Inhalt

Im Auftrage der "Anna-Seghers-Gesellschaft" und unterstützt von der Anna-Seghers-Stiftung, der Stadt Mainz, dem Land Rheinland-Pfalz u.a. Institutionen erscheint im Aufbau-Verlag Berlin, der auch das Gesamtwerk betreut, das Jahrbuch "Argonautenschiff". Es dokumentiert die Arbeit der Gesellschaft und die Auszeichnung junger Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit dem Anna-Seghers-Preis, der seit 1995 von der Anna-Seghers-Stiftung vergeben wird.

 

Das Jahrbuch "Argonautenschiff" versteht sich als Forum internationaler Forschungsergebnisse zu Leben und Werk der Schriftstellerin. Auch bislang nicht publizierte, vergessene oder erst jetzt aufgefundene Texte und Dokumente, Interviews mit Lebens- und Weggefährten, Forschungsberichte und Rezenionen gelangen zum Abdruck. Neben wissenschaftlichen Aufsätzen und historischen Dokumenten stehen zudem literarische Texte: Denn das "Argonautenschiff" will ein Lesebuch sein, in dem literarische Bemühungen der Vergangenheit und der Gegenwart sich begegnen. 1997 erscheint bereits das sechste Jahrbuch, das alle Mitglieder der Gesellschaft kostenlos erhalten, das aber auch über den Buchhandel zu erwerben ist.

Partner der "Anna-Seghers-Gesellschaft" sind das Anna-Seghers-Archiv und die Anna-Seghers-Gedenkstätte, beide angegliedert der Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg.

Die Kontaktadresse lautet:
"Anna-Seghers-Gesellschaft
Berlin und Mainz e.V.
Anna-Seghers-Gedenkstätte
Anna-Seghers-Straße 81
D-12489 Berlin
Tel. 030-6774725


Anfang der Novelle "Aufstand der Fischer von St. Barbara". (1928)
Der Aufstand der Fischer von St. Barbara endete mit der verspäteten Ausfahrt zu den Bedingungen der vergangenen vier Jahre. Man kann sagen, daß der Aufstand eigentlich schon zu Ende war, bevor Hull nach Port Sebastian eingeliefert wurde und Andreas auf der Flucht durch die Klippen umkam. Der Präfekt reiste ab, nachdem er in die Hauptstadt berichtet hatte, daß die Ruhe an der Bucht wiederhergestellt sei. St. Barbara sah jetzt wirklich aus, wie es jeden Sommer aussah. Aber längst, nachdem die Soldaten zurückgezogen, die Fischer auf der See waren, saß der Aufstand noch auf dem leeren, weißen, sommerlich kahlen Marktplatz und dachte ruhig an die Seinigen, die er geboren, aufgezogen, gepflegt und behütet hatte für das, was für sie am besten war. 

 

Hans Henny Jahnn in seiner Laudatio auf Anna Seghers (Anläßlich der Verleihung des Kleist-Preises 1928)
Ich habe den Preis der jetzt achtundzwanzigjährigen Anna Seghers zuerkannt, weil ich eine starke Begabung im Formalen gespürt habe. Bei großer Klarheit und Einfachheit der Satz- und Wortprägung findet sich in den beiden Novellen ein mitschwingender Unterton sinnlicher Vieldeutigkeit, der den Ablauf des Geschehens zu einer spannenden Handlung macht. Die Funktionen des Lebens erscheinen weniger wichtig als die Tatsache seiner Existenz. Die Gestalten sind nicht so sehr Träger einer Handlung, als Äußerung in ihnen wirksamer Kräfte. Darum verbrennt alles, was als Tendenz erscheinen könnte, in einer leuchtenden Flamme der Menschlichkeit.
 
Die Erzählerfigur des Romans "Transit" liest das nachgelassene Manuskript des toten Schriftstellers (1944) Und wie ich las! Es gab, wie gesagt, in dieser Geschichte einen Haufen verrückter Menschen, recht durchgedrehtes Volk, sie wurden fast alle in üble undurchsichtige Dinge verwickelt, selbst die, die sich sträubten. So hatte ich nur als Kind gelesen, nein, zugehört. Ich fühlte dieselbe Freude, dasselbe Grauen. Der Wald war ebenso undurchdringlich. Doch war es ein Wald für Erwachsene. Der Wolf war ebenso böse, doch es war ein Wolf, der ausgewachsene Kinder betört. Auch mich traf der alte Bann, der in den Märchen die Knaben in Bären verwandelt hat und die Mädchen in Lilien, und drohte von neuem in dieser Geschichte mit grimmigen Verwandlungen. All diese Menschen ärgerten mich durch ihre Vertracktheit, wie sie's im Leben getan hätten, durch ihr blödes Auf-den-Leim-Gehen, durch ihr Hineinschlittern in ein Schicksal. Ich begriff ihre Handlungen, weil ich sie endlich einmal verfolgen konnte von dem ersten Gedanken ab bis zu dem Punkt, wo alles kam, wie es kommen mußte. Nur dadurch, daß sie der Mann beschrieben hatte, erschienen sie mir schon weniger übel, sogar der, der mir selbst aufs Haar glich. Sie waren schon alle klar und lauter, als hätten sie alle schon abgebüßt, als wären sie schon durch ein Fegefeuerchen durchgegangen, durch einen kleinen Brand, durch das Gehirn dieses toten Mannes.


"Das siebte Kreuz" (1942)  -  aus dem geschichtsphilosophischen Exkurs zur rheinhessischen Landschaft:
Das ist das Land, von dem es heißt, daß die Geschosse des letzten Krieges jeweils die Geschosse des vorletzten aus der Erde wühlen. Diese Hügel sind keine Gebirge. Jedes Kind kann sonntags zu Kaffee und Streuselkuchen seine Verwandten im jenseitigen Dorf besuchen und zum Abendläuten zurück sein. Doch diese Hügelkette war der lange Rand der Welt - jenseits begann die Wildnis, das unbekannte Land. Diese Hügel entlang zogen die Römer den Limes. So viele Geschlechter waren verblutet, seitdem sie die Sonnenaltäre der Kelten hier auf den Hügeln verbrannt hatten, so viele Kämpfe durchgekämpft, daß sie jetzt glauben konnten, die besitzbare Welt sei endgültig umzäunt und gerodet. Aber nicht den Adler und nicht das Kreuz hat die Stadt dort unten im Wappen behalten, sondern das keltische Sonnenrad, die Sonne, die Marnets Äpfel reift. Hier lagerten die Legionen und mit ihnen alle Götter der Welt, städtische und bäuerliche, Judengott und Christengott, Astarte und Isis, Mithras und Orpheus.

Hier riß die Wildnis, da, wo jetzt Ernst aus Schmiedtheim bei den Schafen steht, ein Bein vorgestellt, einen Arm in der Hüfte, und ein Zipfelchen seines Schals steht stracks ab, als wehe beständig ein Wind. In dem Tal in seinem Rücken, in der weichen verdunsteten Sonne, sind die Völker gargekocht worden. Norden und Süden, Osten und Westen haben ineinandergebrodelt, aber das Land wurde nichts von alledem und behielt doch von allem etwas. Reiche wie farbige Blasen sind aus dem Land im Rücken des Schäfers Ernst herausgestiegen und fast sofort zerplatzt. Sie hinterließen keinen Limes und keine Triumphbögen und keine Heerstraßen, nur ein paar zersprungene Goldbänder von den Fußknöcheln ihrer Frauen. Aber sie waren so zäh und unausrottbar wie Träume. Und so stolz steht der Schäfer da, so vollkommen gleichmütig, als wüßte er all das und stünde nur darum so da, und vielleicht, wenn er auch nichts davon weiß, steht er wirklich darum so da. Dort, wo die Chaussee in die Autobahn mündet, wurde das Frankenheer gesammelt, als man den Übergang über den Main suchte. Hier ritt der Mönch herauf zwischen Mangolds und Marnets Gehöft, hinein in vollkommene Wildnis, die von hier aus noch keiner betreten hatte, ein zarter Mann auf einem Eselchen, die Brust geschützt mit dem Panzer des Glaubens, gegürtet mit dem Schwert des Heils, und er brachte die Evangelien und die Kunst, Äpfel zu okulieren.

Ernst der Schäfer drehte sich nach dem Radfahrer um. Sein Halstuch wird ihm schon zu heiß, er reißt es ab und wirft es auf das Stoppelfeld wie ein Feldzeichen. Man könnte glauben, das sei eine Geste vor tausend Augenpaaren. Aber nur sein Hündchen Nelli sieht ihn an. Er nimmt seine unnachahmbar spöttisch-hochmütige Haltung wieder auf, aber jetzt mit dem Rücken zur Straße, mit dem Gesicht zur Ebene, dahin, wo der Main in den Rhein fließt. Bei der Mündung liegt Mainz. Das stellte dem Heiligen Römischen Reich die Erzkanzler. Und das flache Land zwischen Mainz und Worms, das ganze Ufer war bedeckt von den Zeltlagern der Kaiserwahlen. Jedes Jahr geschah etwas Neues in diesem Land und jedes Jahr dasselbe: daß die Äpfel reiften und der Wein bei einer sanften vernebelten Sonne und den Mühen und Sorgen der Menschen. Denn den Wein brauchten alle für alles, die Bischöfe und Grundbesitzer, um ihren Kaiser zu wählen, die Mönche und Ritter, um ihre Orden zu gründen, die Kreuzfahrer, um Juden zu verbrennen, vierhundert auf einmal auf dem Platz in Mainz, der noch heute der Brand heißt, die geistlichen und weltlichen Kurfürsten, als das Heilige Reich zerfallen war, aber die Feste der Großen lustig wie nie wurden, die Jakobiner, um die Freiheitsbäume zu umtanzen.

Zwanzig Jahre später stand auf der Mainzer Schiffsbrücke ein alter Soldat Posten. Wie sie an ihm vorüberzogen, die Letzten der Großen Armee, zerlumpt und düster, da fiel es ihm ein, wie er hier Posten gestanden hatte, als sie eingezogen waren mit den Trikoloren und mit den Menschenrechten, und er weinte laut auf. Auch dieser Posten wurde zurückgezogen. Es wurde stiller, selbst hierzuland. Auch hierher kamen die Jahre 33 und 48, dünn und bitter, zwei Fäden geronnenes Blut. Dann kam wieder ein Reich, das man heute das Zweite nennt. Bismarck ließ seine inneren Grenzpfähle ziehen, nicht um das Land herum, sondern quer durch, daß die Preußen ein Stück ins Schlepptau bekamen. Denn die Bewohner waren zwar nicht gerade rebellisch, sie waren nur allzu gleichgültig wie Leute, die allerhand erlebt haben und noch erleben werden.

War es wirklich die Schlacht von Verdun, die die Schulbuben hörten, wenn sie sich hinter Zahlbach auf die Erde legten, oder nur das fortwährende Zittern der Erde unter den Eisenbahnzügen und Märschen der Armeen? Manche von diesen Buben standen später vor den Gerichten. Manche, weil sie sich mit den Soldaten der Okkupationsarmee verbrüdert, manche, weil sie ihnen unter die Schienen Lunten gelegt hatten. Auf dem Gerichtsgebäude wehten die Fahnen der Interalliierten Kommission.

Daß man die Fahnen eingeholt hat und gegen die schwarzrotgoldene vertauscht, die das Reich damals noch hatte, das ist noch längst keine zehn Jahre her. Selbst die Kinder haben sich neulich daran erinnert, als das hundertvierundvierzigste Infanterie-Regiment zum erstenmal wieder mit klingendem Spiel über die Brücke zog. War das abends ein Feuerwerk! Ernst konnte es hier oben sehen. Brennende, johlende Stadt hinter dem Fluß! Tausende Hakenkreuzelchen, die sich im Wasser kringelten! Wie die Flämmchen darüberhexten! Als der Strom morgens hinter der Eisenbahnbrücke die Stadt zurückließ, war sein stilles bläuliches Grau doch unvermischt. Wie viele Feldzeichen hat er schon durchgespült, wie viele Fahnen. Ernst pfeift seinem Hündchen, das ihm das Halstuch zwischen den Zähnen bringt. Jetzt sind wir hier, was jetzt geschieht, geschieht uns.

 

Der amerikanische Journalist John Stuart in einem Interview mit Anna Seghers anläßlich der Erstveröffentlichung des Romans in englischer Sprache in den USA (1942):
Ich erzählte Anna Seghers, "daß keines der antifaschistischen Bücher, die ich gelesen hatte, mich derart tief bewegt hatte wie THE SEVENTH CROSS. Georg Heisler, der als einziger von sieben Flüchtlingen den Kreuzen im Konzentrationslager zu entkommen vermochte, war für mich so etwas wie eine Figur von heroischen Dimensionen. (...) Als er schließlich die Grenze überquerte, war das ein Triumph des Untergrunds über die prahlerische Allmacht des Hakenkreuzes, der Triumph einer Handvoll mutiger Leute, die die Sehnsucht nach Freiheit zusammengebracht hatte. So wie ich es verstehe, ist Anna Seghers Reaktion auf meine Emotionen gegenüber Heisler der Schlüssel für ihre Einschätzung von allen antifaschistischen Kämpfern in THE SEVENTH CROSS:'Heisler, wie ich ihn sehe', sagte sie, 'wie ich ihn zu entwerfen versucht habe, war ein durchschnittlicher Mensch. Das gleiche gilt für Wallau - obwohl Wallau wohl ein wenig reifer und erfahrener im Kampf gegen den Feind war. Beide Männer stehen für die Hunderte, die dasselbe durchgemacht haben. Ich kann durchaus verstehen, daß Amerikaner sich vorstellen, diese Männer besäßen außergewöhnliche Willenskraft. Doch sie haben keine Erfahrung mit direkter Verfolgung durch die Nazis. Meine Figuren, Männer wie Frauen, kommen aus einem bestimmten Milieu. Und sollte das, was mit Deutschland geschehen ist, je auch in Amerika passieren, dann würde man rasch beobachten, wie Tausende und Abertausende eine Stärke und Ausdauer finden würden, die sie nie in sich vermutet hätten. Heislers und Wallaus gibt es überall.' Ich denke, daß sich in solchen Worten der unnachgiebige Glaube der Künstlerin an die gewöhnlichen Menschen in dieser Welt bestätigte."
(New Masses, 16. 2. 1943, übersetzt von Alexander Stephan)

 

Der mexikanische Schriftsteller José Mancisidor zur spanischsprachigen Ausgabe in Mexiko 1943:
"Das siebte Kreuz" ist ohne Zweifel eines der großen Dokumente, das bestehen bleiben wird als ein Zeichen unserer Zeit, deren sich die Menschheit von morgen beschämt und aufgewühlt erinnern wird. (Demokratische Post, Mexiko, 15. 10. 1943)

 

Aus Carl Zuckmayers Hommage an Anna Seghers und ihre Vaterstadt Mainz (1973):
Es ist das einzige epische Werk der gesamten deutschen Exilliteratur, in dem nicht nur mit gerechtem Zorn Partei genommen wird, sondern - aus der Ferne - ein menschlich glaubhaftes Bild des verfinsterten Deutschland gelungen ist. Es ist nicht sine ira et studio geschrieben, ja es stürmt in heißer Empörung gegen die Makel der Zeit an und erhebt sich dennoch zur Zeitlosigkeit. Da lebt unsere alte Stadt, die Gassen, der Dom von Mainz, schon im Sog der Verhängnisse, doch unvergänglich durch das Wort. Da entschleiert sich die Rheinebene, das wellige Land zwischen Worms und Mainz, zu einer geschichtsträchtigen Landschaft von europäischer Weltsicht. Da tönt, im nächtlichen Gespräch der Frauen, mitten aus Dumpfheit und Gleichgültigkeit, die ahnende Angst an und das hilflose Erbarmen. Da steht der Schäfer am Taunushang, wie von Dürer gezeichnet. 

 

Leni und Marianne - Auszug aus der Erzählung "Der Ausflug der toten Mädchen" (1946)
Leni und Marianne gingen eingehängt auf die Rheinstraße. Marianne hatte noch immer eine rote Nelke zwischen den Zähnen. Sie hatte die gleiche Nelke in das Band von Lenis Mozartzopf gesteckt. Ich sehe Marianne immer weiter mit ihrer roten Nelke zwischen den Zähnen, auch wie sie den Nachbarinnen der Leni bösartige Antworten gibt, auch wie sie mit halbverkohltem Körper, in rauchenden Kleiderfetzen in der Asche des Elternhauses liegt. Denn die Feuerwehr kam zu spät, um Marianne zu retten, als das Feuer des Bombardements von den unmittelbar getroffenen Häusern auf die Rheinstraße übergriff, wo sie gerade bei ihren Eltern zu Gast war. Sie hatte keinen leichteren Tod als die von ihr verleugnete Leni, die von Hunger und Krankheiten im Konzentrationslager abstarb. Doch durch die Verleugnung überlebte das Kind Lenis das Bombardement. Denn es wurde von der Gestapo in ein abgelegenes Nazierziehungsheim gebracht.

 

Die "Märchenerzählerin": Anfang der Erzählung "Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok" (1938/1975)
Der Räuber Gruschek, der mit seiner Bande im Bormoschtal überwintert hatte, stößt auf die Spur des jungen Räubers Woynok, der immer allein raubte. Gruscheks Leute waren den Winter über nie müde geworden, von Woynok zu erzählen, den noch keiner von ihnen je selbst gesehen hatte. Gruschek ging einen halben Tag lang der Spur nach, bis er Woynok erblickte, am zweitobersten der Prutkafälle, in der Sonne auf einem Stein. Woynok griff nach seiner Flinte; dann erkannte er Gruschek an allen Zeichen, an denen ein Räuber den anderen erkennt. Er kletterte von seinem Stein herunter und begrüßte Gruschek als den Älteren. Sie setzten sich auf die Erde, Gesicht gegen Gesicht, und verzehrten zusammen ihr Brot. Gruschek betrachtete Woynok gründlich. Woynok sah noch viel jünger aus, als man ihm berichtet hatte; seine Augen waren so klar, als hätte niemals der Schaum eines einzigen unerfüllt gebliebenen Wunsches ihre bläuliche Durchsichtigkeit getrübt. Gruschek konnte in diesen Augen nichts anderes finden als sein eigenes haariges altes Gesicht und was ihm über die Schultern sah an Berggipfeln und Wolken. Gruschek sagte: "Ich habe vierzig Räuber. Das ist gerade die rechte Zahl. Warum raubst du immer allein?" Woynok erwiderte: Ich will immer allein rauben. Einmal in Doboroth hab ich mit einem entlaufenen Soldaten gemeinsame Sache gemacht. Dieser Soldat hatte ein Mädchen. Erst lief es mir nach; dann verriet es den einen von uns an den anderen und uns beide an einen dritten. Damals hat es mich etwas gekostet, lebend davonzukommen. Nein, ich will auch kein Mädchen mehr. Ich will immer allein rauben."

 

Sigrid Bock

Anna Seghers - Wer war das eigentlich?

Anna Seghers, geboren in Mainz am Beginn unseres Jahrhunderts, gehört heute, an seinem Ende, weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen und Erzählern.

In Deutschland jedoch zu den umstrittensten. Ihre ersten Arbeiten, 1928 mit dem Kleist-Preis gewürdigt, verbrannten 1933 in den Flammen der Bücherberge vor deutschen Universitäten. Die Autorin floh vor den Nationalsozialisten ins Exil, konnte erst 1947 aus dem fernen Mexiko heimkehren. Wieder in Berlin, wollte sie teilhaben an den Veränderungen, die sie - nach den Erfahrungen des Krieges - für Deutschland erwartete. Und mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, so hoffte die bereits Neunundvierzigjährige, werde sie endlich eine Heimat finden, wo im Prozeß antifaschistischer Umgestaltung auch ihre eigene Sehnsucht nach einem gerechten und friedlichen Leben sich erfüllen könne, wo Leser ihre literarischen Arbeiten brauchten und förderten. Mit dem Untergang dieser DDR jedoch - sieben Jahre nach dem Tod der Autorin - gerieten Name und Werk abermals in Verruf.

1933 hatte Anna Seghers erst am Anfang ihrer literarischen Bemühungen gestanden. In den vierzehn Jahren der Verbannung schrieb sie zahlreiche Erzählungen und Romane. Vor allem Romane. Sechs umfangreiche Arbeiten wurden widrigsten Lebensbedingungen abgetrotzt - Jahren der Flucht, des Kampfes, auch der Mutlosigkeit. Sie wurden aber möglich durch solidarische Hilfe in fremden Ländern. In Paris, Marseille, Mexiko erzählte Anna Seghers zumeist von deutschen Menschen, deutschen Schicksalen. Sie erzählte so, daß die Lebenserfahrungen dieses Jahrhunderts zweier Weltkriege und tiefschürfender Umbrüche in der Literatur aufbewahrt sind für jetzt und immer.

Denn das sollte das Besondere ihrer Kunst werden: Schreibend begleitet die Autorin ihr Jahrhundert, erzählt sie vom eben erlebten Geschehen, sucht sie sich selbst und ihren Lesern zu erklären, wie es zu Faschismus und nochmaligem Weltkrieg kommen konnte. Sie fragt nach den Menschen, die in die widersprüchlichen Entwicklungen hineingezogen wurden: Wie reagierten sie, was unternahmen sie? Wo lagen die Ursachen ihres Verhaltens? Gab es eine Perspektive für sie? Ein erster Höhepunkt solch analytischen Erzählens, das mit dem Eindringen ins Innerste einzelner Menschenschicksale zugleich gesellschaftliche Zustände erhellt, war der Roman "Das siebte Kreuz" (1942). Zur Brücke zwischen Exil und Heimkehr wurde ein weiteres Werk: "Die Toten bleiben jung" (1949) - heute fast vergessen, werden spätere Generationen in ihm einen Gipfel deutscher Literaturentwicklung erkennen. Wie Tolstois "Krieg und Frieden" ragt es hervor. Ein Zeitalter wird besichtigt. Bilanz gezogen aus deutscher Geschichte von Kriegskatastrophe zu Kriegskatastrophe, von 1918 bis 1945. Wie ein Resumé der in den vorangegangenen Werken zusammengetragenen Erfahrungen liest sich dieser Roman.    Festgehalten wird das Leiden an Deutschland. Der Faschismus, sein Streben nach unumschränkter Macht, ist zerstörerisch. Er vernichtet Menschenglück, Menschenleben, Völker. Von jedem einzelnen jedoch hängt es ab, ob er mitschuldig wird an dem, was da geschieht. Oder ob er sich entgegenstemmt. Seine Entscheidung bestimmt, ob da noch Hoffnung ist für dieses Deutschland, für dieses "verlorene Volk", den "verlorenen Sohn". Anna Seghers erinnert die erlebten Vorgänge, verfolgt sie von Anfang bis Ende, versucht, Geschichte überschauend, zu begreifen, was geschah - und den Lesern Hoffnung zu geben. Erzählen als Abschluß des Geschehens. "Denn abgeschlossen ist, was erzählt wird", heißt es in "Transit" (1944).

 

Etwas Neues konnte, sollte endlich beginnen.
Diese literarische Konfession wurde auch nach der Heimkehr zur Grundlage ihrer Arbeit. Die Rückfahrt in ein Land, das andere Länder verwüstet hatte und nun selbst in Schutt und Asche lag, sollte ein Aufbruch werden zu einem neuen Ziel. Die Autorin kam ohne lllusionen zurück: "Die Länder und Völker sind heute von Hitlers Schuld zum Ersticken voll. Die Sühne ist noch dunkel. Wie die deutsche Jugend zum Bewußtsein von Schuld und Sühne gebracht wird, das ist vielleicht die schwierigste Frage unserer Generation", schrieb sie 1944. Sie wollte diesen Klärungsprozeß unterstützen, aus Schutt und Asche sollte ein Deutschland ohne Krieg und Völkerhaß hervorgehen. Die Erzählungen und Romane, die sie jetzt schreiben wollte, endlich in Übereinstimmung mit einer neuen Zeit, sollten ihre Lebensarbeit zu einem Gesamtwerk abrunden - hoffte die Autorin im Jahr ihrer Heimkehr. Die Tragik nicht ahnend, der sie ausgesetzt sein würde.

Die Aufkündigung der Antihitlerkoalition, die Deutschland in den Strudel der weltweiten Auseinandersetzungen riß und in zwei Teile spaltete, griff tief auch in ihr Leben und Schaffen ein. Obwohl sie bis zu ihrem Tod (1983) die meisten der Erzählungen, Novellen und Essays des Gesamtwerkes, auch zwei weitere Romane schreiben konnte, verzichtete Anna Seghers bald darauf, unmittelbares Gegenwartsgeschehen darzustellen, gar erzählend "abzuschließen".

Den Bruch markiert die wahrscheinlich 1957 begonnene, aber nicht fertiggestellte Novelle "Der gerechte Richter". Das Fragment - besser: eine Fassung davon - wurde erst 1990 aus dem Nachlaß publiziert. Diesem Text ist abzulesen, welche Problematik das Leben der Anna Seghers erschütterte, auch wenn sie öffentlich nicht darüber sprach. Mit ihrer Novelle sucht sie Gründe zu finden, warum in der Zeit härtester Systemkonfrontation der Sozialismus-Versuch auf deutschem Boden sich von innen her zu zersetzen begann. Der "gerechte Richter", der Sozialismus und Humanität als Synonyme begreift, will seine humanistische Grundhaltung in die eben gegründete DDR einbringen, weil, wie er sagt, Gerechtigkeit erst "das Leben zum Menschenleben" macht. Und er scheitert - wie auch Anna Seghers mit ihrer Arbeit an dieser Novelle. Die Gründe, warum ein jahrhundertealter Menschheitstraum sich nicht verwirklichen lieg, vermochte sie nicht zu erkennen.

 

Wohl beendete sie zwei Jahre darauf ihren seit langem begonnenen Roman "Die Entscheidung" (1959) und dann auch die Fortsetzung "Das Vertrauen" (1968). Aber eine so zugespitzte Problematik wie im genannten Novellen-Fragment wurde nicht wieder aufgegriffen. Beide Bücher blieben zudem die einzigen Romane des Spätwerkes.

Von nun an schaute die Erzählerin in ihren Arbeiten zurück - zurück auf Weltkrieg und antifaschistischen Widerstand. So bewahrte sie das Vermächtnis ihres "gerechten Richters", den Sinn des geleisteten Kampfes. Einen Sinn, der für sie nicht in politischen Parolen bestand, sondern in der Verteidigung des einfachen alltäglichen Lebens, einer Welt, in der ohne Bedrohung und Angst eben das möglich ist: ein freundlicher Blick, eine helfende Hand, ein Lächeln. Arbeit. Liebe. Die Erzählung "Wiederbegegnung" (1977) ist vom Leser noch zu entdecken.

Zugleich wandte sich Anna Seghers Stoffen internationaler Geschichte zu. Sie erinnerte, mehr denn je, die Französische Revolution, ließ die Zeit des Kolumbus aufscheinen, richtete den Blick gar noch weiter zurück. Der Atem der Geschichte durchwehte von Anfang an ihr Erzählen. Welthaltigkeit war in der kleinsten Handlung zu spüren gewesen. Einzelne Sagen und Legenden hatten schon im Exil erkennen lassen, daß der Mensch von weither kommt. Mit der Arbeit an historischen Stoffen - Sagen, Legenden, Märchen ebenso umfassend wie Realgeschichtliches - fand sie einen Weg, ihre Krise produktiv zu machen. Ihr Œvre rundete sich tatsächlich - aber anders als erwartet.

In vielen ihrer Bücher thematisiert Anna Seghers die Niederlagen historischer Umbruchsversuche. "Der Aufstand der Fischer von St. Barbara" (1928) ist schon verloren, als das Erzählen beginnt. Die ungarische Räterevolution ist schon auf der ersten Seite des Romans "Die Gefährten" (1932) niedergeschlagen. Das Licht der Französischen Revolution leuchtet erst über dem Galgen, an dem der Sklave Sasportas aufgehängt wird (1961 ) -  doch es leuchtet, läßt erkennen: Veränderungen brauchen ihre Zeit. Nicht von heute auf morgen setzen sie sich durch. "Die Heimkehr des verlorenen Volkes" - so nennt Anna Seghers 1965 die Schlußerzählung ihres Bandes "Die Kraft der Schwachen", konzipiert schon zur Zeit der Arbeit am "Gerechten Richter" -  zieht sich durch die Jahrhunderte. Viele Tote säumen den Weg. Abgründe tun sich auf. Neue Irrfahrten stehen bevor. Aber irgendwann und irgendwo findet sich immer wieder ein Mensch, er von vorn beginnt. Wer die Bücher von Anna Seghers liest, kann lernen, das zu begreifen.

Vielleicht ist das ein Grund, warum ihr Werk in einer welterschütternden Krisensituation wie heute so heftig umstritten ist. Warum gerade ihre beiden "DDR-Romane" - "Die Entscheidung" und "Das Vertrauen" - zurückgewiesen werden. Aber bleiben sie - trotz vieler Mängel - nicht dennoch ein einmaliges Ereignis in der Geschichte der deutschen Literatur? Zwingen sie nicht den Leser zum Nachdenken darüber, daß der Aufbruch zu sozialistischen Anfängen in einem Teil Deutschlands nicht der Willkür einiger weniger entsprang? Liest man zudem beide Romane im Zusammenhang mit dem Buch "Die Toten bleiben jung" von 1949, in dem man einigen Figuren, die später wiederum agieren, bereits begegnet, so wird deutlich: Was in der DDR geschah, ist eingebettet in deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, eingebettet in Menschheitsgeschichte. Es wird so, nur so, der Kritik ausgesetzt, ohne damit die historisch gewachsene Sehnsucht nach einer gerechten Welt preiszugeben. In ganz Deutschland. Entscheidungen und Vertrauen sind noch immer vonnöten. Die Toten müssen jung, müssen unvergessen bleiben.