Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 8. Juni 2010

Inhalt

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Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen Deutschland - Teil 1

Aufbereitung von Ekkehard Strauß:

Vogt ./. Deutschland

Urteil vom 26. September 1995, EuGRZ 1995, 5901

 
Zusammenfassung (nicht-amtliche Leitsätze):
  1. Beamte sind vom Anwendungsbereich der Konvention nicht ausgeschlossen (Bestätigung).
  2. Art. 10 EMRK ist auf die beamtenrechtlichen Vorschriften betreffend politische Aktivitäten anwendbar (Abweichung von den Fällen Glasenapp und Kosiek).
  3. Die Entlassung einer Französich- und Deutschlehrerin wegen Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Partei, ohne daß diese im Unterricht oder privat eine verfassungsfeindliche Haltung erkennen läßt, ist in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig i.S.v. Art. 10 Abs. 2, Art. 11 Abs. 2 EMRK.
 

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin (Bf.) war seit Sommer 1977 als Studienrätin und Beamtin auf Probe an einem staatlichen Gymnasium in Jever angestellt, bevor sie am 1. Februar 1979 in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit übernommen wurde. Die Bf. unterrichtete Französisch und Deutsch. In einer Beurteilung von 1981 wurden ihre Fähigkeiten und Arbeitsleistungen als befriedigend beschrieben und die Wertschätzung der Kollegen, Eltern und Schüler vermerkt.

Während ihres Studiums war die Bf. Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei "DKP" geworden.

Seit dem Herbst 1980 nahm die Bf. an verschiedenen politischen Aktivitäten der DKP teil und kandidierte 1982 für den Niedersächsischen Landtag. Seit 1983 war die Bf. Mitglied des Vorstandes der Bezirksorganisation der DKP für Bremen - Nördliches Niedersachsen und Vorsitzende der Wilhelmshavener Organisation der DKP. Bei den Landagswahlen 1986 kandidierte die Bf. erneut für den Niedersächsischen Landtag.

Mit Verfügung der Bezirksregierung Weser / Ems vom 12. August 1986 wurde die Bf. vorübergehend des Dienstes enthoben. Bereits am 13. Juni 1982 war ein Disziplinarverfahren gegen die Bf. eingeleitet worden. In einer Anschuldigungsschrift vom 22. November 1983, die am 5. Februar 1986 und 23. Juni 1986 ergänzt wurde, war der Bf. die Unvereinbarkeit ihrer politischen Aktivitäten für die DKP mit ihrem Beamtenstatus mitgeteilt worden.

Mit Urteil vom 15. Oktober 1987 verfügte die Disziplinarkammer des Verwaltungsgerichts die Entlassung der Bf. als Disziplinarmaßnahme bei Gewährung von 75 % ihrer monatlichen Pensionsansprüche für die Dauer von sechs Monaten. Zur Begründung führte die Kammer aus, daß die Bf. durch ihre politischen Aktivitäten der politischen Treuepflicht eines Beamten gemäß Art. 33 Abs. 5 GG i.V.m. § 61 Abs. 2 Niedersächsisches Beamtengesetz nicht nachgekommen sei.

Die Berufung der Bf. gegen die Entscheidung wurde am 31. Oktober 1989 vom Niedersächsischen Disziplinarhof unter Aufrechterhaltung des Urteils der Disziplinarkammer zurückgewiesen.

Die Verfassungsbeschwerde der Bf. wurde durch eine Kammer des BVerfG wegen fehlender Erfolgsaussichten abgewiesen.

Die Bf. legte am 13. Februar 1991 Beschwerde bei der Menschenrechtskommission ein. Diese entschied am 19. Oktober 1992 und 30. November 1993, daß durch die Entlassung der Bf. gegen Art. 10 und 11 der Konvention verstoßen worden sei.

Nachdem die Bf. von 1987 bis 1991 als Bühnenautorin und Theaterpädagogin gearbeitet hatte, wurde sie am 1. Februar 1991, nach der Außerkraftsetzung des sog. "Radikalenerlasses"2 in Niedersachsen und einem Erlaß für sog. "Altfälle"3 von der Niedersächsischen Schulbehörde wieder eingestellt.
 

A. Zulässigkeit der Klage

Die Zulässigkeit wird vom Gerichtshof nicht erörtert. Die Bf. hat beantragt festzustellen, daß eine Verletzung der Art. 10 und 11 der Konvention vorliegt.

Zwischenergebnis:    Die Klage ist zulässig.

 

B. Begründetheit der Klage

Die Klage ist begründet, wenn die Entlassung der Bf. aus dem öffentlichen Dienst durch die Verfügung der Disziplinarkammer des Verwaltungsgerichts Oldenburg wegen ihrer politischen Aktivitäten für die DKP ganz oder teilweise mit den Verpflichtungen aus Art. 10 und 11 EMRK in Widerspruch steht.
 

I. Verletzung von Art. 10 EMRK

Die Entlassung der Bf. steht mit den Verpflichtungen aus Art. 10 in Widerspruch, wenn der Anspruch auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt wurde, ohne daß diese Einschränkung gesetzlich vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft aus den in Art. 10 Abs. 2 abschließend aufgezählten Gründen unentbehrlich ist.
 

1. Eingriff

a) Der Gerichtshof prüft zunächst die Anwendbarkeit der Vorschrift auf Beamte. Eine generelle Beschränkung der Konventionsrechte für Beamte i.S. eines "besonderen Gewaltverhältnisses" lehnt der Gerichtshof aufgrund des Wortlautes von Art. 1 und 14 und einem argumentum e contrario aus Art. 11 Abs. 2 ab.

"Beamte sind vom Anwendungsbereich der Konvention nicht ausgeschlossen. In Art. 1 und 14 der Konvention heißt es, daß die Vertragsstaaten "allen ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen" die in Abschnitt I enthaltenen Rechte und Freiheiten "ohne Unterschied ..." zusichern. Außerdem bestätigt Art. 11 Abs. 2 in fine, der es den Staaten gestattet, "Mitglieder der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung" besonderen Einschränkungen bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zu unterwerfen, daß die in der Konvention enthaltenen Garantien grundsätzlich auch für Beamte gelten (s. die Urteile im Fall Glasenapp und Kosiek gegen Deutschland vom 28. August 1986, Serie A Nr. 104, S. 26, Ziff 49=EuGRZ 1986, 504 und Nr. 105, S. 20, Ziff. 35=EuGRZ 1986, 514). [...]"
 

b) Sodann prüft der Gerichtshof das Vorliegen eines Eingriffs in die Meinungsfreiheit der Bf. Die Aktivitäten der Bf. für die DKP und ihre Weigerung, sich von dieser Partei zu distanzieren, bedeuteten nach Auffassung der Bezirksregierung eine Meinungsäußerung, die zu Disziplinarmaßnahmen Anlaß gab.

Nach Ansicht des Gerichtshofes liegt somit ein Eingriff in die Meinungsfreiheit der Bf. vor. "[Die Bf.] wurde im August 1986 vom Dienst suspendiert und 1987 entlassen [...]. Diese Maßnahme stellt eine Disziplinarstrafe dafür dar, daß sie angeblich ihre jedem Beamten obliegende Pflicht, für die freiheitliche demokratische Ordnung i.S.d. Grundgesetzes einzutreten, nicht nachgekommen war. Nach Auffassung der Behörden hat sie durch ihre Aktivitäten für die DKP und durch ihre Weigerung, sich von dieser Partei zu distanzieren, Ansichten zum Ausdruck gebracht, die der oben erwähnten Ordnung schadeten. Daraus folgt, daß tatsächlich ein Eingriff in die Ausübung des durch Art. 10 der Konvention geschützten Rechts vorliegt."

Dieses Ergebnis steht in Widerspruch zu den Entscheidungen in den Fällen Glasenapp und Kosiek, in denen ein Eingriff in die von Art. 10 Abs. 1 geschützten Rechte abgelehnt wurde.4 "[...] der Zugang zum öffentlichen Dienst [ist] die zentrale Fragestellung des dem Gerichtshof unterbreiteten Falles. Indem die Behörde Frau Glasenapp diesen Zugang verweigerte, zog sie deren Meinungen und Auffassungen nur in Betracht, um sich zu vergewissern, ob sie eine der notwendigen persönlichen Voraussetzungen für die fragliche Stelle erfüllte. Unter diesen Umständen lag kein Eingriff in die Ausübung des in Art. 10 Abs. 1 geschützten Rechtes vor."5

Diesen Widerspruch sieht der Gerichtshof nicht als eine Änderung seiner Rechtsprechung an, obwohl das Eintreten eines Beamten für die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes bei Zulassung und Entlassung durch inhaltlich gleiche Vorschriften geregelt wird.6 "Wie auch die Kommission ist der Gerichtshof der Ansicht, daß der vorliegende Fall von den Fällen Glasenapp und Kosiek unterschieden werden muß. In den Fällen Glasenapp und Kosiek bewertete der Gerichtshof die Handlung der Behörde als eine Weigerung, den Beschwerdeführern Zugang zum öffentlichen Dienst zu gewähren, weil sie ihrer Ansicht nach nicht über die notwendigen Qualifikationen verfügten. Der Zugang zum öffentlichen Dienst ist damit die zentrale Frage des dem Gerichtshof vorgelegten Falles gewesen. [...] Frau Vogt war seit Februar 1979 Beamtin auf Lebenszeit."

In seiner abweichenden Meinung kritisiert der Richter Jambrek die stillschweigende Änderung der Rechtsprechung des Gerichtshofes. "Im vorliegenden Fall stimmte ich für die Anwendbarkeit des Art. 10. Dabei war ich mir bewußt, daß mit dieser Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes, u.a. vom Fall Kosiek, abgewichen wird. [...] Meiner Auffassung nach wäre es angemessener, wenn der Gerichtshof offen den Wandel in der Rechtsprechungspolitik anerkennen würde, der zwischen dem Fall Kosiek und dem Fall Vogt eingetreten war, anstatt mit meines Erachtens wenig Erfolg zu argumentieren, daß er denselben Grundsatz mit unterschiedlichen Ergebnissen aufrechterhalte, wobei diese von unterschiedlichen Sachverhalten herrührten."
 

c) Zwischenergebnis: Es liegt ein Eingriff in die Ausübung des durch Art. 10 EMRK geschützten Rechtes vor.

Diesem Ergebnis widerspricht in seiner ergänzenden abweichenden Meinung der Richter Gotchev. Er sieht in dem gerügten Verhalten keine Meinungsäußerung, im Gegensatz zu den Fällen Glasenapp und Kosiek. "Frau Vogt wurde nicht aus ihrer Stellung als Lehrerin entlassen, weil sie eine Meinung oder eine Idee äußerte. Nach der Entscheidung des Gerichtshofs wurde sie wegen ihrer Mitgliedschaft in der DKP [...] entlassen. Es wurde keine Erklärung oder Veröffentlichung oder andere Form der Meinungsäußerung erwähnt. In den beiden im Urteil zitierten Fällen - Glasenapp und Kosiek - war die Entlassung Folge einer Meinungsäußerung [...]. Dennoch war unser Gerichtshof in beiden Fällen der Ansicht, daß kein Verstoß gegen Art. 10 vorlag."
 

2. Rechtfertigung

Dieser Eingriff ist gerechtfertigt, wenn er vom Gesetz vorgeschrieben war, eine oder mehrere der berechtigten Ziele gemäß Abs. 2 verfolgte und zur Erreichung dieser Ziele in einer demokratischen Gesellschaft unentbehrlich war.
 

a) "Vom Gesetz vorgeschrieben"

Die Notwendigkeit einer Rechtsgrundlage für einen Eingriff dient dem Schutz des Bürgers vor der Exekutive und der notwendigen Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns. Daher kann eine Rechtsnorm dann nicht Gesetz i.S.d. Vorschrift sein, wenn sie nicht so ausreichend bestimmt ist, daß der Bürger die möglichen Folgen einer Handlung voraussehen kann.7 § 61 Abs. 2 Niedersächsisches Beamtengesetz entspricht diesen Anforderungen.

"Im vorliegenden Fall hatten das Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht die politische Treuepflicht, die die einschlägigen Bestimmungen der Bundesgesetzgebung und der Ländergesetzgebung, so auch § 61 Abs. 2 des Niedersächsischen Beamtengesetzes allen Beamten auferlegen [...], eindeutig definiert. Sie waren u.a. der Auffassung, daß jegliches Engagement von seiten eines Beamten für eine politische Partei mit verfgassungsfeindlichen Zielen wie der DKP mit dieser Pflicht nicht vereinbar sei. Zur maßgeblichen Zeit [...] mußte Frau Vogt diese Rechtsprechung bekannt sein."
 

b) "Legitimer Zweck"

Die Maßnahme müßte im Interesse oder zum Schutz eines der in Art. 10 Abs. 2 abschließend aufgezählten Rechtsgüter erfolgen. Nur wenn die Entlassung der Bf. aus einem dieser bestimmten Gründe erfolgte, ist sie mit dem Einschränkungsvorbehalt vereinbar.8

Der Gerichtshof bejaht die Verfolgung eines berechtigten Ziels i.S.d. Art. 10 Abs. 2, ohne dieses jedoch ausdrücklich zu benennen. "Deutschland machte in der Weimarer Republik besondere Erfahrungen, was dazu führte, daß bei der Gründung der Bundesrepublik nach dem Alptraum des Nationalsozialismus die deutsche Verfassung auf dem Grundsatz einer "wehrhaften Demokratie" begründet wurde. Aufgrund dieser Erfahrungen hat die Vorstellung, daß die Beamtenschaft der Garant der Verfassung und der Demokratie ist, in Deutschland eine besondere Bedeutung. Vor diesem Hintergrund kann der Gerichtshof nur zu dem Schluß kommen, daß mit der Entlassung der Bf. ein berechtigtes Ziel i.S.d. Art. 10 Abs. 2 verfolgt wurde."
 

c) "Unentbehrlich in einer Demokratischen Gesellschaft"

Der Wortlaut der deutschen Übersetzung ("unentbehrlich") entspricht nicht den authentischen englischen und französischen Texten ("necessary", "nécessaire").9 Für die Kontrolle der Notwendigkeit durch den Gerichtshof gilt daher das Gleiche wie bei den übrigen Einschränkungsklauseln.10

aa) Ohne unmittelbaren Zusammenhang mit dem vorliegenden Fall wiederholt der Gerichtshof zunächst seine bisherigen Grundsätze bei der Auslegung von Art. 10.11

"(i) Das Recht auf freie Meinungsäußerung stellt eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft dar und ist eine der Grundvoraussetzungen für eine Fortentwicklung und für die Selbstverwirklichung jedes Einzelnen. [...] Die Freiheit der Meinungsäußerung, die in Art. 10 verankert ist, unterliegt einer Reihe von Ausnahmen, die jedoch eng ausgelegt werden müssen, wobei überzeugend nachgewiesen werden muß, warum die Einschränkungen erforderlich sind [...].

(ii) Das Adjektiv "unentbehrlich" i.S.d. Art. 10 Abs. 2 impliziert das Vorliegen einer "dringenden gesellschaftlichen Notwendigkeit". Die Vertragsstaaten haben bei der Feststellung des Vorliegens dieser Notwendigkeit einen gewissen Beurteilungsspielraum, der jedoch mit der Rechtsaufsicht auf europäischer Ebene Hand in Hand geht, die sowohl das Recht als auch die das Recht anwendenden Entscheidungen umfaßt, einschließlich der von unabhängigen Gerichten gefällten Entscheidungen. [...]

(iii) Bei der Ausübung seiner Kontrollfunktion besteht die Aufgabe des Gerichtshofes nicht darin, den Platz der zuständigen innerstaatlichen Behörden einzunehmen, sondern darin, die von ihnen im Rahmen ihres Ermessensspielraumes getroffenen Entscheidungen nach Art. 10 zu überprüfen. [...] [D]er Gerichtshof muß den den Anlaß zur Beschwerde gegebenen Eingriff im Lichte des gesamten Falles prüfen und feststellen, ob er "in einem angemessenen Verhältnis zu dem damit verfolgten legitimen Zweck" stand und ob die von den innerstaatlichen Behörden zur Rechtfertigung angeführten Gründe "relevant und ausreichend" sind [...]."

Für die Entscheidung des Gerichtshofes über die Notwendigkeit ist der Zeitpunkt des Erlasses der nationalen Maßnahme maßgeblich. "[...] der Gerichtshof [prüft] die Umstände des Falles im Lichte der zu der maßgeblichen Zeit vorherrschenden Situation in der Bundesrepublik Deutschland."

bb) Bevor der Gerichtshof dann diese Grundsätze auf den Fall der Bf. anwendet, äußert er sich allgemein zum System der politischen Treuepflicht nach den deutschen Beamtengesetzen. Zwar hält er Deutschland, wie bereits bei der Frage nach dem legitimen Zweck der Entlassung, seine historischen Erfahrungen und seine besondere Lage im Ost-West Konflikt zugute, kritisiert aber auch vor diesem Hintergrund die Regelung grundsätzlich als zu weitgehend.

"Dennoch ist die Absolutheit, mit der die deutschen Gerichte diese Pflicht auslegen, auffallend. Sie wird von jedem Beamten unabhängig von seiner Funktion und Stellung gleichermaßen verlangt. [...] Sie läßt keinen Unterschied zwischen dem Dienst und dem Privatleben zu; die Beamten sind diese Pflicht in jedem Zusammenhang schuldig. Außerdem scheint kein anderer Mitgliedstaat des Europarates zur maßgeblichen Zeit eine ähnlich strenge Treuepflicht verlangt zu haben, wobei sogar innerhalb Deutschlands die Pflicht nicht im ganzen Land einheitlich ausgelegt und angewendet wurde [...]."

cc) Die Ausnahmen von der Meinungsfreiheit müssen eng interpretiert werden und die Notwendigkeit einer Beschränkung bedarf einer überzeugenden Darlegung durch den Staat.12 Im Rahmen dieser Bewertung beurteilt der Gerichtshof die Entlassung der Bf. aus dem gymnasialen Schuldienst als sehr schwerwiegend. Für diese Beurteilung werden drei Gründe angeführt.

"Der erste Grund ist die Auswirkung derartiger Maßnahmen auf den Ruf der Betroffenen und der zweite Grund ist der, daß auf diese Weise entlassene Gymnasiallehrer ihren Lebensunterhalt verlieren, zumindest im wesentlichen [...].Außerdem ist es für Gymnasiallehrer in dieser Lage so gut wie unmöglich, eine andere Stellung als Lehrer zu finden, da es in Deutschland nur sehr wenig Lehrerstellen außerhalb des öffentlichen Dienstes gibt."

Vor der Bewertung der Interessen des Staates an einer Entlassung der Bf. stellt der Gerichtshof fest, daß die Stellung der Bf. als Französisch- und Deutschlehrerin als solche keinerlei Sicherheitsrisiken für die Verfassungsordnung des Staates mit sich bringt. Aber auch die besonderen Umstände im Fall der Bf. lassen ihre Entlassung in einer demokratischen Gesellschaft nicht als unentbehrlich erscheinen.

"Das Risiko lag in der Möglichkeit, daß sie entgegen den Lehrern obliegenden besonderen Pflichten und Verantwortungen ihre Position ausnutzen konnte, um ihre Schüler während der Unterrichtsstunde zu indoktrinieren oder anderweitig einen unangemessenen Einfluß auf sie auszuüben. Von dieser Warte aus war sie jedoch nicht kritisiert worden. [...] Tatsächlich sind zwischen der Einleitung des Disziplinarverfahrens un der Suspendierung der Bf. durch die Behörden über vier Jahre vergangen [...]. Dies zeigt, daß nach Ansicht der Behörden die Notwendigkeit, die Schüler aus ihrer Einflußsphäre zu entfernen, nicht dringend war.

Da Lehrer für ihre Schüler Autoritätspersonen darstellen, gelten ihre besonderen Pflichten und Verantwortlichkeiten in gewissem Maße auch für ihre außerschulischen Aktivitäten. Es gibt jedoch keinen Nachweis dafür, daß Frau Vogt selbst im außerschulischen Rahmen tatsächlich verfassungsfeindliche Äußerungen machte oder persönlich eine verfassungsfeindliche Haltung einnahm. [...]

Abschließend muß berücksichtigt werden, daß die DKP vom Bundesverfassungsgericht nicht verboten worden war und daß dementsprechend die Aktivitäten der Bf. für die DKP gänzlich rechtmäßig waren."

d) Zwischenergebnis: "Dementsprechend liegt eine Verletzung des Art. 10 vor."
 

II. Verletzung von Art. 11 EMRK

Die Entlassung der Bf. stände auch mit den Verpflichtungen aus Art. 11 EMRK in Widerspruch, wenn der Anspruch auf Vereinigungsfreiheit verletzt wurde, ohne daß diese Einschränkung gesetzlich vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft aus den in Art. 11 Abs. 2 abschließend aufgezählten Gründen notwendig ist.
 

1. Eingriff

a) Der Gerichtshof untersucht zunächst die Anwendbarkeit der Vorschrift. Hinsichtlich eines möglichen Konkurrenzverhältnisses zwischen Art. 10 und Art. 11 wird im Ergebnis eine parallele Anwendung bejaht.13

"Unbeschadet seiner autonomen Funktion und seines besonderen Anwendungsbereiches muß Art. 11 im vorliegenden Fall auch im Lichte des Art. 10 gesehen werden (vgl. das Urteil im Fall Young, James und Webster, Série A Nr. 44, S. 23, Ziff. 57=EuGRZ 1981, 561 und das Urteil im Fall Ezelin, Série A Nr. 202, S. 20, Ziff. 37). Der durch Art. 10 garantierte Schutz persönlicher Meinungen ist eines der Ziele der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die in Art. 11 verankert ist."

b) Der Gerichtshof verzichtet auf eine genaue Subsumption. Offenbar ist er von einem Eingriff in die Vereinigungsfreiheit ausgegeangen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes umfaßt das Recht der freien Vereinigung den freiwilligen Zusammenschluß zu bestimmten Zwecken.14 Neben dem Zusammenschluß selbst umfaßt diese Freiheit auch die Tätigkeit, die Zweck der Vereinigung war.15

"Die Bf. wurde aus ihrem Amt als Beamtin entlassen, da sie sich hartnäckig geweigert hat, sich von der DKP zu distanzieren, weil nach ihrer persönlichen Meinung die Mitgliedschaft in dieser Partei mit ihrer Treuepflicht durchaus vereinbar war. Dementsprechend liegt ein Eingriff in die Ausübung des durch Art. 11 Abs. 1 geschützten Rechts vor."
 

2. Rechtfertigung

Der Einschränkungsvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 entspricht dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 2. In Art. 11 Abs. 2 Satz 2 wird eine besondere Einschränkungsmöglichkeit der Vereinigungsfreiheit für u.a. "Staatsbedienstete" eingeräumt. In seinen Ausführungen ist der Gerichthof angesichts seiner schwach entwickelten Rechtsprechung zu dieser Vorschrift bedauerlich zurückhaltend.16 Aus den Ausführungen könnte gefolgert werden, daß die zusätzliche Einschränkungsmöglichkeit nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 ebenfalls den Anforderungen von Art. 11 Abs. 2 Satz 1 genügen muß, ein Standpunkt, der bisher nicht eingenommen wurde. Hätte der Gerichtshof, wie bisher, eine allgemeine Verhältnismäßigkeitsprüfung gemäß Art. 18 vorgenommen, hätte er nicht ausdrücklich auf seine Ausführungen zu Art. 10 Abs. 2 verweisen und die Zuordnung der Bf. zur Personengruppe der Staatsverwaltung unentschieden lassen dürfen.

"In dieser Hinsicht geht der Gerichtshof mit der Kommission konform, daß der Begriff der "Staatsverwaltung" angesichts des Amtes, das die betroffene Beamtin innehatte, eng auszulegen ist.

Auch wenn für die Zwecke des Art. 11 Abs. 2 Lehrer als Teil der Staatsverwaltung anzusehen sind - was nach Auffassung des Gerichtshofs in diesem Fall nicht geprüft zu werden braucht - stand Frau Vogts Entlassung aus den Gründen, die zuvor in bezug auf Art. 10 angeführt wurden [...], in keinem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgeten legitimen Zweck."

b) Zwischenergebnis: "Es liegt dementsprechend eine Verletzung des Art. 11 vor."
 

III. Rechtsfolgen

Der Gerichtshof lehnt es zum Entscheidungszeitpunkt ab, der Bf. eine Entschädigung für den von ihr geltend gemachten materiellen und immateriellen Schaden sowie für ihre Kosten und Auslagen gemäß Art. 50 EMRK zuzubilligen.

"Nach Auffassung des Gerichtshofs ist diese Frage noch nicht entscheidungsreif. Die Entscheidung muß daher ausgesetzt und das weitere Verfahren festgelegt werden, wobei die Möglichkeit zu berücksichtigen ist, daß der beklagte Staat und die Bf. zu einer Einigung kommen (Art. 54 Abs. 1 und 4 der Verfahrensordnung A des Gerichtshofs)."
 

IV. Ergebnis

Die Entlassung der Bf. stand im Widerspruch zu den Verpflichtungen Deutschlands aus Art. 10 und 11 EMRK.

Diesem Ergebnis widersprechen die Richter Bernhardt, Gölcüklü, Matscher, Loizou, Mifsud Bonnici, Gotchev, Jungwiert und Kuris in einer gemeinsamen abweichenden Meinung. Aus verschiedenen Gründen liegt ihres Erachtens kein Verstoß gegen Art. 10 oder 11 der Konvention vor.

Zunächst müßten die Umstände im Umfeld der Entlassung anders als in der Urteilsbegründung betont werden. "Erst nach ihrer Ernennung zur Beamtin auf Lebenszeit steigerte Frau Vogt ihre Aktivitäten für die DKP [...]. Derartige Aktivitäten sprechen sich selbstverständlich in einer Schule und unter Schülern herum, auch wenn der betreffende Lehrer seine politischen Überzeugungen nicht im Unterricht verbreitet."

Wegen der besonderen geographischen und politischen Situation der Bundesrepublik während des Kalten Krieges sei die Entlassung in einer demokratischen Gesellschaft unentbehrlich gewesen. "Der öffentliche Dienst ist in fast allen Staaten für das ordnungsgemäße Funktionieren der demokratischen Ordnung von größter Bedeutung und dementsprechend müssen die Staaten einen weiten Ermessensspielraum bei der Einstellung bzw. Entlasssung öffentlicher Bediensteter haben. Die Staaten müssen das Recht haben, von ihren Bediensteten zu verlangen, ihre aktive und offenkundige Unterstützung für eine extremistische Partei aufzugeben oder aus dem öffentlichen Dienst auszuscheiden."



  Anmerkungen:
 
1 Az.: 7/1994/454/535; Série A, Vol. 323
2 Erlaß zur Beschäftigung von Radikalen im öffentlichen Dienst (Ministerpräsidentenbeschluß) vom 28. Januar 1972, Bulletin der Regierung der Bundesrepublik Deutschland Nr. 15 vom 3. Februar 1972, S. 142
3 Die entsprechende Entscheidung der Landesregierung vom 28. August 1990 sah die Wiedereinstellung bei Vorliegen der Einstellungs- und Qualifikationsanforderungen, jedoch keinen Anspruch auf Entschädigung oder Nachzahlung der Bezüge vor. 
4 Fall Glasenapp, Série A Nr. 104;  
Fall Kosiek, Série A Nr. 105
5 Fall Glasenapp, Série A Nr. 104, Ziff. 53; deutsche Übersetzung in EuGRZ 1986, S. 497ff. (505)
6 vgl. für die Ernennung etwa § 4 Abs. 1 Ziff. 2 BRRG, für die Entlassung § 2 Abs. 1 NdsDO iV.m. § 61 Abs. 2 NdsBG
7 vgl. zu der Notwendigkeit einer Rechtsgrundlage als Einschränkungsklausel zusammenfassend Jochen Abr. Frowein/ Wolfgang Peukert, Europäische MenschenRechtsKonvention, 2. Aufl. (1996), Vorbemerkung zu Art. 8 - 11, Rnr. 2ff.
8 vgl. etwa Fall Thorgeir Thorgeirson, Série A Vol. 389, Ziff. 64; deutsche Übersetzung in ÖJZ 1992, S. 810ff.
9 vgl. Art. 10, 33 Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23. Mai 1969, BGBl. 1985 II 926 i.V.m. Schlußformel der EMRK; 
ausführliche Begründung zur Auslegung von Art. 10 Abs. 2 EMRK im Fall Handyside, Série A Vol 24, Ziff. 48, deutsche Übersetzung in EuGRZ 1977, S. 40ff.
10 dazu ausführlich Jochen Abr. Frowein/ Wolfgang Peukert, FN. 7, Vorbemerkung zu Art. 8 - 11, Rnr. 14ff.; Ulrich Hoffmann-Remy, Die Möglichkeit der Grundrechtseinschränkung nach den Art. 8 - 11 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (1976)
11 Diese wurden insbesondere entwickelt in den Fällen Handyside, FN. 9; Lingens, Série A Vol. 103, deutsche Übersetzung in EuGRZ 1986, S. 428ff.; Sunday Times (Nr. 2), Série A Vol. 217; Jersild, Série A Vol. 298.
12 vgl. zu den Besonderheiten der Prüfung der Notwendigkeit im Rahmen von Art. 10 Abs. 2 EMRK Jochen Abr. Frowein/ Wolfgang Peukert, FN. 7, Art. 10, Rn. 26 f.
13 vgl. zur Dogmatik der Grundrechtskonkurrenz im Bereich des GG ausführlich Lothar H. Fohmann, Konkurrenzen und Kollisionen im Grundrechtsbereich, EuGRZ 1985, S. 49 ff.
14 Fall Le Compte u.a., Série A Vol. 43; deutsch Übersetzung in EuGRZ 1980, S. 590 ff.
15 Fall Young, James & Webster, Série A Vol. 44; deutsche Übersetzung in EuGRZ 1980, S. 450 ff.
16 vgl. die Nachweise bei Jochen Abr. Frowein/ Wolfgang Peukert, FN. 7, Art. 11, Rnr. 18
 
Quelle: MenschenRechtsMagazin Heft 4 - Oktober 1997, S. 12-20

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