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Räumlichkeit und Kreativität

Raum ist Lebensraum, Grundlage jeden Daseins sowohl für den einzelnen als auch für eine Gemeinschaft oder Gesellschaft. Diese Beziehung zwischen Mensch und Raum wurde zunächst als eine reale gedacht, bis sie seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts als symbolische konzipiert wurde. Aus den real spaces der Geografen wurden in der Raumsoziologie mental maps, kognitive Landkarten, Psychomilieus oder symbolischen Umwelten. Die Möglichkeiten der Technologie, große Distanzen zu überbrücken oder sich in virtuellen Räumen einzufinden haben dazu geführt, dass von Enträumlichung oder gar vom Verschwinden des Raumes gesprochen wurde, bis Raum in jüngster Zeit in Theorie und vor allem in der Praxis als Wirklichkeits- oder Selbsterfahrung wiederentdeckt wird. Um diese Vielfalt und die Vielschichtigkeit von Raumwirkungen und Raumerfahrungen des postmodernen Städters sowie sein gestalterisches Einwirken auf das in bestimmten Raumsegmenten Vorhandene beleuchten zu können, braucht es Konzepte, die die physische, semiotische und symbolische Dimension des Raums gleicherweise berücksichtigen.

Seit Henri Lefèbvre wird Raum als Produkt gesellschaftlicher Prozesse gedacht. Lefèbvre unterschied dabei jedoch in La production de l’espace (1974) zwischen l’espace perçu, dem wahrgenommenen, erlebten Raum, l’espace conçu, Raum des Wissens, der Zeichen und Codes und dem espace vécu, dem Raum der Bilder und Symbole bzw. des symbolischen Handelns. Aus ihrem dialektischen Zusammenspiel konkretisieren sich gesellschaftliche Machtverhältnisse einerseits, andererseits kann auch auf dieselben reagiert werden. Mit dieser, die Behältermetapher des Raumes ablösenden, mehrdimensionalen und dynamischen Konzeptualisierung lenkte bereits Lefèbvre die Aufmerksamkeit auf Akteure, durch die Raum hervorgebracht bzw. kreativ verändert wird. Die ontologisch argumentierenden Ansätze der neuen Raumtheorienbauen zum einem auf Lefèbvres Überlegungen auf. Zum anderen ersetzen sie, sich auf Heideggers Gedanken des ‚Räumens‘ stützend, den Begriff des Raums durch den der ‚Räumlichkeit‘ (Werlen 2003: 1-11). Räumlichkeit geht – Heidegger zufolge –aus einem Hantieren und Gebrauchen hervor: „Im Räumen spricht und verbirgt sich ein Geschehen.“ (Heidegger 1969: 9). Das dort Vorfindliche wird als ‚Zur Hand Seiendes‘ für bestimmte Aktivitäten oder eine bestimmte ‚Einrichtung‘ genutzt. Es prägt die daraus entstehende Räumlichkeit als ein vom Subjekt gestaltetes Umfeld und als einen sich von anderen Räumlichkeiten unterscheidenden Ort, der dem ihn bewohnenden Individuum Heimat bietet (cf. ebd.). Raum muss daher als ein Medium verstanden werden, „über das eine Beziehung zwischen sozial-kulturellen und physisch-materiellen Gegebenheiten hergestellt wird“, und er beruht auf der „Erfahrung der eigenen Körperlichkeit, ihrem Verhältnis zu den übrigen ausgedehnten Gegebenheiten und ihrer Bedeutung für die eigenen Handlungsmöglichkeiten bzw. -unmöglichkeiten“ (Werlen, 203: 7).

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen, die Raum nicht nur als einen imaginierten und symbolischen, sondern als einen zwar soziokulturell und durch Imaginationen geprägten, durch Praxis und Kreativität aber auch materiell veränderbare Räumlichkeit verstehen, lassen sich Zugriffe und Ansprüche auf vorhandene Räumlichkeiten, ihre Nutzungen und (Um)Gestaltungen neu perspektivieren. Das Konzept der ‚Räum­lichkeit‘ rückt dieselbe zunächst einmal als eine universal fundamentale Kategorie menschlichen Daseins und Handelns ins Blickfeld. Aber auch die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen oder des Kollektivs,  bzw. die jeweils dadurch eingeleiteten mehr oder weniger nachhaltigen Veränderungsprozesse (oder auch nur Bedürfnisse) werden sichtbar.

Dies wird in jüngster Zeit beispielsweise an der Beobachtung der sogenannten „Arts of urban exploration“ diskutiert. Damit bezeichnet David Pinder (2005) räumliche Praktiken, durch die Städte in einen Möglichkeitsraum verwandelt werden. Diese Möglichkeitsräume können spielerisch sinnfrei genutzt werden, wie beim Geocaching, oder sind als Reaktionen auf als negativ empfundene Aspekte städtischen Lebens zu betrachten. Beispielsweise können die sich im Anschluss an das in den 1970er Jahren entstandene Guerilla Gardening (Link) verbreitenden Formen des Urban Gardening als Pendant zu Lefèbvres Begriff der ‚Verstädterung‘ als eine Tendenz der ‚Entstädterung‘ betrachtet werden. Diese Idee wurde inzwischen auch von einzelnen Städten aufgegriffen, die ihren BürgerInnen bepflanzte Freiflächen als Kollektivbeete zur Selbstversorgung anbieten (essbare Städte). Bei diesen an sich bäuerlich-landwirtschaftlichen Praktiken geht es keineswegs um eine Mythisierung bäuerlichen Lebens, sondern um das Recht, an der Gestaltung des gemeinsamen Lebensraumes bzw. über die Produktion der eigenen Nahrungsmittel mitentscheiden zu können.

Street-Yogi Sirsasana IV, Josef Foos
Foto: http://www.street-yoga.de/galerie/bild-865.html
Street-Yogi Sirsasana IV, Josef Foos

Auch die unterschiedlichen Ausdrucksformen der Streetart, mit denen das mit leiblicher Welterfahrung verknüpfte Dasein oder Dagewesen-Sein des Subjekts bzw. seine Kritik an den gesellschafts- oder stadtpolitischen Verhältnissen inszeniert bzw. manifest werden, erscheinen in einem anderen Licht, wenn man die Materialität der Stadt als räumliche Artikulation sozio-kultureller Strukturen betrachtet. Auf diese Strukturen kann leiblich-körperlich und bild-symbolisch reagiert werden. Skateborder und Traceure (siehe Parkour) beispielweise benutzen das städtische Mobiliar keineswegs ihrer ursprünglichen Bestimmung entsprechend. Sitzbänke dienen ihnen nicht zum Ausruhen, sondern als Rampen oder überspringbare Hindernisse; sie sind Trainingsgeräte einer neuen Form leiblich-körperlicher Erfahrung– einer in diesem Falle eher sportlich-akrobatischen Fortbewegung in der Stadt. Ein anderes Beispiel der (Um)nutzung vorhandener Räumlichkeiten bieten die Kataphilen in Paris. Sie betrachten die Katakomben und das weitläufige Gangsystem im Untergrund der Stadt als eine ‚freie Zone‘, als Aufenthaltsort für Freizeitbeschäftigungen, Partiesund Filmvorführungen. Klebe-und Schablonenkünstler greifen hingegen in die materialisierte Symbolik des oberirdischen Stadtraumsein. Für sie sind Verkehrsschilder, Mauern und sonstige Flächen öffentliche und kostenfreie Galerien für ihre Sticker und Pochoirs. Die Wooligans oder Strickkünstler versehen Denkmäler, Hydranten oder das Innere von U- und Straßenbahnen mit Selbstgestricktem, um, wie sie selbst formulieren, dem öffentlichen Raum Wärme zu verleihen und den grauen Alltag bunter zu machen. Glück und Freude will auch Josef Foos den Passanten in Berlin mit seinen Street-Yogis bringen, kleinen Figuren aus Flaschenkorken, die er seit 2009 an Straßenschilden anbringt.

Street-Yogi Sirsasana IV, Josef Foos
Foto: http://www.street-yoga.de/galerie/bild-865.html
Street-Yogi Sirsasana IV, Josef Foos
Street-Art im italienischen Ponte a Poppi
Foto: http://urbanshit.de/?p=4385
Street-Art im italienischen Ponte a Poppi

Andere Freizeitkünstler manipulieren die Codes von Verkehrsschildern; im italienischen Ponte a Poppi wird die Semantik der Verkehrszeichen mit biblischer Symbolik kontaminiert.

Street-Art im italienischen Ponte a Poppi
Foto: http://urbanshit.de/?p=4385
Street-Art im italienischen Ponte a Poppi
Ampelmännchen von Roman Týc
Foto: http://www.radio.cz/de/rubrik/tagesecho/aktionskuenstler-muss-fuer-kreative-ampelmaennchen-ins-gefae
Ampelmännchen von Roman Týc

Und Roman Týc, der der tschechischen Aktions-Künstlergruppe „Ztohoven“ angehört, versah  die Fußgängerampeln Prags mit verschiedenen Variationen von weiblichen und männlichen Ampelmännchen: sie führen einen Hund an der Leine, gehen auf Krücken, wurden gekreuzigt oder erhängt.

Die Urban Hacker schließlich funktionieren Straßen, Plätze und Parkplatze vor Einkaufszentren zu spielerischen Orten um. Florian Rivière macht mit Hilfe von Einkaufswagen aus Litfaßsäulen Kinderkarussells, stattet Bushaltstellen mit Schaukeln aus oder gestaltet Parkflächen zu Spielfeldern um.

Diese wenigen Beispiele machen deutlich, was Räumlichkeit für Individuum und Gemeinschaft bedeuten kann: Neben der Erfüllung bestimmter Funktionen, bietet Räumlichkeit nicht nur Heimat, sondern ist Ort und Anlass für kreative Entfaltung. (Lebens)Raum zu schaffen, ihn für sich einzurichten und ihn den eigenen Bedürfnissen entsprechend zu nutzen und (um)zugestalten, zählt zu den anthropologischen Grundbedürfnissen, auch wenn es nicht um Urbaumachung und Bebauung geht.Immer aber wird das jeweils Zuhandene bearbeitet, verändert oder ergänzt.

Ampelmännchen von Roman Týc
Foto: http://www.radio.cz/de/rubrik/tagesecho/aktionskuenstler-muss-fuer-kreative-ampelmaennchen-ins-gefae
Ampelmännchen von Roman Týc

Quellen:

  • Dünne, Jörg (Hrsg): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissen­schaften  Frankfurt a. M.: Suhrkamp  2006
  • Döring, Jörg (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: transcript 2008.
  • Heidegger, Martin: Die Kunst und der Raum. St. Gallen: Erker-Verlag 1969
  • Lefèbvre, Henri:La production de l’espace. Paris 1974.
  • Pinder, David: Arts of urban exploration. Cultural geographies, No. 12 (2005), 383-411.
  • Werlen, Benno: „Kulturelle Räumlichkeit:  Bedingung, Element und Medium der Praxis.“ In: Ulrike Braunkämper / Brigitta Hauser-Schäublin:  Kulturelle Räume – räumliche Kultur. Zur Neubestimmung des Verhältnisses zweier fundamentaler Kategorien menschlicher Praxis. Münster-Hamburg-London: Litverlag 2003: 1-12.
Autorin Eva Kimminich
Zeitraum November 2013