Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 8. Juni 2010

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Standpunkt

Kosovo: Braucht die NATO ein UN-Mandat?
Humanitäre Intervention contra staatliche Souveränität

Der Einsatz von NATO-Streitkräften im Kosovo wirft eine Fülle rechtlicher, politischer und moralischer Probleme auf. Das zentrale völkerrechtliche Problem lautet, ob der Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz von Menschenrechten oder besser: zur Abwehr schwerer Menschenrechtsverletzungen zulässig ist. Wenn diese Frage bejaht werden kann, schließt sich die weitere Frage an: Ist der Einsatz auch ohne ausdrückliche Anordnung oder wenigstens Legitimation durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zulässig?

Die Charta der Vereinten Nationen (1945) hat - gegründet auf die schrecklichen Erfahrungen brutaler Menschenverachtung (Holocaust) und eines verheerenden Weltkriegs - zwei das bisherige Völkerrecht revolutionierende, weil die Bedeutung der staatlichen Souveränität stark relativierende Neuerungen hervorgebracht: das Gewaltverbot, das den Staaten den Einsatz militärischer Gewalt als Mittel der Streiterledigung verbietet, und die Anerkennung von Menschenrechten, deren Ausgestaltung schrittweise erfolgte und deren Respektierung keine bloße innerstaatliche Angelegenheit mehr ist. Auf Verletzungen jedenfalls fundamentaler Menschenrechte dürfen andere Staaten, auch wenn nicht ihre eigenen Staatsangehörigen betroffen sind, reagieren, ohne daß dies eine unerlaubte Intervention darstellen würde. Dies gilt auf alle Fälle für nichtmilitärische Reaktionen. Weitgehend unbestritten ist auch, daß der Sicherheitsrat in einem solchen Fall den Einsatz militärischer Gewalt anordnen oder empfehlen kann, da schwere Menschenrechtsverletzungen heute als Bruch oder doch Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit angesehen werden.

Im Fall Kosovo hat der Sicherheitsrat bereits im September 1998 das Vorliegen dieser Voraussetzungen und die Verantwortung der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) festgestellt (Res. 1199). In diesem Organ bestehen keine Zweifel darüber, daß schwerste Menschenrechtsverletzungen von jugoslawischer Seite gegen die albanischen Kosovobewohner verübt werden. Die Basis für ein Vorgehen gegen Jugoslawien ist daher gegeben. Wegen des Gewaltverbots könnte jedoch die NATO-Aktion gleichwohl völkerrechtswidrig sein, solange der Sicherheitsrat hierzu nicht legitimiert hat.

Das Gewaltverbot beansprucht allerdings keine ausnahmslose Geltung. Die Charta selbst läßt - neben den Zwangsmaßnahmen, zu denen der Sicherheitsrat ermächtigt - das individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht zu. Ob auch die humanitäre Intervention, d. h. der Einsatz militärischer Gewalt zur Abwendung schwerer Menschenrechtsverletzungen ei-ne solche - ungeschriebene - Ausnahme darstellt, wird seit Jahrzehnten in der völkerrechtlichen Literatur streitig diskutiert. Entscheidend ist, ob man letztlich bereit ist, den Schutz der Menschenrechte dem Verbot militärischer Gewaltanwendung vor- oder unterzuordnen. Da der Sicherheitsrat aus Gründen des Menschenrechtsschutzes zur Gewaltanwendung ermächtigen darf, wird die Normenkollision zwischen Gewaltverbot und Menschenrechtsschutz bereits grundsätzlich zugunsten des letzteren gelöst. Kann diese Kollisionslösung aber ausschließlich von der Entscheidung eines politischen und auch politisch agierenden Organs abhängen, dessen fünf ständige Mitglieder beliebig von ihrem Vetorecht Gebrauch machen können? Interessant ist ja, daß vorliegend wegen des drohenden russischen und chinesischen Vetos einerseits der Versuch, eine legitimierende Sicherheitsratresolution zu verabschieden, offiziell nicht unternommen wurde, daß andererseits aber der russische Versuch, die NATO-Aktion zu verurteilen, im Sicherheitsrat nur von drei Staaten (Rußland, China, Namibia) unterstützt wurde (März 1999). Ein klarer Standpunkt ist im Sicherheitsrat also nicht vorhanden. Dies zeigt, daß die grundsätzliche rechtliche Beurteilung nicht ausschließlich vom Fehlen einer Resolution dieses Gremiums abhängen kann. Kommt eine klare Meinungsäußerung des Sicherheitsrates nicht zustande, muß die Frage vielmehr auf der Grundlage des materiellen Völkerrechts beantwortet werden, das es nach heutiger Erkenntnis den Staaten nicht verbietet, auch militärisch gegen einen die Menschenrechte schwer verletzenden Staat zu intervenieren.


Fazit:

Die NATO-Aktion steht auf einem nicht über jeden Zweifel erhabenen, aber doch gut gesicherten Grund. Die schweren Menschenrechtsverletzungen, die die jugoslawische Regierung gegen die Kosovoalbaner begeht, rechtfertigt auch das militärische Eingreifen anderer Staaten, selbst wenn eine hierzu ermächtigende Sicherheitsratsresolution nicht vorliegt. Dabei ist klar, daß die NATO-Streitkräfte ihrerseits in vollem Umfang an das humanitäre Völkerrecht (Stichwort: Genfer Konvention) gebunden sind.

 

Eckart Klein

 

 

Quelle: MenschenRechtsMagazin 2 /  1999

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