Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 8. Juni 2010

Inhalt
 
Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen Deutschland - Ergänzung zu Teil 1

 Aufbereitung von Ulrike Eppe*:

Pammel ./. Deutschland und Probstmeier ./. Deutschland

Urteile vom 1. Juli 19971

Kurzdarstellung und Einordnung der beiden Urteile in die Rechtsprechung des Gerichtshofs, anknüpfend an die Urteilsbesprechung in MRM Heft 3/Juni 1997 - Fall Süßmann2
 

1. Wie schon im Fall Süßmann hatte der Gerichtshof auch in den Fällen Pammel und Probstmeier über die Frage der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 13 (Angemessene Verfahrensdauer) auf Verfahren vor einem nationalen Verfassungsgericht zu entscheiden.

Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiert ein zügiges Verfahren vor einem "Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat". Im Fall Süßmann entschied der Gerichtshof, daß Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar sei, da auch ein sozialversicherungsrechtlicher Anspruch - unabhängig von seiner innerstaatlichen Einordnung - ein zivilrechtlicher Anspruch im Sinne dieser Norm sei und der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens sich unmittelbar darauf auswirke.4 


2. Anders aber als im Fall Süßmann, wo es um die Verfahrensdauer einer Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG ging, stellte sich in den Fällen Pammel und Probstmeier die Frage, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK auch im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens zur Anwendung gelangen kann.5 


3. Die Kommission hatte noch bis Ende der 80er Jahre die restriktive Auffassung vertreten, daß Art. 6 Abs. 1 EMRK für Verfahren vor nationalen Verfassungsgerichten nicht anwendbar sei.6  Sie begründete dies damit, daß in diesen Verfahren einzig die Verfassungsmäßigkeit eines Hoheitsakts überprüft und nicht über den Bestand eines Zivilrechts (oder die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage) bestimmt würde.

Der EGMR schloß sich zunächst dieser Auffassung an,7 revidierte sie aber endgültig in den Fällen Deumeland, Poiss und Ruiz-Mateos.8 Die Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung begründete der Gerichtshof damit, daß die Entscheidung eines Verfassungsgerichts sich jedenfalls "auf den Bestand der zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen auswirken könne" ("Auswirkungstheorie") . Nur dies sei Anwendbarkeitsvoraussetzung für Art. 6 Abs. 1 EMRK im Rahmen von verfassungsgerichtlichen Verfahren.

Ein Verfassungsbeschwerdeverfahren könne - so der EGMR im Fall Deumeland - das Verfahren vor den ordentlichen Gerichten insofern beeinflussen, als das Verfassungsgericht die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an die ordentliche Gerichtsbarkeit zurückverweisen könne.


4. In den Fällen Pammel und Probstmeier hingegen war das BVerfG aufgrund von Vorlagen gem. Art. 100 Abs. 1 GG befaßt worden:

"Während der Fall Süßmann jedoch eine individuelle Verfassungsbeschwerde betraf, [wurde ...] im vorliegenden Fall dem Bundesverfassungsgericht die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften vorgelegt."


5. Die Bundesregierung nahm diesen Unterschied zwischen den Konstellationen im Fall Süßmann einerseits und in den Fällen Pammel/Probstmeier andererseits zum Ausgangspunkt ihrer Argumentation gegen die Anwendung von Art. 6 Abs. 1 und führte aus:

Selbst wenn das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eine Verbindung zu Verfahren aufweise, die "zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen betreffen", sei der Verfahrensgegenstand unterschiedlich. Er betreffe die Verfassungsmäßigkeit von Bestimmungen des Bundeskleingartengesetzes. Eine Entscheidung über eine Vorlage mit Verfahren vor den ordentlichen Gerichten in Verbindung zu bringen, hieße die besondere Funktion des Bundesverfassungsgerichts sowie die Eigenart dieses Verfahrenstypus zu verkennen. Im Hinblick auf die Bedeutung einer solchen mit Gesetzeskraft ausgestatteten Entscheidung dürften dem Bundesverfassungsgericht zudem konkrete Zeitvorgaben für seine Entscheidung nicht gemacht werden.


6. Der Gerichtshof sieht dagegen keinen Anlaß, vom Urteil im Fall Süßmann abzuweichen und für die Frage der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Rahmen von verfassungsgerichtlichen Verfahren eine Unterscheidung vorzunehmen zwischen individuellen Verfassungsbeschwerdeverfahren einerseits und objektiven Normenkontrollverfahren andererseits. Er verweist nurmehr darauf,

"daß Art. 6 Abs. 1  für ein Verfahren maßgebend ist, und zwar auch dann, wenn es vor einem Verfassungsgericht geführt wird, sofern sein Ausgang für zivilrechtliche Ansprüche (...) ausschlaggebend ist." (Verweis auf Süßmann, Ziff. 41)

Von der Beeinflussung des vor den ordentlichen Gerichten anhängigen Verfahrens sei auch dann auszugehen, wenn dieses aufgrund eines Vorlagebeschlusses ausgesetzt wird und das vorlegende Gericht vor seiner eigenen Entscheidung die Entscheidung des BVerfG abwarten muß.9 Daher sei auch in diesem Fall Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar.


Die Urteile Pammel und Probstmeier setzen damit konsequent die Rechsprechungslinie fort, die mit dem Urteil im Fall Deumeland begonnen und mit dem Fall Süßmann fortgeführt wurde.


7. Doch anders als im Fall Süßmann, wo der Gerichtshof Art. 6 Abs. 1 zwar anwendete, aber eine Verletzung wegen der wiedervereinigungsbedingten Überlastung des BVerfG ablehnte, beurteilte er die Verfahrensdauer in den Fällen Pammel und Probstmeier als unangemessen lang und sah damit Art. 6 Abs. 1 EMRK als verletzt an.

Im Fall Süßmann hielt er dem Bundesverfassungsgericht zugute, daß es vierundzwanzig bei ihm anhängige Fälle verbunden hatte, um sich einen Gesamtüberblick über die aufgeworfenen Rechtsfragen zu verschaffen, und daß es insbesondere zu berücksichtigen hatte, daß das Urteil sich über diese Einzelfälle hinaus auf den Bestand von 300.000 Arbeitsverhältnissen im öffentlichen Dienst der früheren DDR auswirken konnte.10  

Ein solcher einzigartiger politischer Zusammenhang war in den Fällen Pammel und Probstmeier nicht gegeben. Eine allgemeine wiedervereinigungsbedingte Überlastung des Gerichts ist vom Gericht zu verantworten, das seine Organisation der gestiegenen Zahl von Fällen hätte anpassen müssen. Daher komme

"im Gegensatz zu der Situation im Fall Süßmann (...) der deutschen Vereinigung im vorliegenden Fall lediglich eine zweitrangige Rolle zu. Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Einigungsvertrages (...) war die Sache Pammel (Probstmeier) bereits seit mehr als drei Jahren (seit mehr als fünf Jahren) beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Daher kann die Dauer des verfassungsgerichtlichen Verfahrens trotz der Komplexität der Sache in der in Art. 6 Abs. 1 bestimmten Voraussetzung der 'angemessenen Frist' nicht genügen.

 

Die Entscheidung erging einstimmig.


Anmerkungen:
 

1 Pammel, Reports, 1997-IV, S. 1096ff. = EuGRZ 1997, S. 310ff. Probstmeier, Reports, 1997-IV, S. 1123ff = EuGRZ 1997, S. 405ff
2 Süßmann, Reports, 1996-IV, S. 1158ff. = EuGRZ 1996, S. 514ff.
3 Artikel ohne nähere Angabe sind solche der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK), BGBl. 1952 II 686 (mit späteren Änderungen).
4 Süßmann, s. Fn. 2, Ziff. 43, 44.
5 Kontrollgegenstand des Vorlageverfahrens gem. Art. 100 Abs. 1 GG waren Bestimmungen des Bundeskleingartengesetzes in der Fassung vom 28. Februar 1983; Beschluß des BVerfG vom 23. September 1992 (BVerfG E  87, 114 = EuGRZ 1992, S. 567ff.).
6 Vgl. Frowein/Peukert, Art. 6 Rn. 25 mwN.
7 So noch in Buchholz, Urteil vom 6. Mai 1981, Serie A, Band 42, Ziff. 47 f.
8 Deumeland, Urteil vom 29. Mai. 1986, Serie A, Band 100, Ziff. 77; Poiss, Urteil vom 23. April 1987, Serie A, Band 117, Ziff. 50; Ruiz-Mateos, Urteil vom 23. Juni 1993, Serie A, Band 262, Ziff. 59.
9 Die Fälle Pammel und Probstmeier ähneln damit eher dem Fall Ruiz-Mateos, s. Fn. 7. Darauf weist auch der Gerichtshof hin.
10 Süßmann, s. Fn. 2, Ziff. 60.
 
Quelle: MenschenRechtsMagazin Heft 3/98 

Inhalt