Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 8. Juni 2010

 

Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen Deutschland - Teil 7*

Aufbereitung von Friederike Brinkmeier:

Streletz, Keßler und Krenz./. Deutschland

Urteil vom 22. März 20011

 

Zusammenfassung (nicht-amtliche Leitsätze):
  1. Es ist legitim, wenn ein Rechtsstaat Strafverfahren gegen Personen einleitet, die unter einem früheren Regime Verbrechen begangen haben. Ferner können die Gerichte, die an die Stelle der früheren Gerichte treten, die zur Tatzeit geltenden Rechtsvorschriften im Lichte rechtsstaatlicher Grundsätze anwenden und auslegen.

  2. Das Recht auf Leben ist das höchste Rechtsgut auf der Werteskala der international anerkannten Menschenrechte (Art. 3 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), Art. 6 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Pakt), Art. 2 Abs. 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)). Das Grenzschutzsystem der DDR, insbesondere der Schießbefehl und die Antipersonenminen, verstieß flagrant gegen dieses ranghöchste Menschenrecht. Die Beschwerdeführer, die verantwortlich für die repressive Grenzsicherungspolitik sind, können daher nicht den Schutz von Art. 7 EMRK in Anspruch nehmen.

  3. Auch die DDR-Verfassung (von 1968 i.d.F. von 1974) erkennt in Art. 19 Abs. 2 und Art. 30 Abs. 1 und 2 das Recht auf Leben als unveräußerliches Attribut des Menschen. Das zur Tatzeit geltende DDR-Recht muß im Lichte dieses verfassungsrechtlichen Gebotes ausgelegt werden: Die Tötung unbewaffneter, wehrloser Personen an der Grenze steht im krassen Widerspruch dazu und ist auch nach den zum damaligen Zeitpunkt geltenden nationalen Regeln unverhältnismäßig und nicht gerechtfertigt. Der Umstand, daß die Beschwerdeführer in der DDR nicht strafrechtlich belangt worden sind, bedeutet keinesfalls, daß ihre Handlungen keine Straftaten nach DDR-Recht darstellen.

  4. Die Beschwerdeführer tragen für die fraglichen Handlungen auch individuelle Verantwortung. Sie haben den Schießbefehl selbst an die Grenztruppen ausgegeben und können sich zur Rechtfertigung auch nicht darauf berufen, daß der Schießbefehl eine Staatspraxis darstellte, die geltende Rechtsvorschriften überlagerte.

  5. Die Strafverfolgung und Verurteilung der Beschwerdeführer war schließlich konkret erkennbar und voraussehbar: Aufgrund der Innehabung hoher Ämter konnten die Beschwerdeführer nicht in Unkenntnis der Verfassung, der völkerrechtlichen Verpflichtungen der DDR oder der internationalen Kritik am Grenzregime sein. Eine solche Praxis, die der nationalen und internationalen Rechtsordnung seine Substanz beraubt, kann nicht als "Recht" im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK angesehen werden.
 

 

Sachverhalt

Die drei Beschwerdeführer waren hohe DDR-Funktionäre: Fritz Streletz war stellvertretender Verteidigungsminister, Heinz Keßler war Verteidigungsminister der DDR und Egon Krenz Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzender der DDR.

Streletz und Keßler wurden 1993 wegen ihrer Mitwirkung an Entscheidungen des Nationalen Verteidigungsrats und des Politbüros, in denen die Gestaltung des Grenzregimes und auch der Schießbefehl an der Mauer festgelegt wurden, für den Tod mehrerer, zumeist sehr junger Personen verantwortlich gemacht, die zwischen 1971 und 1989 versucht hatten, die DDR über die innerdeutsche Grenze zu verlassen.

Sie wurden zu Haftstrafen von fünf Jahren und sechs Monaten (Streletz) und sieben Jahren und sechs Monaten (Keßler) verurteilt. Das Landgericht Berlin wies den Einwand der Angeklagten zurück, ihre Handlungen seien nach damals gültigem DDR-Recht gemäß § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes der DDR gerechtfertigt gewesen und eine Bestrafung verstoße gegen das Rückwirkungsverbot. Das Landgericht argumentierte, daß Rechtfertigungsgründe, die offensichtlich und unerträglich gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und völkerrechtlich geschützte Menschenrechte verstoßen hätten, kein gültiges Recht darstellten.2

Die Revision der Angeklagten wurde vom BGH, wenn auch mit einer abweichenden Begründung, zurückgewiesen. Der BGH führte in seinem Urteil aus, daß einem richtig interpretierten § 27 Abs. 2 Grenzgesetz der DDR schon zum Tatzeitpunkt ein Rechtfertigungsgrund nicht hätte entnommen werden können. Eine entsprechende Auslegung der Vorschrift verletze die auch von der DDR anerkannten elementaren Menschenrechte auf Leben (Art. 3 AEMR, Art. 6 Pakt) und Freizügigkeit (Art. 12 Pakt) und sei daher unbeachtlich. Das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG sei durch die Nichtanwendung des Rechtfertigungsgrundes deshalb nicht verletzt, da diese Interpretation bereits zur damaligen Zeit im Lichte der DDR-Verfassung und den nach dem Recht der DDR zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden zur Einhaltung der internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen angebracht gewesen wäre. Schließlich hätten die Angeklagten als höchste Repräsentanten des Staaten auch Kenntnis davon haben müssen, daß sich die DDR durch Ratifikation des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte offiziell zu dem darin garantierten Menschenrechten bekannt habe.3

Auch die Verfassungsbeschwerden blieben erfolglos. Das Bundesverfassungsgericht führte in den Urteilsgründen aus, daß das Rückwirkungsverbot gemäß Art. 103 Abs. 2 im Lichte des Grundgesetzes und seiner rechtsstaatlichen Gewährleistungsfunktion auszulegen sei. Es gelte nur dann ausnahmslos, wenn eine Strafrechtsnorm eine rechtsstaatliche Anknüpfung besitze. An einer Vertrauensgrundlage fehle es aber, wenn der Träger der Staatsmacht für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtsfertigungsgründe ausschließe, oder wenn er über die genannten Normen hinaus zu solchen Straftaten aufrufe und dadurch die in der Völkergemeinschaft anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachte. In solchen Fällen trete der strikte Schutz des Vertrauens aus Art. 103 Abs. 2 GG zurück, andernfalls gerate die Strafrechtpflege der Bundesrepublik Deutschland zu ihren rechtsstaatlichen Prämissen in Widerspruch. Bei Gesetzen, die der Rechtfertigung gezielten Tötens von unbewaffneten Personen dienten, die ohne Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überqueren suchten, sei kein rechtsstaatlicher Anknüpfungspunkt erkennbar und ein solcher Vertrauenswegfall anzunehmen.4

Gegen Krenz wurde erst im Juli 1995 Anklage erhoben. Das Landgericht Berlin verurteilte ihn 1997 zu sechs Jahren und sechs Monaten Freiheitsentzug. Es machte ihn für den Tod von drei Mauerflüchtlingen verantwortlich, weil auch er von 1983 an bis 1989 an Entscheidungen des Nationalen Verteidigungsrates und des Politbüros der SED zum Grenzregime beteiligt gewesen war.5Seine Revision wurde 1999 vom BGH abgewiesen6 und die Verfassungsbeschwerde im Januar 2000 vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen, wobei auf die Begründung des Urteils aus dem Jahre 1996 im Fall Keßler und Streletz verwiesen wurde.7

Überblick über das Grenzsystem der DDR

Von 1949 bis 1961 flohen etwa 2,5 Millionen Deutsche aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland. Der Strom von Flüchtlingen sollte durch den Bau der Mauer und Verschärfungen des Grenzsystems ab dem 13. August 1961 unterbunden werden.

Zuständig für die Landesverteidigung und damit das Grenzsystem war der schon im Jahre 1960 geschaffenen Nationale Verteidigungsrat (NVR) gemeinsam mit dem Staatsrat der DDR. Der NVR war die oberste Instanz im Notstandsfall und gehörte neben dem SED-Politbüro zu den wichtigsten Entscheidungsgremien der DDR. Alle drei Beschwerdeführer waren Mitglieder des NVR.

Ziel des NVR war es, die Grenze zur Bundesrepublik Deutschland unpassierbar zu machen. So wurden entlang der innerdeutschen Grenze Antipersonen-Minen und Selbstschußanlagen installiert. Schon 1962 hat der NVR in einer Entscheidung klargestellt, daß Befehle und Dienstvorschriften den Grenztruppen deutlich machen sollen, daß sie für den Schutz der Unverletzlichkeit der Grenze im jeweiligen Sektor voll verantwortlich seien und daß Grenzverletzer wie Gegner verhaftet und "gegebenenfalls vernichtet" werden sollten. Die Befehle zielten bis 1989 also darauf ab, die Grenzen auch mittels Tötung von Grenzverletzern zu schützen, wobei § 27 Abs. 2 StGB-DDR so ausgelegt wurde, daß das Erschießen von Personen, die unerlaubt den Grenzbereich betreten und die Grenze zu übertreten versuchen, gerechtfertigt sei. Die Befehle und das innerstaatliche Recht ordneten damit das Lebensrecht des einzelnen dem staatlichen Interesse an Grenzsicherheit unter.

Über die genaue Zahl der Mauertoten gibt es widersprüchliche Angaben: Die Berliner Staatsanwaltschaft registrierte insgesamt 270 Maueropfer, die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität zählt 421 Todesopfern am gesamten Grenzverlauf, die Arbeitsgemeinschaft 13. August geht aufgrund des Inhaltes der Gauck-Akten von etwa 1000 Grenztoten aus. Die genaue Zahl ist deswegen so schwierig zu beziffern, weil die Todesfälle an der Grenze von der DDR systematisch verschleiert wurden. Die ersten tödlichen Schüsse fielen am 24. August 1961, also 11 Tage nach dem Bau der Mauer. Im Jahre 1966 wurden zwei Kinder, 10 und 13 Jahre, im Grenzstreifen durch 40 Schüsse getötet. Der letzte tödliche Zwischenfall an der Grenze ereignete sich am 5. Februar 1989.

 

Verfahren vor Kommission und Gerichtshof

Im Jahre 1996 erhob Streletz und im Jahre 1997 Keßler gegen Deutschland Beschwerde vor der Europäischen Menschenrechtskommission gemäß dem früheren Art. 25 EMRK.8 Krenz wandte sich am 4. November 1998 nach Art. 34 EMRK an den Gerichtshof.

Alle drei Beschwerden wurden schließlich vor der Großen Kammer (17 Richter) des Gerichtshofes verhandelt9

Die drei Beschwerdeführer trugen vor, daß die Handlungen, derentwegen sie strafrechtlich verfolgt worden waren, zur Zeit ihrer Begehung weder nach dem Recht der DDR noch nach Völkerrecht Straftaten darstellten. Ein Zusammenbruch der DDR, ein Wegfall des DDR-Rechts und der aus ihr abgeleiteten Rechtfertigungsgründe sei nicht vorhersehbar gewesen. Auch die Auslegung von einschlägigem DDR-Recht und internationalen Menschenrechtskonventionen durch deutsche Gerichte nach der Wiedervereinigung fände keinerlei Stütze in der Rechtsprechung der DDR-Gerichte und sei für sie zur Zeit der Vorgänge, die zu ihrer Anklage führten, in keiner Weise zugänglich gewesen.

Für das Grenzsystem sei allein die DDR als Staat verantwortlich. Neben der staatlichen Verantwortlichkeit könne die Beschwerdeführern keine individuelle Verantwortlichkeit treffen.

Krenz trug ferner vor, daß er erst im Jahre 1983 Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates und des Politbüros wurde, als der Verteidigungsrat über den ausdrücklichen Befehl zum Schusswaffengebrauch an der Grenze längst beschlossen hatte10

Die Verurteilung durch die deutsche Justiz sei als ein Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der EMRK zu bewerten. Ferner wurde eine Verletzung von Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 vorgetragen. 

A. Zulässigkeit der Klage

Die Zulässigkeit der Beschwerde ist unproblematisch zu bejahen.

B. Begründetheit der Klage

I. Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK

Art. 7 Abs. 1 in der hier einschlägigen Fassung lautet:

(1) "Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohten Strafe verhängt werden."

 

1. Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK

Der Gerichthof untersucht, ob die Beschwerdeführer wegen Mitwirkung an Entscheidungen, die den Schießbefehl an der Mauer aufrecht erhalten haben, für den Tod von Republikflüchtlingen durch bundesdeutsche Gerichte zu Recht verurteilt worden sind.11Mit anderen Worten: Der Gerichtshof prüft, ob durch eine nachträgliche Uminterpretation strafrechtlicher Rechtssätze der DDR das Verbot der rückwirkenden Bestrafung aus Art. 7 Abs. 1 EMRK verletzt worden ist.

 

2. Schutzbereich

Unter Art. 7 Abs. 1 EMRK hat der Gerichthof zu prüfen, ob die Handlungen der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Begehung nach innerstaatlichem Recht der DDR oder nach dem Völkerrecht strafbar waren. Ferner müßte die Strafbarkeit für sie erkennbar und vorhersehbar gewesen sein.

Der Gerichtshof leitet seine Urteilsbegründung mit allgemeinen Ausführungen zu Art. 7 ein: Es sei nicht seine Aufgabe, eine Entscheidung über individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beschwerdeführer zu treffen, diese Beurteilung obliege in erster Linie den innerstaatlichen Gerichten.1

Er betont, daß Art. 7 im Schutzsystem der Europäischen Menschenrechtskonvention als wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit eine ganz herausragende Stellung einnehme. Dies ergebe sich schon daraus, daß vom Rückwirkungsverbot auch im Notstandsfall nicht abgewichen werden darf (Art. 15 Abs. 2 EMRK).

Art. 7 EMRK enthalte neben dem Verbot rückwirkender Strafgesetze auch den Grundsatz, daß Straftatbestände nur durch Gesetz festgelegt sein dürfen: Nullum crimen, nulla poena sine lege.13 Wie auf jedem Rechtsgebiet sei im Art. 7 EMRK notwendigerweise ein Element gerichtlicher Auslegung mitenthalten. Ferner enthalte er auch den Grundsatz, daß Strafrecht nicht zum Nachteil des Angeklagten weit ausgelegt werden dürfe (Verbot von Analogieschlüssen).

"Recht" im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK umfasse sowohl geschriebenes wie ungeschriebenes Recht. Letzteres müsse jedoch gewissen qualitativen Eigenschaften wie Zugänglichkeit und Voraussehbarkeit genügen.

 

a) Strafbarkeit nach innerstaatlichem Recht

aa) Rechtsgrundlage der Verurteilung nach DDR-Recht

Der Gerichtshof stellte fest, daß das Strafrecht der DDR zur Tatzeit als Grundlage für eine Bestrafung der Täter ausreichend war (§§ 112 und 213 StGB-DDR i.V.m. Art. § 22 Abs. 2 StGB-DDR).

Art. 19 Abs. 2 DDR-Verfassung hatte folgenden Wortlaut:

"Achtung und Schutz der Würde und Freiheit der Persönlichkeit sind Gebot für alle staatlichen Organe, alle gesellschaftlichen Kräfte und jeden einzelnen Bürger".

Art. 30 Abs. 1 und 2 DDR-Verfassung verstärkt den Schutz des Lebens und der Integrität des Einzelnen:

"(1) Die Persönlichkeit und Freiheit jedes Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik sind unantastbar
(2) Einschränkungen sind nur im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen oder einer Heilbehandlung zulässig und müssen gesetzlich begründet sein. Dabei dürfen die Rechte solcher Bürger nur insoweit eingeschränkt werden, als dies gesetzlich zulässig und unumgänglich ist."

Den Beschwerdeführern wurde die Berufung auf eine Rechtfertigung nach Art. 17 Abs. 2 des Volkspolizeigesetzes und § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes der DDR versagt. Auf der Grundlage dieser Vorschriften wurden sie in der DDR nie strafrechtlich belangt.

Aber auch diese Bestimmungen sahen die Anwendung einer Schußwaffe nur als äußerste Maßnahme an, die nach Möglichkeit nicht gegen Jugendliche und nur unter Schonung des Lebens gebraucht werden sollte.

"61. Die Bestimmungen, welche somit ausdrücklich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie den Grundsatz der Erhaltung menschlichen Lebens mit einschlossen, müssen auch im Lichte der in der Verfassung der DDR selbst niedergelegten Grundsätze gesehen werden.[...]".

Die Auslegung dieser Rechtfertigungsnormen durch die deutschen Gerichte und ihre Entscheidung, den Beschwerdeführern deren Anwendung zu versagen, wird vom Gerichtshof im Ergebnis nicht beanstandet: Die Tötung unbewaffneter, überwiegend sehr junger Personen, die für niemanden eine Gefahr darstellten und allein das Ziel verfolgten, die DDR zu verlassen, habe bereits zur Tatzeit nicht mit dem innerstaatlichen Gebot des Lebensschutzes und dem in den Rechtfertigungsnormen angelegten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Einklang gestanden.

Auch eine Berufung der Beschwerdeführer auf aus der DDR-Staatspraxis abgeleiteten Rechtfertigungsgründe wird mit der Begründung abgelehnt, daß das Recht auf Leben schon zur Tatzeit das höchste Rechtgut im DDR-Verfassungsrecht und auf der Werteskala der international anerkannten Menschenrechte gewesen sei. Die kategorische Natur des Befehls an die Grenztruppen "Grenzverletzer zu vernichten und die Grenze unter allen Umständen zu sichern" stelle eine krasse Verletzung der in den Art. 19 und 30 DDR-Verfassung niedergelegten Grundrechte dar14

"74. Der Gerichtshof stellt ferner fest, daß die Bf. sich zu ihrer Rechtfertigung auf einen Schießbefehl berufen, den sie selbst an die Grenztruppen ausgegeben hatten und daß sie wegen der darauf beruhenden Praxis verurteilt wurden. Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen kann ein Angeklagter jedoch ein Verhalten, auf dem seine Verurteilung beruht, nicht dadurch rechtfertigen, daß dieses Verhalten, weil es tatsächlich stattgefunden hat, eine Praxis darstellte."

 

bb) Die individuelle Verantwortlichkeit der Beschwerdeführer

Die Beschwerdeführer berufen sich ferner darauf, daß nur die DDR als Staat, nicht sie als Individuen für die Mauertoten völkerrechtlich verantwortlich seien.

Demgegenüber stellt der Gerichtshof auf die herausgehobene Funktion und Tätigkeit im Nationalen Verteidigungsrat und im Staatsrat ab. Er betont, daß der Widerspruch zwischen dem in der DDR geltenden Recht und der abweichenden Staatspraxis den Beschwerdeführern weitestgehend selbst zuzuschreiben sei: Die Errichtung von Selbstschußanlagen, Erdminen und die Erteilung des Schießbefehls an die Grenztruppen sei vom Staatsrat und dem NVR beschlossen worden. Die Beschwerdeführer konnten nicht in Unkenntnis der Verfassung, der völkerrechtlichen Verpflichtungen der DDR oder der internationalen Kritik am Grenzregime sein.

"103. Die betreffende Staatspraxis war zu einem großen Teil das Werk der Beschwerdeführer selbst, die als führende Politiker wußten – oder wissen mussten – daß sie gegen die Grund- und Menschenrechte verstießen, denn sie konnten nicht in Unkenntnis der Gesetzgebung ihres eigenen Landes sein. [...] Ebenso konnten die Bf., wie bereits erwähnt (s.o. Ziff. 78) nicht in Unkenntnis der von der DDR eingegangenen internationalen Verpflichtungen bzw. der wiederholten internationalen Kritik an ihrem Grenzsicherungssystem sein."

Der Gerichtshof leitet die individuelle Verantwortlichkeit der Beschwerdeführer ferner aus DDR-Strafrecht ab:

"74. Unabhängig von der Verantwortlichkeit der DDR als Staat waren die Handlungen der Bf. als Individuen durch § 95 StGB-DDR als Straftaten qualifiziert, denn schon in der Fassung von 1968, die 1977 beibehalten wurde, lautete diese Bestimmung: Auf Gesetze, Befehl oder Anweisung kann sich nicht berufen, wer in Mißachtung der Grund- und Menschenrechte [...] handelt; er ist strafrechtlich verantwortlich.

75. Folglich unterliegt es keinem Zweifel, daß die Beschwerdeführer für die fraglichen Handlungen individuelle Verantwortung trugen."15

Der Umstand allein, daß die Beschwerdeführer in der DDR nicht strafrechtlich belangt worden seien, bedeute keinesfalls, daß ihre Handlungen keine Straftaten nach dem Recht der DDR darstellten.16

 

cc) Vorhersehbarkeit der Verurteilungen

Der Gerichtshof stellt ebenfalls fest, daß die Verurteilungen für die Beschwerdeführer vorhersehbar waren: Sie haben selbst an der Errichtung des DDR-Grenzregimes mitgewirkt und geheime Befehle zur Konsolidierung des Grenzsystems beschlossen, durch die die im Gesetzblatt der DDR veröffentlichten gesetzlichen Vorschriften überlagert wurden. Im Schießbefehl an die Grenztruppen der DDR haben sie angeordnet, die Grenzen der DDR "unter allen Umständen" zu sichern und "Grenzverletzer" festzunehmen oder sie "zu vernichten".17 Aufgrund ihrer hohen Positionen konnten sie nicht in Unkenntnis der Verfassung, der völkerrechtlichen Verpflichtungen der DDR oder der internationalen Kritik am Grenzregime sein.

"89. Als Ergebnis all dieser Erwägungen kommt der Gerichtshof zum Schluß, daß die Handlungen der Beschwerdeführer zur Tatzeit Straftaten darstellten, die mit einem ausreichenden Maß von Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit im DDR-Recht niedergelegt waren."

 

dd) Zwischenergebnis

Der Gerichtshof kommt zum Ergebnis, daß weder die Auslegung der DDR-Bestimmungen noch ihre Anwendung auf den jeweiligen Fall durch die deutschen Gerichte willkürlich ist: Die Handlungen der Beschwerdeführer waren bereits nach DDR-Recht strafbar. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit war für die Beschwerdeführer vorhersehbar und erkennbar. Als hohe Staatsfunktionäre, die an Beschlüssen zur Errichtung und Erhalt des Grenzregimes beteiligt waren, sind sie auch individuell für die Tötungen an der innerdeutschen Grenze verantwortlich. Daher ist kein Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK festzustellen.

"87. Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß eine Staatspraxis wie die Grenzsicherungspolitik der DDR, welche flagrant gegen die Menschenrechte und vor allem gegen das Recht auf Leben verstößt, das den höchsten Rang in der Werteskala der internationalen Menschenrechte einnimmt, nicht durch Art. 7 Abs. 1 der Konvention gedeckt sein kann. Diese Praxis, welche die Gesetzgebung, auf der sich angeblich beruhte, ihrer Substanz beraubte und die für alle Organe der DDR einschließlich der Rechtspflegeorgane verbindlich war, kann nicht als "Recht" im Sinne des Art. 7 EMRK angesehen werden."

Der Gerichtshof folgt in diesem Fall also dem Begründungsansatz des BGH:18 Über die Auslegung des DDR-Rechts im Lichte der DDR-Verfassung und der Menschenrechte gelangt er im Ergebnis zu einer Nichtanwendung des Verbotes der rückwirkenden Bestrafung. Allerdings entbehrt m. E. auch die auf der Radbruch’schen Formel19 basierende Begründung des LG Berlins nicht an Klarheit und Überzeugungskraft.20

 

b) Völkerrecht

Der Gerichtshof hält es für seine Pflicht, den Fall auch unter dem Gesichtpunkt der Grundsätze des internationalen Rechts zu prüfen, insbesondere derjenigen, die sich aus dem internationalen Menschenrechtsschutz ergeben. Hier weist er ausdrücklich auf die Entscheidungen der deutschen Gerichte hin, die diese Prüfung ebenfalls vorgenommen hätten. So untersucht er, ob die Handlungen zur Tatzeit auch nach internationalem Recht, besondern nach den Vorschriften des internationalen Menschenrechtsschutzes, Straftaten darstellten, die mit einem ausreichenden Grad von Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit niedergelegt waren.

 

aa) Verletzung des Rechts auf Leben

Der internationale Schutz des Lebens wurde in den Menschenrechtstexten immer wieder besonders hervorgehoben, z.B. in Art. 3 AEMR. Auch Art. 6 des von der DDR am 8. November 1974 ratifizierten IPbpR statuiert das Recht auf Leben.

"94. Die Übereinstimmung der obigen Texte ist signifikant: Sie zeigt an, daß das Recht auf Leben ein unveräußerliches Attribut des Menschen ist und den höchsten Rang in der Wertskala der Menschenrechte einnimmt."

Auch Art. 2 EMRK schützt das Recht auf Leben. Absatz 1 hat folgenden Wortlaut:

"Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, außer durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist."

Die Beschwerdeführer berufen sich im Verfahren vor dem Gerichtshof ferner darauf, daß der Schießbefehl und die Verletzung des Rechts auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sei. Danach wird die Tötung eines Menschen dann nicht als Verletzung Rechts auf Leben betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt, um

  • die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtwidriger Gewaltanwendung sicherzustellen;

  • eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern;

  • im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.

Der Gerichtshof stellte fest, daß die einzelnen Tatbestände nicht erfüllt sind: Der Tod der Flüchtlinge an der Grenze sei keinesfalls als das Ergebnis einer Gewaltanwendung anzusehen, die unbedingt erforderlich sei. Die Anwendung des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze stellt daher einen Verstoß gegen den völkerrechtlichen Schutz des Lebens dar.

"97. Folglich waren die Handlungen der Beschwerdeführeer keineswegs nach Art. 2 Abs. 2 der Konvention zu rechtfertigen."

Die Tötung der Flüchtlinge stellt damit eine Verletzung des Rechts auf Leben dar, das zur Tatzeit von der DDR international anerkannt war (Art. 6 Pakt).

 

bb) Internationaler Schutz des Rechts auf Freizügigkeit

Das Grenzregime und der Schießbefehl könnten ebenfalls eine Verletzung des Rechts auf Freizügigkeit darstellen. Der von der DDR ratifizierte IPbpR garantiert in Art. 12 Abs. 2 das Recht auf Freizügigkeit, wie auch Art. 2 Abs. 2 des 4. ZP-EMRK. Der Gerichtshof war auch hier der Ansicht, daß die Ausnahmeklauseln, auf die sich die Beschwerdeführer beriefen, nicht einschlägig sind. Er argumentiert, daß das Hindern fast der gesamten Bevölkerung am Verlassen ihres Staates keineswegs notwendig war, um die Sicherheit des Staates oder andere Interessen zu schützen.

"100. [...] Schließlich war die Art und Weise, in der die DDR das Ausreiseverbot gegenüber ihren Staatsangehörigen durchsetzte und Verletzungen dieses Verbots bestrafte, unvereinbar mit einem anderen im Pakt garantierten Recht, nämlich dem in Art. 6 garantierten Recht auf Leben, sofern in dieses eingegriffen wurde."

So stellt der Gerichtshof fest, daß das Grenzsystem, insbesondere der Schießbefehl, ebenfalls einen Verstoß gegen das im Pakt verankerte Menschenrecht auf Freizügigkeit darstellte.

 

cc) Individuelle Verantwortlichkeit der Beschwerdeführer

Für die Errichtung automatischer Schießanlagen, die Verlegung von Anti-Personenminen und den Schießbefehl, die nicht nur gegen die Verfassung der DDR sondern auch gegen Völkerrecht verstießen, sei die DDR als Staat international verantwortlich gewesen.

Aber auch die Staatsorgane der DDR waren nach Auffassung des Gerichtshofes individuell verantwortlich für diese Handlungen.

"104. Wenn die DDR noch bestünde, wäre sie vom Standpunkt des internationalen Rechts für die betreffenden Maßnahmen verantwortlich. Es bleibt zu prüfen, ob neben dieser staatlichen Verantwortlichkeit die Beschwerdeführer zum Tatzeitpunkt eine individuelle strafrechtliche Verantwortung traf. Selbst wenn eine solche Verantwortlichkeit nicht aus den oben erwähnten internationalen Menschenrechtsschutzverträgen abzuleiten wäre, ergibt sie sich dennoch aus diesen Verträgen in Verbindung mit Art. 95 StGB-DDR. Darin war, und zwar schon seit 1968, ausdrücklich vorgesehen, daß strafrechtlich verantwortlich ist, wer in Mißachtung der Grund- und Menschenrechte oder der völkerrechtlichen Pflichten der DDR handelt."

Interessant ist in diesem Zusammenhang das Sondervotum des zypriotischen Richters Loucaїdes, der dem Urteil im Ergebnis zustimmt, jedoch die Konstruktion ablehnt, daß die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beschwerdeführer aus dem innerstaatlichen Recht der DDR abzuleiten sei. Er vertritt die folgende Auffassung:

"Eine Straftat nach internationalem Recht i.S. des Art. 7 der Konvention bedeutet eine Tat, die sowohl hinsichtlich des verbotenen Verhaltens als auch hinsichtlich der individuellen Verantwortlichkeit für ein solches Verhalten unmittelbar vom Völkerrecht [d.Verf.] pönalisiert wird. Auch bei Zugrundelegung einer solchen Definition kann im vorliegenden Fall das Vorliegen einer Straftat nach internationalem Recht bejaht werden, und zwar eines ‚Verbrechens gegen die Menschlichkeit’, welches schon zur Zeit des den Bf. vorgeworfenen Verhaltens Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Völkergewohnheitsrechts war.[...]"

In den hier folgenden hochinteressanten Ausführungen geht er auf die Entstehungsgeschichte der Verbrechen gegen die Menschlichkeit detailliert ein und folgert:

"Aus den vorstehenden Erwägung bin ich der Ansicht, daß die der Verurteilung der Bf. zugrundeliegenden Taten zum maßgeblichen Zeitpunkt sowohl nach deutschen Recht als auch nach Völkerrecht Straftaten darstellen."21

 

3. Schlußfolgerung

Der Gerichtshof gelangt zum Schlußergebnis, daß die Handlungen der Beschwerdeführer bereits zum Tatzeitpunkt nach innerstaatlichem und internationalem Recht strafbar waren.

"107. Es folgt, daß die Verurteilung der Bf. durch die deutschen Gerichte nach der Wiedervereinigung nicht gegen Art. 7 Abs. 1 verstoßen hat.

108. Angesichts dieser Schlußfolgerung braucht der Gerichtshof nicht zu prüfen, ob ihre Verurteilung nach Art. 7 Abs. 2 der Konvention zu rechtfertigen war."22

 

Verstoß gegen Art. 1 EMRK

Die Beschwerdeführer behaupten, daß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht mit Art. 1 EMRK vereinbar sei, weil sie als ehemalige Bürger der DDR bezüglich des verfassungsrechtlich normierten strafrechtlichen Rückwirkungsverbots keinen vollen Rechtsschutz genießen. Durch höchstrichterliche Entscheidungen sei ein diskriminierendes System geschaffen worden, in dem ihnen als ehemaligen DDR-Bürgern, nunmehr Bürger der Bundesrepublik Deutschland, die Berufung auf das in Art. 7 EMRK verankerte Recht versagt wird.

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, daß er zuständig ist, den von einem Beschwerdeführer vorgetragenen Sachverhalt im Licht des gesamten Konventionsrechts zu überprüfen. So stehe es ihm frei, den Sachverhalt rechtlich auch anders zu qualifizieren und nötigenfalls unter einem neuen Gesichtspunkt und einer anderen Konventionsnorm zu prüfen.

"112. So kann im vorliegenden Fall das Anliegen der Bf. nicht auf Art. 1 der Konvention gestützt werden, eine Rahmenbestimmung, die als solche nicht verletzt werden kann. Es kann jedoch unter dem Gesichtspunkt des Art. 14 der Konvention i.V.m. Art. 7 geprüft werden, da die Bf. der Sache nach eine Diskriminierung rügen, die sie angeblich als frühere Staatsbürger der DDR erlitten haben."

Der Gerichtshof verneint jedoch eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes, da die vom Bundesverfassungsgericht angewandten Prinzipien des Grundgesetzes genereller Natur seien und auch auf Personen, die keine früheren Staatsbürger der DDR waren, Anwendung fänden.

"114. Folglich liegt keine Diskriminierung entgegen Art. 14 i.V.m. Art. 7 der Konvention vor."

 

Ergebnis

Die Verurteilungen der Beschwerdeführer stellen keinen Konventionsverstoß dar. Sie verstoßen nicht gegen das Verbot der rückwirkenden Bestrafung aus Art. 7 Abs. 1 EMRK, da bundesdeutsche Gerichte befugt waren, DDR-Recht im Lichte der DDR-Verfassung, der internationalen Menschenrechtsstandards und rechtsstaatlicher Grundsätze auszulegen.

Die durch die Gerichte vorgenommene Auslegung und Anwendung von DDR-Recht verstößt in keinem der untersuchten Fälle gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 i.V.m. Art. 7 EMRK.

 

Anmerkung:

Das Urteil der 17 Richter – das übrigens einstimmig ergangen ist – stellt für die Opfer des Systemunrechts der SED eine wichtige Genugtuung dar.

Es beweist ebenfalls die Richtigkeit und Notwendigkeit der Aufarbeitung des DDR-Unrechts und bestätigt das Vorgehen der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung, die sich als demokratischer "Nachfolgestaat" der DDR unmittelbar daran machte, die in der DDR begangenen Straftaten zu verfolgen und die Verantwortlichen – auch führende Politiker der DDR – zu verurteilen. Die während dieses Prozesses ergangenen Urteile und die Auslegung des DDR-Rechts sind vom Gerichtshof als konventionskonform bestätigt worden. So kann die Arbeit nun unter dem Gesichtspunkt der Rechtsklarheit fortgesetzt werden kann.

Das Urteil hat klare Zeichen gesetzt: Ein demokratischer Staat hat das Recht, im Rahmen der Aufarbeitung von Systemunrecht die Bestimmungen des diktatorischen Vorgängerstaates nach rechtsstaatlichen Prinzipien auszulegen. Dabei muß in bezug auf die Bundesrepublik Deutschland auch berücksichtigt werden, daß die schwierige Aufgabe der Rechtsüberleitung zwischen zwei Staaten mit diametral entgegengesetzten Rechtssystemen zu bewältigen war.

Das Votum der Straßburger Richter bestärkt gleichfalls die internationale Entwicklung, die sich seit dem Nürnberger Prozeß unaufhaltsam fortsetzt: Frühere Machthaber können sich bei schweren Vergehen nicht auf Rechtfertigungsgründe berufen, die sie selbst innerhalb ihres früheren nichtdemokratischen System mitentwickelt und praktiziert haben. Der Gerichtshof stellt heraus, daß ehemaligen Befehlshabern eine Berufung auf die eigene, dem Völkerrecht widersprechende Staatenpraxis versagt wird.

"Hätte der Europäische Gerichthof für Menschenrechte diesen Zirkelschluß der Selbstrechtfertigung anerkannt und die sogenannte `Staatspraxis´ als integralen Bestandteil der DDR-Rechtsordnung angesehen, so hätte er sich damit in Widerspruch zu den Grundsätzen des Rechtsstaats gesetzt. [...]"23

So wird das Urteil auch Bedeutung für den zu errichtenden Ständigen Internationalen Strafgerichthof entwickeln, der sich intensiv mit den vielschichtigen Fragen des Verbotes rückwirkender Bestrafung in zukünftigen Entscheidungen zu beschäftigen hat.

 

 

Literaturhinweise:

Silke Buchner, Die Rechtswidrigkeit der Taten von "Mauerschützen" im Lichte von Art. 103 II GG unter besonderer Berücksichtigung des Völkerrechts, 1996.

Grit Hokema, Der aktuelle Fall: Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Sache Streletz Kessler und Krenz – eine späte Genugtuung für die Opfer des DDR-Grenzregimes, Humanitäres Völkerrecht, Heft 2/2001, S. 107ff

Herwig Roggemann, Systemunrecht und Strafrecht am Beispiel der Mauerschützen in der ehemaligen DDR, 1993.

Wolfgang Strasser, Schießbefehl an der Mauer / Strafrechtliche Verurteilung der Befehlsgeber für Tötung unbewaffneter Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft bestätigt / Krenz u. a. gegen Deutschland, EuGRZ Heft 7-8 (2001), S. 210ff.

Jürgen Weber/Michael Piazolo (Hrsg.), Eine Diktatur vor Gericht – Aufarbeitung von SED-Unrecht durch die Justiz, 1995.

 

Die zitierten Fälle:

EGMR, S.W. ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 22. November 1995, Series A, Vol. 335-B, §§ 34-36;

EGMR, C.R. ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 22. November 1995, Series A, Vol. 335-C, §§ 32-34;

EGMR, Kokkinakis ./. Griechenland, Urteil vom 25. Mai 1993, Series A, Vol. 260-A, § 52;

EGMR, Tolstoy Miloslavsky ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 13. Juli 1995, Series A, Vol. 316-B, § 37;

EGMR, Osman ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 28. October 1998, Reports 1998–VIII, § 115;

EGMR, Foti u.a. ./. Italien, Urteil vom 10. Dezember 1982, Series A, Vol. 56, § 44;

EGMR, Irland ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 18. Januar 1978, Series A, Vol. 25, § 238.

 


Anmerkungen:
 

* Aufbereitet von Assessorin Friederike Brinkmeier. Die Zitate der Entscheidung sind kursiv in die Angaben der Bearbeiterin eingeordnet.
1 EGMR, Beschwerden-Nr.: 34044/96, 35532/97 und 44801/98, Streletz, Keßler und Krenz ./. Deutschland, verfügbar auf der Homepage des EGMR http://www.echr.coe.int/.
2 Das Verfahren vor dem LG Berlin wurde am 12. November 1992 eröffnet. Erstmals stand die Führung der untergegangenen DDR samt Staatsoberhaupt vor Gericht. Neben Honecker sollten der ehem. Ministerratschef Willi Stoph, der ehemalige Staatsicherheitschef Mielke, der Ex-Verteidigungsminister Keßler, der ehemalige Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates Streletz und der frühere Suhler Bezirksparteichef Albrecht zur Verantwortung für das von ihnen geschaffene Grenzregime gezogen werden. Krenz war zu diesem Zeitpunkt noch nicht angeklagt. Aus altersbedingten und gesundheitlichen Gründen wurde das Verfahren gegen die meisten Angeklagten eingestellt. Streletz und Keßler wurden verurteilt durch Urteil des LG Berlin vom 16. September 1993, (523) 2 Js 26/90 Ks (1092).
3 BGH, Urteil vom 26. Juli 1994, 5 StR 98/94.
4 BVerfGE 95, 96, Ziffer 65; vgl. auch EuGRZ 1996, S. 538 ff.
5 LG Berlin, Urteil vom 25. August 1997, (523) 25/2 Js 20/92 (1/95).
6 BGH, Urteil vom 8. November 1999, 5 StR 632/98.
7 BVerfG, Beschluß vom 12. Januar 2000, 2 BvQ 60/99; verfügbar unter http://www.bverfg.de.
8 Nachdem am 1. November 1998 das 11. Zusatzprotokoll zur EMRK in Kraft getreten war, wurden die Sachen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte übertragen.
9 Der Vorsitzende entschied ferner nach Art. 24, 43 Abs. 2 und 71 Verfahrensordnung des EGMR, daß auch die Beschwerde von Herrn K.-H. W., einem ehemaligen Grenzsoldaten der DDR, dieser Großen Kammer zugeordnet werden sollte. Die strafrechtliche Verurteilung dieses Mauerschützen wurde schließlich durch Urteil des EGMR vom selben Tag wie gegen Streletz, Keßler und Krenz für konventionskonform erachtet. Die Beschwerde wurden von einem ehemaligen Soldat der Nationalen Volksarmee der DDR erhoben. Er hatte 1972 einen 29-Jährigen erschossen, der versucht hatte, die Spree an einem Grenzabschnitt zu durchschwimmen, um in den Westen zu gelangen. Am 22. März 2001 erließ der EGMR das Urteil K.-H. W. ./. Deutschland, Beschwerde-Nr. 37201/97, verfügbar unter http://www.echr.coe.int/.
10 EGMR, Fn. 1, Ziff. 47.
11 Vgl. die Urteile oben in Fn. 2 – 7.
12 EGMR, a.a.O., Ziff. 51.
13 Vgl. EuGRZ 2001, S. 210 ff. (212, Ziff. 50).
14 EGMR, a.a.O., Ziff. 72.
15 EGMR, a.a.O., Ziff. 74 f.
16 EGMR, a.a.O., Ziff. 79.
17 EGMR, a.a.O., Ziff. 78.
18 Vgl. oben Fn. 3. In ständiger Rechtsprechung betont der EGMR, daß Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts in erster Linie den innerstaatlichen Gerichten obliegt. Er prüft, ob die Entscheidung der nationalen Gerichte im Ergebnis gegen Konventionsrechte verstößt.
19 Gustav Radbruch prägte unter dem Eindruck der NS-Verbrechen 1946 die nach ihm benannte Formel, daß das positive Recht im Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit grundsätzlich auch für den Fall seiner inhaltlichen Ungerechtigkeit den Vorrang habe, es sei denn, der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit erreiche ein so untertägliches Maß, daß das Gesetz als das "unrichtige Recht" der Gerechtigkeit zu weichen hat; Radbruch, Süddeutsche Juristen-Zeitung, 1946, S. 105, 107.
20 Vgl. oben Fn. 2.
21 Sondervotum Richter Loucaїdes, EGMR, a.a.O., Ziff. 114 ff.
22 Art. 7 Abs. 2 EMRK lautet: "Durch diesen Artikel darf die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welch im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war." Deutschland hat hierzu einen Vorbehalt erklärt, der lautet: "Gemäß Art. 64 der Konvention macht die Bundesrepublik Deutschland den Vorbehalt, daß sie die Bestimmung des Art. 7 Abs. 2 der Konvention nur in den Grenzen des Art. 103 Abs. 2 des GG der Bundesrepublik Deutschland anwenden wird. Die letztgenannte Vorschrift lautet wie folgt: Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde."
23 Vgl. das Sondervotum des Richters Zupančič (Slowenien), EGMR, Fn. 1.

 
  Quelle: MenschenRechtsMagazin Heft 3 / 2001