beklagte Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch die Polizeiüberwachung und den Hausarrest war nach Ansicht der Straßburger Richter ebenfalls zu Beginn gerechtfertigt, stellte jedoch später aufgrund der ungerechtfertigten Verzögerung zwischen der rechtlichen und der tatsächlichen Aufhebung der Maßnahme eine Verletzung des Artikel 2 ZP II dar.18  

Eigentumsfragen wurden auch in anderem Zusammenhang erörtert. So ging es in dem Fall Katte Klitsche de la Grange ./. Italien19  um eine Vereinbarung zwischen einer Bezirksverwaltung und dem Beschwerdeführer, die eine Bebauung eines Teils seines Landeigentums innerhalb eines Parks regelte. Der Beschwerdeführer begann daraufhin, die nötige Infrastruktur für die geplante Bebauung zu schaffen. In einem späteren Bebauungsplan des Landkreises war allerdings ein Teil des zuvor einbezogenen Landes des Beschwerdeführers nicht enthalten. Zudem wurde eine Bebauung der ausgeschlossenen Gebiete nicht erlaubt. Der Gerichtshof konzentrierte sich wie in den meisten Eigentumsfällen auf die Frage der Rechtfertigung des Eingriffs. Das Verhältnismäßigkeitsgebot gibt auf, ein faires Gleichgewicht zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses und dem notwendigen Schutz der fundamentalen Rechte des Individuums zu finden. Hierbei gesteht der EGMR den nationalen Gerichten gerade in bezug auf Wohnraumfragen einen weiten Beurteilungsspielraum zu, da dieser Bereich eine wichtige Rolle im Rahmen der Wohlfahrts- und Wirtschaftspolitik spiele und grundsätzlich besser von den nationalen Behörden beurteilt werden könne. Jede Einschränkung müsse aber neben dem Proportionalitätsprinzip auch der Notwendigkeit für verfahrensrechtliche Sicherungen und dem Verbot der Willkür und Unvorhersehbarkeit Rechnung tragen20 Nach Ansicht der Straßburger Richter hätte im vorliegenden Fall das andauernde Bebauungsverbot – das auch einen möglichen Verkauf nachweislich erschwerte – einer de facto-Enteignung gleich kommen müssen. Da es aber aufgrund der zeitlichen Begrenzung der Bebauungspläne und der nur teilweisen Nutzungseinschränkung des gesamten Eigentums des Beschwerdeführers an der Endgültigkeit der Enteignung mangelte, stellte der EGMR keine Verletzung des Art. 1 Protokoll I fest.

In der Rechtssache Calogero Diana ./. Italien21 war der Beschwerdeführer aufgrund terroristischer Verbrechen wiederholt verurteilt und inhaftiert worden. Ihm wurden während der Haft seine bürgerlichen Rechte entzogen. Ferner unterlag seine gesamte Korrespondenz einer permanenten Kontrolle und Zensur, die sich auch auf die Kommunikation mit seinem Anwalt erstreckte. Für die Beurteilung der Rechtfertigung dieses Eingriffs in Art. 8 Abs. 1 bezog sich der Straßburger Gerichtshof auf die bekannte Prüfungstriade: (a) Handelt es sich um einen rechtmäßigen Eingriff? (b) Werden legitime Ziele verfolgt, und (c) ist der Eingriff für die Erreichung der Ziele in einer demokratischen Gesellschaft notwendig?. In dem vorliegenden Fall war bereits das ermächtigende Gesetz hinsichtlich des Anwendungsbereichs, der Dauer und Art der Ausführung der Kontroll- und Zensurmaßnahmen zu unspezifisch, so daß eine Verletzung des Art. 8 Abs. 1 vorlag.

In dem Fall Guerra und andere ./. Italien22 beklagten die Beschwerdeführer die ökologischen und gesundheitlichen Auswirkungen einer landwirtschaftlichen Chemiefabrik in der Nähe ihres Wohnortes. Obwohl die Fabrik nach der Implementierung der Seveso-Direktive des Rates der Europäischen Gemeinschaften als hochgefährlich eingestuft wurde und eine spezielle Kommission die Beachtung der Direktive und die Sicherheit der Fabrik prüfte, wurde die gefährdende Düngerproduktion erst 1994 eingestellt. Zudem wurde die Bevölkerung nicht über Sicherheitsmaßnahmen und Verhaltensweisen in einem Notfall informiert. Die Beschwerdeführer beklagten eine Verletzung der Art. 10, 8 und 2. Die Straßburger Menschenrechtskommission legte die Formulierung des Art. 10 Abs. 1 bezüglich der Freiheit, Informationen zu empfangen, weit aus. Wenn die Umwelt und damit das allgemeine Wohl und die Gesundheit der Bevölkerung gefährdet seien, müßte die besagte Vorschrift als tatsächliches Recht auf Information verstanden werden. Dieses Recht müsse daher nicht nur mit der Bereitstellung von Informationen, sondern mit einer positiven Pflicht zur aktiven Informationsverteilung einhergehen. Dieser Sicht schloß sich der Gerichtshof nicht an. Nur in bezug auf die johttp://nbn-resolving.de/urnalistische Freiheit und den speziell gewährten Schutz der Medien in einer demokratischen Gesellschaft sei ein solches Recht der Öffentlichkeit etablierbar. Nach Ansicht der Straßburger Richter sei mit besagter Vorschrift lediglich verboten, jemanden am Empfang von Informationen zu hindern, die andere ihm mitteilen möchten. Selbst in Situationen wie in dem vorliegenden Fall sei jedoch eine positive Pflicht nicht begründbar. Art. 10 kam somit nicht zur Anwendung. Hinsichtlich Art. 8 stellte der Gerichtshof zunächst fest, daß neben dem Zweck der Vorschrift, den Staat von willkürlichen Eingriffen abzuhalten, auch eine positive Pflicht bestehe, für die Achtung des Privat- und Familienlebens zu sorgen. Aufgrund der über mehrere Jahre ausgebliebenen Informationen über Gefährdungsgrad sowie Vorsorge- und Sicherheitsmaßnahmen, sei eine Risikoabschätzung der Bevölkerung verhindert und somit Art. 8 verletzt worden. Obwohl Arbeiter, die in der Fabrik gearbeitet hatten, an Krebs gestorben waren, sah der Gerichtshof aufgrund der Verletzung des Art. 8 eine weitere Erörterung des Art. 2 als nicht notwendig an. Den Beschwerdeführern wurde eine Entschädigungszahlung gewährt.

 

Norman Weiß / Maren Krämer / Knut Traisbach


Anmerkungen:
 

1 Die EMRK war mit zehn Ratifikationen bereits am 3. September 1953 in Kraft getreten.
2 Das Individualbeschwerderecht war bereits am 5. Juli 1955 in Kraft getreten.
3 Art. ohne nähere Bezeichnung sind solche der Europäischen Menschenrechtskonvention.
4 EGMR, Artico ./. Italien, 13. Mai 1980, Serie A Nr. 37.
5 EGMR, Guzzardi ./. Italien, Urteil vom 6. November 1980, Serie A Nr. 39.
6 EGMR, Foti und andere ./. Italien, Urteil vom 10. Dezember 1982, Serie A Nr. 56.
7 EGMR, Baggetta ./. Italien, Urteil vom 25. Juni 1987, Serie A Nr. 119 (13 Jahre und vier Monate); EGMR, Adiletta und andere ./. Italien, Urteil vom 19. Februar 1991, Serie A Nr. 197-E (13 Jahre und fünf Monate).
8 EGMR, Foti und andere ./. Italien, Urteil vom 21. November 1983, Serie A Nr. 69 (Art. 50).
9 EGMR, Capuano ./. Italien und Baggetta ./. Italien, Urteile vom 25. Juni 1987, Serie A Nr. 119.
10 EGMR, Salesi ./. Italien, Urteil vom 26. Februar 1993, Serie A Nr. 257-E.
11 EGMR, Feldbrugge ./. Die Niederlande und Deumeland ./. Deutschland, Urteile vom 29. Mai 1986, Serie A Nr. 99 und 100.
12 EGMR, Luberti ./. Italien, Urteil vom 23. Februar 1984, Serie A Nr. 75.
13 EGMR, Bezicheri ./. Italien, Urteil vom 25. Oktober 1989, Serie A Nr. 164.
14 EGMR, Colozza ./. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Serie A Nr. 89.
15 EGMR, Ciulla ./. Italien, Urteil vom 22. Februar 1989, Serie A Nr. 148.
16 EGMR, Brincat ./. Italien, Urteil vom 26. November 1992, Serie A Nr. 249-A.
17 EGMR, Raimondo ./. Italien, Urteil vom 22. Februar 1994, Serie A Nr. 281-A.
18

Vgl. hierzu: Guzzardi-Urteil (Fn. 2).

19 EGMR, Katte Klitsche de la Grange ./. Italien, Urteil vom 27. Oktober 1994, Serie A Nr. 293-B.
20 Vgl. EGMR, A.O. ./. Italien, Urteil vom 30. Mai 2000, Antragsnummer 00022534/93.
21 EGMR, Calogero Diana ./. Italien, Urteil vom 15. November 1996, RJD 1996-V, S. 1765ff.
22 EGMR, Guerra und andere ./. Italien, Urteil vom 19. Februar 1998, RJD 1998-I, S. 210ff.
 

  Quelle: MenschenRechtsMagazin Heft 3 / 2000  
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